Filmfacts «Green Book»
- Regie: Peter Farrelly
- Produktion: Jim Burke, Brian Hayes Currie, Peter Farrelly, Nick Vallelonga, Charles B. Wessler
- Drehbuch: Nick Vallelonga, Brian Hayes Currie, Peter Farrelly
- Darsteller: Viggo Mortensen, Mahershala Ali, Linda Cardellini, Dimitar Marinov, Mike Hatton
- Musik: Kris Bowers
- Kamera: Sean Porter
- Schnitt: Patrick J. Don Vito
- Laufzeit: 130 Minuten
- FSK: ab 6 Jahren
Denn dieser Film über eine Vorurteile überwindende Freundschaft und den widerlich grassierenden Rassismus in den USA der frühen 1960er-Jahre ist ein gefällig-unterhaltsames Stück Gefühlskino, das (mutmaßlich) das Herz am rechten Fleck hat und dennoch in seiner Umsetzung allerhand ungeheuerlich falsch macht …
Auf Tournee in den Bundesstaaten, die dich nicht als Mensch erachten
Wir schreiben das Jahr 1962: Pianist Dr. Don Shirley (Mahershala Ali) wird in New York City verehrt, lebt sogar wortwörtlich über der legendären Carnegie Hall. Doch den Afro-Amerikaner führt es demnächst in den Süden der USA, wo es für Nicht-Weiße immens gefährlich ist und wo der Glaube, Weiße seien die alleinige Krönung der Schöpfung, weit verbreitet ist. Um auf seiner Tournee sicher von A nach B zu kommen, verlässt er sich nicht bloß auf den Reiseführer "Green Book", der genau aufführt, in welchen Etablissements Schwarze nichts zu befürchten haben, sondern will zudem einen Chauffeur haben, der austeilen kann, sollte es hart auf hart kommen.
Daher bietet er dem in gewissen New Yorker Kreisen bekannten Italo-Amerikaner Frank Anthony "Tony Lip" Vallelonga (Viggo Mortensen) die Stelle an. Der ist als draufgängerischer Türsteher berühmt und sucht aktuell einen Zwischenjob, da sich "sein" Club für mehrere Monate im Umbau befindet. Zunächst lehnt der einfach gestrickte Türsteher ab, da er einerseits Dr. Shirleys Lohnofferte für zu niedrig hält und weil er es zweitens als peinlich erachtet, einem Schwarzen zu dienen. Schlussendlich ringt er sich aber doch durch und nimmt den Job an – womit eine Reise beginnt, auf der Dr. Shirley lernt, zu sich zu stehen, und in deren Verlauf Tony seine Vorurteile aufgibt …
Ein Kontroverser Awards-Abräumer
Die Rezeption von «Green Book» ist von Kontroversen durchzogen: Während der Film seinen Siegeszug durch die Filmpreissaison genoss, wurde unter anderem ein alter Bericht ausgegraben, laut dem Peter Farrelly vor einigen Jahrzehnten noch die Angewohnheit pflegte, als "Streich" am Filmset sowie beim Casting anderen Menschen ungefragt seinen Penis zu zeigen. Darüber hinaus wurde ein Tweet wiederentdeckt, in dem Nick Vallelonga, einer der Produzenten und Drehbuchautoren des Films sowie Sohn der Hauptfigur Anthony Vallelonga, gegen Muslime hetzte. Fundstücke, die die Frage anheizten, ob man solche Leute mit Preisen würdigen sollte. Zudem wurde das Image des Films beschädigt, als ans Licht kam, dass die Filmverantwortlichen Mahershala Ali verheimlichten, dass der mittlerweile verstorbene Musiker Dr. Don Shirley Verwandtschaft hinterlassen hat. Die erachtet den Film, obwohl sie Alis Schauspiel lobt, als ein riesiges Lügengebilde, das Shirleys Beziehung zur afro-amerikanischen Subkultur und Bürgerrechtsbewgung, seiner Herkunft und seiner Familie falsch darstellt, was die Filmaussage verfälsche.
All diese Streitpunkte rund um «Green Book», seine Rezeption und seine Erfolgsgeschichte könnten eigene Artikel füllen – doch an dieser Stelle wollen wir aus Platzgründen schlicht darauf verweisen, dass es sie gibt. Immerhin erläutern sie ein Stück weit, weshalb ein so verflixt zugänglicher, leichtgängiger Film so umstritten ist. Aber selbst, wenn sich alle an diesem Film beteiligten Personen wie Englein verhalten hätten, würde «Green Book» noch immer genügend Zündstoff bieten, da Nick Vallelonga, sein Ko-Autor und Regisseur Farrelly sowie der ebenfalls für das Drehbuch verantwortliche Brian Hayes Currie («Two Tickets to Paradise») mit der Materie des Rassismus zuweilen arg naiv bis ungelenk oder gar ignorant umgehen.
Und: Nein, das grundlegende Problem ist nicht der Tonfall. Denn auch wenn Hollywood alles in allem mit seiner Menge an Feel-Good-Dramödien über Problemthemen wie Rasssismus übertreibt (respektive zu selten ernstere, profundere Filme über dieselben Sujets groß rausbringt), so ist die Grundidee eines massenpublikumstauglich verpackten Films über gesellschaftliche Brandherde begrüßenswert. Schließlich vermögen sie es, Menschen zu erreichen, die gegenüber direkteren Thematisierungen solcher Probleme die Augen verschließen – besser eine sanfte als gar keine Aufklärung. Jedoch muss auch eine "behutsame" Verarbeitung eines Themas ihm prinzipiell gerecht werden – und dahingehend enttäuscht «Green Book», sobald man sich nicht weiter von seinem glänzenden Lack ablenken lässt, und diesen Film stattdessen genauer inspiziert …
Unterhaltsam, aber haarsträubend argumentierend
An der Oberfläche, und es lässt sich Zuschauerinnen und Zuschauern schwer vorwerfen, wenn sie sich von ihr begeistern lassen, hat «Green Book» einige überzeugende Argumente zu bieten. Mahershala Ali gibt eine nuancierte, subtile und dennoch komplexe Darbietung als belesener, eleganter Künstler, der sich hinter Strenge versteckt, weil er unentwegt mit Verachtung und Vorurteilen konfrontiert wird und glaubt, so seine Würde zu bewahren. Die neckisch-freundschaftlichen Gespräche zwischen Shirley und Tony, die sich entfalten, sobald sich die beiden auf einer ähnlichen Wellenlänge begegnen, sind von Farrelly schmissig inszeniert und von Ali und Viggo Mortensen mit keckem Timing gespielt. Und Tonys schrittweises Überkommen seiner Vorurteile ist filmisch-plausibel skizziert.
Außerdem treffen einzelne der ernsteren Passagen dieser Dramödie den richtigen Ton. Am stärksten sticht eine Sequenz hervor, in der Tony und Dr. Shirley während einer Unwetternacht von der Polizei angehalten werden. Mit effizienter Inszenierung und punktgenauer erzählerischer Strukturierung der Szene führt «Green Book» in ihr vor, wie Machtstrukturen rassistisches Verhalten begünstigen können: Ein jüngerer Polizist verhält sich zunächst Shirley gegenüber zuvorkommend, doch kaum wird er von seinem Vorgesetzten kurz angeraunzt, spuckt der vermeintlich nette Cop rassistische Beleidigungen in die Richtung des Weltklassepianisten und packt ihn wuchtig sowie rau an.
Allerdings stellen solche Momente, die scharfe Beobachtungen über Rassismus auf dramödientaugliche Weise aufschlüsseln, in «Green Book» eine Ausnahme dar: Wiederholt offenbaren sich hinter den von Ali und Mortensen mit großem emotionalem Einsatz gespielten Szene, sei es aus Naivität, Nachlässigkeit oder womöglich doch aus fraglichen Gedankengängen, auf Skriptseite schädliche narrative und argumentative Mechanismen. So zeigt der Film mehrmals, wie Shirley zum Ziel aggressiver, hasserfüllter Menschen wird – und so, wie «Green Book» dies aufzerrt, spricht er ihm dafür eine Mitschuld aus.
Dies äußert sich zumeist subtil im Film, wird aber überdeutlich in einer Passage, in der Tony ihn blutend in einer Bar vorfindet und seine Angreifer verscheucht. Anschließend stammelt Shirley eine schwache Verteidigung dafür daher, dass er sich ohne seinen Leibwächter in das Nachtleben einer Südstaatenstadt begeben hat, während der sonst so schlichte Tony eine flammende Rede darüber hält, dass er nicht möchte, dass so etwas erneut vorkommt.
Was an der Oberfläche vielleicht wie eine Szene abspielt, in der der oft hochnäsige Dr. Shirley einsehen muss, dass er eben doch nicht alles kontrollieren muss, und der eingangs noch bigott gezeichnete Tony seine Empathie für seinen Arbeitgeber mit Inbrunst äußert, spielt unterschwellig einer ungeheuerlich schädlichen Argumentation in die Karten: Diese Filmpassage stellt Shirley als Schuldigen dar, der leichtfertigerweise ohne seinen Aufpasser unterwegs war und sich somit selber seinen Ärger eingebracht hat. Das erinnert frappierend an Sätze wie "Frauen sollten keine kurze Röcke tragen, wenn sie an Karneval nicht von besoffenen Idioten begrabscht werden wollen", also an abscheuliche argumentative Verdrehereien, die den Tätern eine (Teil-)Rechtfertigung für ihr Handeln zuschreiben. Und so etwas darf einfach nicht sein. Ein Film über Rasssismus sollte niemals auch nur so etwas andeuten wie: "Ja, so jemand wie Tony muss lernen, dass nicht alle Schwarzen dieselbe Musik mögen, aber wenn Don Shirley nicht nachts verprügelt werden will, sollte er auch nicht allein in eine Bar gehen. Wie doof kann man sein?"
Diese "Fehler auf beiden Seiten"-Schiene zieht sich durch «Green Book» und macht ihn zu einem erschreckend regressiven Genreexemplar. In diesem Film bekommt Shirley (entgegen der realen Begebenheiten) erst durch einen vorurteilsbelasteten Italo-Amerikaner beigebracht, sich in seiner Haut wohlzufühlen. Und dann kommen noch die verschobenen Prioritäten dieser Dramödie hinzu: Die komplexer angelegte Rolle Alis ist bloß eine Nebenfigur. Der Film interessiert sich wenig dafür, wie der seine Homosexualität verheimlichende Shirley durch ständiges Verstellen eine Form der Selbstverteidigung betreibt (die eher Selbstleugnung darstellt), während Tony dafür heroisiert wird, weil er seine beschränkte Weltsicht überkommt (und er muss nicht einmal Buße für früheres Fehlverhalten leisten). So tätschelt «Green Book» dem weißen Publikum auf die Schulter, statt es zum Handeln zu bewegen. Und selbst ein Feel-Good-Film sollte es besser wissen …
Fazit: «Green Book» ist eine kurzweilig gehaltene Dramödie mit einer starken Performance des Oscar-Gewinners Mahershala Ali, die jedoch ihr Rassismusthema so grob und naiv anpackt, dass sie argumentativ ins Regressive rutscht. Ein Ärgernis.
«Green Book» ist ab dem 31. Januar in den deutschen Kinos zu sehen.
Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
31.01.2019 16:39 Uhr 1
Um speziell auf die Bar-Sequenz einzugehen: Man muß natürlich die Umstände berücksichtigen und dann ist es doch klar: Wer im Jahr 1962 als Schwarzer (und auch noch angetrunken) nachts in einem Südstaaten-Kaff in eine Bar geht, der muß zumindest damit rechnen, damit keine Begeisterungsstürme bei den Einheimischen auszulösen. Das ist extrem bedauernswert, aber trotzdem historisch eindeutig. Und wenn man es trotzdem tut (und Don weiß ja ganz genau, daß es gefährlich ist), dann setzt man sich leichtsinnig einer Gefahr für Leib und Leben aus. Das bedeutet aber selbstverständlich noch lange nicht, daß man auch die Schuld trägt, wenn man dann tatsächlich attackiert wird. Leichtsinn ungleich Schuld! Die Schuld liegt allein bei den unprovozierten Angreifern und nichts anderes deutet "Green Book" IMO auch nur an.
Wenn ich mich in eine Trump-Wahlkampfveranstaltung in Texas stelle und laut schreie: "Trump ist ein hirnverbrannter Idiot und nicht halb so intelligent wie ein verbranntes Toastbrot", dann muß ich mich auch nicht wundern, wenn ich dafür verprügelt werde. Schuld haben trotzdem die Prügler (wobei die im Gegensatz zu den Barschlägern im Film sogar provoziert wurden), moralisch und rechtlich ...
31.01.2019 17:11 Uhr 2
Lustigerweise hat eine andere Rassismus-Dramödie eine ähnliche Szene, und nutzt sie in meinen Augen viel besser: In "Gegen jede Regel", der vom ersten gemischt-ethnischen High-School-Footballteam seines Bundesstaates handelt, wird gezeigt, wie Schwarze in eine für sie "ungeeignete Bar" (also eine Bar voller mieser Idioten) gehen und daraufhin beschimpft und verjagt werden. Während aber in "Green Book" die Szene mit Shirleys "Unvermögen" nachhallt, auf sich aufzupassen, geht in "Gegen jede Regel" die Szene mit der Wut auf die Rassisten zu Ende, zudem hallt nach, wie die weißen Freunde der Footballspieler einsehen müssen, dass sich wohl die gesellschaftlichen Probleme leider nicht lösen lassen, "nur" weil ein paar Teenager nun Freunde geworden sind. Anders gesagt: Beide Filme zeigen, wie Schwarze in eine Bar für Weiße gehen, nur ein Film unterstreicht mehrmals, dass das ja leichtsinnig war.
Und das ist mein Problem. Nicht dringend, WAS "Green Book" schildert, sondern WIE. Ich betone ja auch mehrmals in der Kritik, dass ich eher glaube, dass bei "Green Book" schlicht Naivität dran schuld ist und nicht böse Absicht.
Trotzdem finde ich, dass es auch einem insgesamt auf Wohlfühlstimmung bedachtem Film (also einem, der vom Überkommen von Rassismus erzählen will, statt vom Schaden, den er anrichtet) besser steht, wenn er sich mehr Mühe gibt, das gesellschaftliche Problem zu kritisieren, statt Zeit zu verschwenden, die Opfer in die Mitschuld zu ziehen. Denn, wie dein Trump-Vergleich sagt (oder wie man es noch simpler argumentieren könnte mit: Einbruch ist falsch, dennoch sollte ich besser meine Tür abschließen): Es erklärt sich von alleine, dass man sich nicht in Gefahr begeben "muss", egal wie falsch die liegen, die einen in Gefahr bringen.
Trotzdem ist es nicht nötig, mehrmals unterschwellig herum zu argumentieren, dass man als Rassismusopfer halt besser aufpassen könnte. Was gewinnt der Film dadurch schon?
Dem Film lasse ich ja an seiner Oberfläche dennoch die gute Absicht, den Entertainment-Faktor und Alis Spiel. Dennoch gibt es Filme, auch in der gleichen Tonalität, die das Problem besser, da weniger kurzsichtig argumentierend, anpacken.
02.02.2019 14:07 Uhr 3
Da finde ich es legitim, eine etwas oberflächlichere Herangehensweise zu wählen - zumal der relativ weltfremde und mit Sicherheit nicht in körperlichen Auseinandersetzungen geübte Don selbstredend eine ganz andere Art von Persönlichkeit ist als die Football-Spieler in "Gegen jede Regel", die sich notfalls auch selbst einigermaßen zu helfen wissen.
Ehrlich gesagt habe ich mich aber selbst während des Kinobesuchs zwischenzeitlich gefragt, ob man "Green Book" vielleicht sogar in die berühmt-berüchtigte "White Saviour"-Kategorie stecken kann/muß, da es auf den ersten Blick (wie eben besonders in der Barszene illustriert) schon so wirkt, als würde Don wesentlich mehr von Tony lernen als umgekehrt. Aber bei genauerem Nachdenken ist das meines Erachtens doch ziemlich ausgewogen gehalten, nur ist Tonys Lernprozeß etwas subtiler umgesetzt als Dons und wirkt deshalb "schwächer" - obwohl er es nicht ist.
Daß es bessere "Rassismus-Filme" (auch als Feelgood-Movies) gibt, daran dürfte wenig Zweifel bestehen. Trotzdem finde ich, daß "Green Book" das, was der Film sich vorgenommen hat, ziemlich überzeugend erreicht. Man kann sicher bedauern, daß er gar nicht mehr oder Anderes erreichen WOLLTE, aber letztlich bleibt das dann eine akademische Diskussion (was ja nicht schlimm ist).
In meiner Jahresbestenliste wird "Green Book" garantiert nicht ganz oben auftauchen (bestenfalls schafft er es knapp in die Top 10, aber das läßt sich Anfang Februar natürlich noch nicht absehen), doch bei den OSCARs wäre er für mich jedenfalls ein deutlich erträglicherer "Best Picture"-Gewinner als "Bohemian Rhapsody", "A Star Is Born" oder "Black Panther" ("The Favourite" und "Roma" habe ich noch nicht gesehen, "BlacKkKlansman" würde ich in etwa auf dem gleichen Niveau einstufen).