Filmfacts: «Border»
- Start: 11. April 2019
- Genre: Mystery/Drama
- Laufzeit: 110 Min.
- FSK: 16
- Kamera: Nadim Carlsen
- Musik: Christoffer Berg, Martin Dirkov
- Buch: Ali Abbasi, Isabella Eklöf, John Ajvide Lindqvist
- Regie: Ali Abbasi
- Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson, Ann Petrén, Sten Ljunggren, Kjell Wilhelmsen, Rakel Wärmländer
- OT: Gräns (SWE/DK 2018)
Aber hier zeigt sich, was Ali Abbasi für ein hervorragender Regisseur ist. Mit großer Fingerfertigkeit bringt er die Auswüchse der Geschichte hervorragend unter einen Hut, bis am Ende jedes Puzzlestück an seinem Platz ist. Und trotzdem bleibt ein außergewöhnliches Seherlebnis, das uns einige Bilder beschert, die man so in der Form zum einen noch nie gesehen hat und darüber hinaus auch nicht mehr so schnell vergisst.
Sie kann Gefühle riechen
Die Grenzbeamtin Tina ist eine bemerkenswerte Erscheinung. Ihr seltsam geschwollenes Gesicht, ihr bohrender Blick und ihre körperliche Kraft verleihen der jungen Frau etwas Animalisches. Tina hat zudem eine besondere Fähigkeit: Sie kann Angst, Scham und Wut anderer Menschen wittern. Ihr Talent macht sich der schwedische Grenzschutz erfolgreich zunutze, um Kriminelle aufzuspüren. Dennoch fühlt sich Tina seltsam fremd unter ihren Mitmenschen und lebt einsam und naturverbunden als Außenseiterin in den Wäldern. Doch dann begegnet sie Vore, der ihr aufgrund eines Chromosomenfehlers auffallend ähnlich sieht und bei dem ihre Begabung an ihre Grenzen stößt. Tina ahnt, dass Vore etwas zu verbergen hat. Und doch, unbefangen, wild und erstaunlich frei, wirkt Vore ungemein anziehend auf sie. Tina spürt bei ihm eine Vertrautheit, die ihr bisher fremd war. Als die beiden sich näherkommen, offenbart Vore ihre mystische Herkunft. Aber dieses Wissen bringt nicht nur neue Freiheiten, sondern auch unbequeme Herausforderungen mit sich, denen sich Tina stellen muss.
Auf das Wesentliche heruntergebrochen geht es in «Border» um Tina, die Hauptdarstellerin Eva Melander («Der Hypnotiseur») mit einem bemerkenswerten Mut zur Hässlichkeit verkörpert. Doch es ist nicht nur das in diesem Jahr für den Oscar nominierte Make-Up, das sowohl aus der hübschen Schwedin als auch aus ihrem Co-Star Eero Milonoff («Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki») zwei entstellte Kreaturen macht, das die beiden Figuren undefinierbar von der Realität entrückt. Vielmehr ist die irgendwo zwischen Mensch, Tier und Monster angesiedelte Attitüde der beiden Wesen, die einander beschnuppern wie Hunde, sich in der Öffentlichkeit halbwegs human zu geben versuchen und sich durch ihr widersprüchliches Verhalten zu keinem Zeitpunkt einschätzen lassen, die den Zuschauer lange Zeit im Dunkeln darüber halt, was ihm da eigentlich gerade präsentiert wird.
Mal wirkt «Border» wie die dramatische Zur-Schau-Stellung einer geschundenen Seele; Tina wirkt trotz ihrer besonderen Gabe, menschliche Gefühle riechen zu können, ständig abwesend. Scheint einsam, obwohl sie mit ihrem Partner zusammenwohnt. Und fühlt sich nur dann wirklich wohl, wenn sie hin und wieder in den Wald geht, um dort mit den Tieren zu kommunizieren. Ob der nicht minder hässliche Vore Freund oder Feind ist, bleibt lange offen. Auf irgendeiner Ebene scheint er aber mindestens so etwas wie ein Leidensgenosse zu sein. Von dieser Freundschaft geht definitiv eine außergewöhnliche Faszination aus.
Ein Balanceakt zwischen den Genres
Ali Abbasi betont in seiner Inszenierung zwar immer wieder auch bewusst die Körperlichkeit zwischen seinen beiden Hauptfiguren und präsentiert seinen Zuschauern im Verlauf der 110 Minuten eine Sexszene, die so intim, so direkt und ganz einfach anders ist, dass man sie so schnell nicht vergessen wird. Im Kern ist «Border» trotzdem vor allem eine subtile Auseinandersetzung mit Emotionen, deren hohe Diversität immer wieder auf jener Erzählebene zum Ausdruck kommt, in der Tina bei der Grenzkontrolle Menschen beschnüffelt. In einer Szene überführt sie sogar einen Mann, der Kinderpornografie über die Grenze zu bringen versucht. Was auf den ersten Blick nur wie die Veranschaulichung von Tinas Fähigkeiten wirkt, findet – wie alles andere auch – später seinen Platz in diesem augenscheinlichen erzählerischen Wirrwarr.
Das gilt auch für Tinas dysfunktionale Beziehung mit ihrem Freund und noch einige weitere Drehbuchausfransungen, an deren Schwere sich die Macher teilweise zu verheben scheinen, nur um all diese Vermutungen im letzten Drittel auszuheben, wenn Abbasi sämtliche Erzählstränge stimmig und nachvollziehbar zusammenführt.
Aufgrund der schieren Masse an Konfliktherden und dem souveränen Handling mit ebenjenen gewinnt «Border» trotz üppiger Laufzeit an treibender Dynamik. In jeder Szene scheint irgendwas für die Story Relevantes zu passieren, das Aufschluss über den weiteren Verlauf der Geschichte, noch mehr allerdings über die Figuren gibt, über die man zu Beginn des Films noch so gar nichts weiß. Es ist erstaunlich, wie wenig Informationen über den Status Quo der beiden Hauptcharaktere ausreichen, um trotzdem von Anfang an Faszination für sie zu schüren. Gleichzeitig regiert in «Border» ein derart melancholisch-pessimistischer Tonfall, dass dieser das Fortschreiten der Story fast im Alleingang ausbremst. Die Bilder von Kameramann Nadim Carlsen («Was werden die Leute sagen») weiden sich an den satten Farben der Natur; Carlsen arbeitet mit langen Kamerafahrten und langsamen -Schwenks, ganz so, als wolle er uns zu jedem Zeitpunkt auffordern, auch wirklich ganz genau hinzusehen.
Christoffer Berg («Rings») und Martin Dirkov («Holiday») sorgen für eine bedrohlich-wabernde Klangkulisse, die weit im Voraus ankündigt, was sich da an Dimensionen vor einem auftürmen werden, wenn man sich auf dieses ungewöhnliche Konstrukt aus Genres und Geschichten einlässt. Das wird nicht jedermanns Sache sein. Immer wieder spielt Ali Abbasi mit der Erwartungshaltung des Zuschauers oder reißt ihm in dessen Folge mit Schmackes den Boden unter den Füßen weg. Doch einen vergleichbaren Film wie «Border» wird man so erst einmal nicht finden. Das allein sollte den Gang ins Kino wert sein.
Fazit
Ali Abbasis «Border» ist ein wirrer Mix aus melancholischer Außenseiter- und Liebesgeschichte, Krimi und Mysterythriller, bei dem bis zum Schluss offen bleibt, wie all die verschiedenen Handlungsstränge eigentlich miteinander zusammenhängen. Mehr sollte man über den Film, der nicht umsonst für das „Beste Make-Up“ bei den diesjährigen Oscars nominiert war, nicht wissen.
«Border» ist ab dem 11. April in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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09.04.2019 11:44 Uhr 1