Die Kino-Kritiker

«Der Nussknacker und die vier Reiche»: Ein Disney-Märchen, fast so wie früher

von

Der neuste Disney-Streich ist kein Fantasy-Bombast, sondern familienorientierter Märchenzauber – mit einem kleinen Twist.

Filmfacts: «Der Nussknacker und die vier Reiche»

  • Regie: Lasse Hallström und Joe Johnston
  • Produktion: Mark Gordon, Larry Franco
  • Drehbuch: Ashleigh Powell, Tom McCarthy
  • Story: Ashleigh Powell; frei nach "Nussknacker und Mausekönig" von E. T. A. Hoffmann und "Der Nussknacker" von Marius Petipa
  • Darsteller: Keira Knightley, Mackenzie Foy, Eugenio Derbez, Matthew Macfadyen, Richard E. Grant, Misty Copeland, Helen Mirren, Morgan Freeman
  • Musik: James Newton Howard
  • Kamera: Linus Sandgren
  • Schnitt: Stuart Levy
  • Laufzeit: 99 Minuten
  • FSK: ohne Altersbeschränkung
Es war einmal, vor gar nicht einmal so langer Zeit. Da agierte ein Filmstudio, welches als Walt Disney Pictures bekannt war. Dieses Studio war anders als die anderen Filmstudios. Es hielt sich weitestgehend aus dem Geschäft mit großen Realfilmproduktionen heraus und lockte die Menschen bevorzugt mit kleineren und mittelgroßen Filmen an, die oftmals auf die ganze Familie ausgerichtet waren. Nur manchmal produzierte es Filme, die zwar familientauglich sind, aber eher auf Jugendliche und Ältere abzielen. Und andere Male brachte Walt Disney Pictures Spielfilme raus, die sich zwar für die ganze Familie eignen, aber insbesondere Kinder und im Herzen junggebliebene Menschen ansprechen. So war der kostspieligste Realfilm von Walt Disney Pictures im Jahre 2002 die kindliche Weihnachtskomödie «[Santa Clause 2», mit einem für Disney-Verhältnisse schwindelerregenden Budget von 65 Millionen Dollar.

Dieses Walt Disney Pictures sollte in den folgenden Jahren langsam Platz machen für eine neue Disney-Realfilmsparte. Eine, deren Filme größer, schneller, höher, weiter sein sollten. Familientauglichkeit wurde neu definiert – auf eine "nerdige, geekige" Art. Und in Zeiten dieses epischen Disneys, in denen die bombastische Fantasykomödie «Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln» mit ihrem Budget von 170 Millionen Dollarn zu den kleineren Projekten gehört, kommt ein weihnachtlich angehauchtes Filmmärchen daher. Mit schlanken 99 Minuten Laufzeit. Und mit einem relativ überschaubaren Budget von 132,9 Millionen Dollar, das noch kleiner ausgefallen wäre, hätte man nicht über einen Monat an Nachdrehs vorgenommen, um den Film feinzuschleifen.

Dieses kurze, ohne Altersbeschränkung freigegebene Wintermärchen, greift weitaus weniger nach Jugendlichen und im Gemüt jugendlich gebliebene Filmfans als die neue Disney-Norm. Es ist für die Dauer mehrerer Akte so grazil-naiv, wie es Disneys Realfilmsparte schon lange nicht mehr war. Es greift nach der gemeinschaftlich ins Kino gehenden Familie, und es blickt auf eine Zukunft mit einem Kinderpublikum, das sich mit ihm am heimischen Bildschirm die Wartezeit auf die Bescherung versüßt. Es ist im Herzen und im Geiste ein Relikt aus einer anderen Disney-Ära – mit Anflügen des modernen Disney-Prunks, die im Marketing massiv überbetont werden. Und es ist ein Film, der den Schneid hat, mittendrin die Handlung anzuhalten – für ein kunstvoll-verspieltes Ballettstück. Und eben dieser Tänzer zwischen den Disney-Epochen ist, wer hätt's gedacht, «Der Nussknacker und die vier Reiche»

So groß und doch so klein


Es ist der erste Heiligabend, den die junge Clara (Mackenzie Foy) ohne ihre Mutter verbringt. Ihren Verlust verarbeiten Clara und der Rest der Familie sehr unterschiedlich. Während Clara ihr Bestes versucht, so weiterzumachen wie zuvor, ist ihr Vater noch immer in emotionaler Schockstarre. Als Claras Patenonkel, der wohlhabende und erfinderische Drosselmeyer (Morgan Freeman), sein großes, alljährliches Weihnachtsfest veranstaltet, kommt es daher zwischen Vater und Tochter zu einer Auseinandersetzung: Sie beide werfen ihrem Gegenüber vor, egoistisch zu sein. Auf diesen Vorwürfen bleiben sie zunächst sitzen, denn der kleine Familienzank wird von Drosselmeyers Geschenkezeremonie unterbrochen, die wie eh und je überaus aufwändig ist. Clara wird auf der Suche nach ihrem Geschenk in ihr bislang unbekannte Winkel des Drosselmeyer-Anwesens gelockt und letztlich in eine magische Welt geführt, in der ihre Mutter als Königin verehrt wurde.

In dieser Zauberwelt, in der ihr als Prinzessin die Thronfolge zusteht, herrscht derzeit Unruhe: Während das Land der Schneeflocken, das Blumenland und das Naschwerkland in Frieden leben, geht vom Land der Spielzeuge eine Bedrohung aus, weshalb sich die anderen Reiche von ihm abgekoppelt haben. Können Clara, die sie unterstützende Zuckerfee (Keira Knightley) und der treue Nussknacker Phillip (Jayden Fowora-Knight) den Untergang der friedvollen Reiche verhindern?

Was Schwarz auf Weiß womöglich nach dem nächsten Disney-Fantasy-Bombast klingt, zieht Newcomerin Ashleigh Powell in ihrem intensiv von Tom McCarthy («Good Night, and Good Luck») überarbeiteten Drehbuch wie eine winterliche Gute-Nacht-Geschichte auf. Die Erzählung bleibt stets nah an Protagonistin Clara, statt größere narrative Schlenker zu unternehmen und etwa die im Titel erwähnten vier Reiche in all ihrem Detail zu erforschen. «Der Nussknacker und die vier Reiche» hangelt sich durchweg daran entlang, wie die verdutzte Clara nach und nach die Situation begreift, in der sie sich befindet, und wie sie entschließt, in die verfahrene Lage der vier Reiche einzugreifen. Das ist fokussiert und geradlinig erzählt; es gibt praktisch keine Nebenstränge und das handlungsrelevante Figurenensemble ist denkbar überschaubar. Dadurch, dass obendrein auf langgezogene CG-Schlachten verzichtet wird, sondern die stilisierten, spielerisch choreografierten Scharmützel meist zügig vonstattengehen, wird der Eindruck eines "kleinen", märchenhaften Abenteuers doppelt unterstrichen.

Konsequenterweise verzichtet «Der Nussknacker und die vier Reiche» zudem auf den in der familienorientierten Fantasy zuletzt arg überreizten "Chosen-One"-Erzählkniff. Clara ist nicht die Auserwählte, die dazu bestimmt ist, die vier Reiche zu retten. Sie fühlt sich schlicht dazu verpflichtet, diesen Welten aus einer misslichen Lage zu helfen. Das grenzt die Geschichte etwa von Tim Burtons und Disneys krampfhaft auf Epik zurechtgebogenen «Alice im Wunderland»-Realfilm ab und schafft einen persönlicheren Grundkonflikt. Gleichwohl ist die oben getätigte Bezugnahme auf «Santa Clause 2» nicht beliebig gewählt: Denn genauso wie Disneys Weihnachtskomödie aus dem Jahr 2002 hat «Der Nussknacker und die vier Reiche» auf Handlungsebene ein unerwartetes politisches Element, das sich erst sukzessive enthüllt, und das vergnügt mit groben Pinselstrichen arbeitet. Das verleiht dieser Wintermär komödiantischen Schneid, ist in seiner süffisanten Direktheit jedoch auch ebenso verblüffend, wie es aus dem sonst so nostalgischen Film hervorragt.

Zuckerbäcker-Spielzeug-Weihnachten


Bildästhetisch ist die eingangs ungeplante, allen bisherigen Berichten zufolge jedoch sehr harmonische Kooperation zwischen Lasse Hallström («Madame Mallory und der Duft von Curry») und Joe Johnston («Rocketeer») quasi das stilistische Bindeglied zwischen alten Disney-Realfilmmärchen und modernen Disney-Fantasyepen. Hallström sowie Johnston setzen stärker auf Haptik als die digitalen Effektgewitter «Maleficent – Die dunkle Fee», «Die fantastische Welt von Oz» oder die beiden «Alice im Wunderland»-Filme, gleichzeitig nehmen sie computeranimierte Elemente stärker in den Fokus als Kenneth Branaghs gezielt altmodisch umgesetzter «Cinderella»-Realfilm.

Diese Gratwanderung gelingt zu weiten Strecken: Von wenigen kurzen Einstellungen ausgenommen, in denen einzelne Figuren halbseiden vor einen rein digitalen Hintergrund eingefügt werden, kaschiert «Der Nussknacker und die vier Reiche» mit seinem Zuckerbäcker- und Aufzieh-Spielzeug-Produktionsdesign die Übergänge zwischen bewusst cartoonesken Computertricks und gewollt altbackenen Kulissen. Im Zusammenspiel ergibt sich so eine kohärent ausgestaltete, fabelhafte Filmwelt, die fotorealistischen Bombast gegen eine gigantisch aufgeblasene Spielzeug-Fantasie eintauscht, die Kameramann Linus Sandgren («La La Land») in satten Farben festhält. Dieser gekünstelte Stil gewinnt aber dadurch an Plastizität, dass Sandgren auf Zelluloid dreht, statt die digital ergänzte Zauberwelt mit einer Digitalkamera festzuhalten.

Als fokussiert erzählte, filmische Gute-Nacht-Wintergeschichte hält sich «Der Nussknacker und die vier Reiche» nur selten länger an einzelnen Aspekten auf, sei es narrativ oder inszenatorisch. Besonderes visuelles Augenmerk legen die Regisseure allein auf das prunkvolle, ideenreich-überdrehte Kostümdesign, welches in einem ergänzenden sowie absoluten Gegensatz zu den zurückgenommenen Ballettszenen steht: Mit schlichten Mitteln, die noch mehr als Joe Wrights «Anna Karenina»-Adaption ihre Bühnenhaftigkeit zur Schau stellen, ist das zu Beginn des zweiten Akts aufgeführte Ballett nicht nur eine Verneigung vor einer der Inspirationen zum Film. Es ist darüber hinaus eine außergewöhnliche, distinguierte Art, Exposition zu vermitteln und ein im Big-Budget-Kino äußerst rarer Augenblick minimalistischen Filmzaubers. Da mag man es glatt bedauern, dass nicht noch mehr Kinominuten dem Ballett-im-Film gewidmet sind.

Wenigstens hallt es lange durch den Film. Denn nicht nur während des Balletts bedient sich «Der Nussknacker und die vier Reiche» auf musikalischer Ebene ausgiebig bei Tschaikovskys «Nussknacker»-Komposition. «Der Schatzplanet»-Komponist James Newton Howard adaptiert die Vorlage behutsam und verwebt sie elegant mit sanften, neuen Melodien.

Zuckerschock-Schauspiel, mal mit Freude, mal mit Zahnweh


Dem galanten, musikalischen roten Faden zum Trotz, der diese winterliche Märchenreise zusammenhält, ist «Der Nussknacker und die vier Reiche» selbst bei nur 99 Minuten Laufzeit etwas hölzern geraten. Das liegt vor allem am Duktus des Casts: Alle lassen sich schön säuberlich aussprechen, in Zwiegesprächen wird oftmals für einen Augenblick gewartet, ehe sich der nächste Part zu Wort meldet. Auch wenn «Der Nussknacker und die vier Reiche» in Fantasiewelten spielt, deren Künstlichkeit die Regisseure bewusst unterstreichen, sticht dieser zähe Sprachrhythmus irritierend hervor. Darüber hinaus üben sich sogleich mehrere Nebendarsteller in einem sehr exaltierten Overacting – womöglich, um mit Keira Knightley mitzuhalten. Die «Fluch der Karibik»-Mimin dreht als rosa Zuckerfee allerdings mehrere Pirouette zusätzlich kaut sich mit von Szene zu Szene zunehmenden Genuss durch ihre zuckrig-überspitzten Dialogzeilen – hier hat der schauspielerische Exzess Hand, Fuß und Feenflügel.

Mackenzie Foy unterdessen hält sich in ihrer Rolle (quasi als Korrektiv) arg zurück und legt Clara als neugierige Beobachterin an, die im Traum nicht daran denken würde, sich in den Vordergrund zu spielen. Jayden Fowora-Knight ist als Nussknacker Philip solide und Helen Mirren wird als ominöse Mutter Ingwer kaum gefordert, macht aber wenigstens einen interessierten Eindruck.

Fazit: Ein bisschen politisch, ein bisschen bombastisch, ein bisschen kunstvoll, ein bisschen albern und sehr märchenhaft-heimelig: «Der Nussknacker und die vier Reiche» ist ein etwas hölzern geratener Winterfilm mit schöner Musik und einer überdrehten Keira Knigthley.

«Der Nussknacker und die vier Reiche» ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen. In 3D sowie in 2D.

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