Hingeschaut

«Lost»: Nuking the Machina Shark

von
Großes Tennis oder Rückschritte? Am Donnerstag tritt die Serie im frei empfangbaren Fernsehen für die letzte Runde in den Ring.

Jack Shephard:
Wohin gehen wir?

Benjamin Linus:


Du gehst nach Hause. Such dir einen Koffer. Wenn es irgendetwas in diesen Leben gibt, das du willst, pack' es in den Koffer. Denn du wirst niemals zurückkehren.


«Lost» ist nicht mehr das, was es einmal war. So begann die umfangreiche Kritik zum Auftakt der fünften Staffel. Und obgleich die sechste Ouvertüre diese Bekundung in gewisser Beziehung relativiert, so blieben die Autoren offensichtlich erneut in den zuvor geschaffenen Mustern haften. Diese Serie hat den Ausdruck “What the Fuck” geprägt wie es kein anderes Format tat. Bittere Ironie, dass dieser inzwischen in deutlich geringerem Maße verwendet wird, um die von Verwirrung begleitete Begeisterung, als die tatsächliche Entrüstung über die neueste Entwicklung auszudrücken. Während man bei obigem Zitat für gewöhnlich Bens Zeile ins Auge fasste, fragt man sich heute: Quo Vadis, «Lost»? Auf eine sehr spezielle, noch immer unterhaltsame Art und Weise haben Damon Lindelof und Carlton Cuse ihren Deus Ex Machina geschaffen, sind über den Hai gesprungen, haben ihren atomar gesprengten Kühlschrank eingesetzt.

'LA X' lautet der Titel der ersten Episode, die hierzulande in zwei Teile gespalten und schlicht 'Los Angeles' getauft wurde. Der Buchstabe X in Verbindung mit Städten, Ländern sowie Planeten dürfte den meisten Comic-Anhängern äußerst bekannt vorkommen. Er steht für eine alternative Zeitlinie, in deren Rahmen die dem Leser bekannten Figuren in einer differenzierten Form existieren. So entstand beispielsweise sowohl im Marvel-, als auch DC-Universum eine Erde X sowie zahllose andere durch Zeitsprünge verursachte Kosmen. Nach dem Finale der fünften Staffel war dem Publikum bewusst, dass es prinzipiell nur drei Wege der Auflösung gab: Entweder würde der Sprengkörper detonieren und die Bewohner der Insel in den Tod reißen, nicht detonieren oder zum Gamechanger mutieren und die Losties in einer mutmaßlichen Zeitschleife zurück zum Anfang katapultieren. So betrachtet, vermochte man es, den Zuschauer ein weiteres Mal zu überraschen. Die Insel-Zeitlinie bleibt bestehen, während sich Jack, Kate & Co. parallel im Jahre 2007 wiederfinden, auf dem Weg nach Kalifornen – Oceanic Airlines Flug 815 ist niemals abgestürzt.

Klingt grandios, scheitert rigoros. Da man weiterhin primär der Handlung auf der Insel folgt, wird zu keinem Augenblick deutlich, wohin der neu eingeschlagene Weg führen soll. Abgesehen von den interessanten Disparitäten, wie etwa der Tatsache, dass Shannon nicht von Boone gerettet werden wollte und so in Sydney blieb, oder die Gemütszustände von Jack und Rose vertauscht wurden, wirkt die gesamte Szenerie vollkommen antiseptisch und unerheblich. Glücklich stimmen dagegen die Gastauftritte von Dominic Monaghan und Ian Somerhalder. Nostalgische Gefühle bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche, als am Ende der Folge eine Montage der Flugzeugbesatzung erfolgt, wie es in der ersten Staffel der Fall war. Das Fehlen von den Figuren Michael, Walt, Ana Lucia, Mr. Eko, Libby, Nikki und Paolo trübt allerdings das Vergnügen. Stattdessen sitzt Desmond urplötzlich neben Jack. Gemeinsam rätseln sie, ob sie sich bereits in der Vergangenheit begegnet sind, bis der deplatzierte Besucher jäh wieder verschwunden ist. Einerseits eine vielversprechende Sequenz, ist Desmond doch das Ärmel-Ass der Autoren, da er zwischen den Dimensionen umherspringen kann, andererseits recht unglaubwürdig, immerhin hat Jack seinen “Bruder” zu Beginn der zweiten Staffel nach nur wenigen Sekunden wieder erkannt. Darüberhinaus bietet die alternative Linie in den einleitenden 40 Minuten wenig Aufregendes.

Während man in der zweiten Realität für wenige Sekunden Zeuge der neuen Umgebung der Insel wird (Es handelt sich hierbei um die Tiefen des Ozeans; eine relativ schlecht gelungene CGI-Animation, die kürzer gestaltet hätte werden sollen), bleibt sie in Version eins simultan bestehen. Im Vergleich zur Flugzeug-Handlung keimt hier teilweise richtige Spannung auf, die sich zudem im zweiten Part von 'Los Angeles' steigern wird. Nur leider konnte man den fantastischen, zutiefst traurigen Abschied von Juliet Burke nicht als solchen in die Historie eingehen lassen. Der erschütterte Sawyer lässt seiner Wut gegenüber Jack freien Lauf, bevor eine zitternde Stimme seine Aufmerksamkeit auf sich zieht: Juliet lebt. Anschließend wird wertvolle Zeit darin investiert, einen stets großartig geschriebenen und dargestellten Charakter zu einem kitschigen Lebewohl zu zwingen. Weitaus einnehmender ist die Zukunft von Locke alias Samuel, Ben und Jacob. Letzteren hat man sich vermutlich all die Jahre gänzlich anders vorgestellt - dennoch verkörpert Mark Pellegrino den Anführer der Anderen auf eine sehr bemerkenswerte Art und Weise, mit deren Hilfe er die Sympathie des Betrachters für sich gewinnt.

Seine vorangegangene Ermordung führt deshalb zu einem kalten Schauer und unheilvollen Erwartungen. Samuel, Jacobs Erzfeind hat John Lockes Körper übernommen, um seine Pläne zu verwirklichen. Terry O'Quinn beweißt wie so oft zuvor, nicht ohne Grund der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung zu sein. Seine Darstellung zweier vollends unterschiedlicher Menschen ist durchgehend beeindruckend und das Highlight der Episode. Gleichermaßen mutig ist die Pseudo-Aufklärung bezüglich Smokey: Samuel bzw. Locke ist das Rauchmonster. Zum einen eine außergewöhnliche Entwicklung, zum anderen ein Problem für die Vergangenheit, die mit dem Aschekreis, der Hütte im Wald und Jacobs Gefangenschaft nun etwas ins Wanken gerät. Noch ist das letzte Wort jedoch nicht gesprochen.

Obgleich nur wenige Wochen zwischen den Startschüssen liegen, gibt es an der deutschen Synchronisation kaum etwas auszusetzen. Lediglich Sawyers schmerzerfüllte Schreie wissen in der englischen Fassung mehr zu berühren. Demungeachtet bleibt die Frage, weshalb die Teilung der Episode im Bezahlfernsehen erfolgen muss. Nicht nur, dass dadurch ein kleiner Kontinuitätsfehler entsteht, es nimmt dem Drama die Luft. Zumindest darf man sich nun auf eine intensivere zweite Woche freuen. Mit Sicherheit: «Lost» ist nicht mehr das, was es einmal war. Viel hat man auf dem Weg zur Zielgeraden verloren, doch es bleibt nun mal «Lost». Abermals wurden die Spielregeln verändert und abermals wünscht man sich nichts sehnlicher als eindeutige Antworten. Diesmal handelt es sich allerdings nur noch um Monate bis man eben diese erhält. Das ist aber nur die eine Seite der Münze. Und nach sechs Jahren hat man fast Angst, zu werfen.

Dieser Artikel erschien erstmals zum Start beim Pay-TV-Sender FOX.

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