Zum Jahresende schreibt Julian Miller im ersten Teil von «J'accuse» über das Herunterkommen des deutschen Fernsehens.
“There has always been a conflict between art and commerce. But right now, art is getting its ass kicked.”
Aaron Sorkin, «Studio 60 on the Sunset Strip»
Der deutsche Fernsehfilm ist nicht erst seit kurzer Zeit zu einer erbärmlichen und traurigen Farce seines Mediums verkommen. Schon seit Ewigkeiten sieht man nahezu täglich die erschreckenden Resultate des weichspülenden Mismanagements und stolzen Dilettantismus einer Vielzahl selbsternannter deutscher “Kreativer”, die eine Kunstform auf widerlichste Weise pervertieren. Natürlich hat der Film eine andere Geschichte als etwa die Malerei oder die Literatur. Er entstand als eine technische Revolution, die um das Ende des neunzehnten Jahrhunderts primär als eine Attraktion auf Jahrmärkten neben Schießbuden eingesetzt wurde. Doch die Zeit, in der man sich an Bahnhofsszenen und Arbeitern, die die Lumière-Werke verlassen, ergötzte, war schon 1902 vorbei, als George Méliès, der erste Künstler seiner Domäne, der Welt mit «Le voyage dans la lune» vorführte, wozu das Medium im Stande war und ist.
Leider ist der künstlerische Anspruch des Films heute im Zuge der widerwärtigen Kommerzialisierung des Mediums zu einer Randerscheinung verkommen. Der deutsche Fernsehfilm ist ganz und gar auf ein erschreckend minderbemitteltes Publikum mit einem gestörten Verhältnis zur Realität und einem Hang zu einer perversen Sicht der Welt ausgerichtet. Seine Themen ranken sich um zwei Schwestern, die mit ihren Schwagern ins Bett gehen, um zurückgebliebene Kitschziegen, die von ihren sexuell abartigen Lebensgefährten sitzen gelassen werden, um irre Fleischereifachverkäuferinnen mittleren Alters, die mit dem Trinken anfangen, oder um abgehalfterte und erschreckend archaische Landwirte, die nun eine Patchwork-Familie gründen. Filme mit einem künstlerisch wertvollen, politisch oder philosophisch interessanten Inhalt sieht man entweder im Nachtprogramm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nach einer stundenlangen Bahnstreckenorgie, oder, wenn man etwas Glück hat, auch einmal bei Arte oder 3sat, den beiden Spartensendern, die in den letzten Jahren qualitativ gesehen spürbar abgebaut haben. Nicht zuletzt diese abstoßende Programmpolitik war es auch, die Elke Heidenreich ihre Sendung «Lesen!» gekostet hat. Nach der Kunst muss man lange suchen und der Schwachsinn läuft zur Prime-Time.
Die Frage, die sich dabei stellt, ist die, ob die konsequente Verblödung der Zuschauer durch Kitsch-Formate wie «Pfarrer Braun» und «In aller Freundschaft» oder Trash-TV, wie das vor Kurzem über den Äther gelaufene «Takeshi's Castle»-Remake «Wipeout – Heul nicht, lauf!», wirklich im Sinne der Programmgestalter sein kann. Dies hat nämlich schon dazu geführt, dass man Privatsendern anspruchsvolles Fernsehen gar nicht mehr zutraut. Als letzten Winter «Der Seewolf» auf ProSieben ausgestrahlt wurde, fielen die Einschaltquoten erbärmlich aus, obwohl es sich hier um eine herausragende Produktion handelte.
Auch sind viele Kritiker milder geworden, denn als vor ein paar Jahren «Die Prager Botschaft», ein vollständig minderwertiger Film, bei RTL über die Flimmerkiste rieselte, bezeichneten viele Medienbeobachter das ganze Unterfangen als gut gemacht oder gar innovativ, obwohl dem überhaupt nicht so war. Vielmehr war man in der Branche wohl davon überrascht, bei RTL einmal etwas Politisches zu sehen und gab dem Projekt so wohl einige Vorschusslorbeeren, die es vorn und hinten nicht verdiente. Quotenmeter.de war so ziemlich das einzige Medienmagazin, das damals «Die Prager Botschaft» als das bezeichnete, was es war, nämlich ein kitschiger Film mit schlechten schauspielerischen Leistungen. Lange hagelte es dabei Kritik von vielen Kollegen, bis die unterdurchschnittlichen Zuschauerzahlen über die Ticker liefen.
Eine künstlerische Vision ist dabei heute leider keine Voraussetzung mehr, um es in dieser desaströsen Fernsehwelt als Drehbuchautor zu etwas zu bringen; vielmehr ist sie ein hinderlicher Klotz am Bein. Und hat eine Produktionsfirma endlich einmal den Mut gefunden, ein innovatives Projekt eines Visionärs zu unterstützen, passiert es nicht selten, dass übereifrige Dramaturgen und panische Produzenten auf Biegen und Brechen versuchen, den Stoff dem Massengeschmack anzupassen und so jegliche Art von Neuartigkeiten im Keim zu ersticken. Dabei hat sich die abartige Auffassung durchgesetzt, dass Inhalte, die nicht jeder versteht, in einem Fernsehfilm nichts zu suchen haben. Ob das Endprodukt dann trivial und sinnfrei ist, ist egal. Hauptsache, auch der letzte Hauptschulabbrecher kommt noch mit. Oder es heißt gleich: “Innovation, nein danke. Wir machen lieber was mit zwei Schwestern, die mit ihren Schwagern ins Bett gehen.” Und dann wundern sich Intendanten, Geschäftsführer und Redakteure, warum das gesamte Feuilleton des Landes nahezu jedes Projekt in die Tonne tritt.
Die nächste Ausgabe von 360 Grad und somit der zweite Teil von «J'accuse» erscheint am 08.01.2010. Ich wünsche allen meinen Lesern frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Fernsehjahr.