Der große Oscar-Favorit «The King's Speech» startet endlich in Deutschland. Hat das Drama wirklich mehr zu bieten, als einen stotternden Colin Firth?
Im vergangenen Oktober eröffnete der große Oscar-Favorit dieser Saison mit einem Jungspund, der seine Freundin in einem Redeschwall erdrückt. Daraufhin macht diese mit ihm Schluss. Er stürmt entrüstet in sein Studentenzimmer, wo er die Grundidee zu Facebook entwickelt.
«The Social Network» galt lange als der sichere Gewinner der anstehenden 83. Academy Awards. Jedoch haben damals sehr viele Filmexperten und Hobby-Hollywoodpropheten den Tag vor dem Abend gelobt. Die vergangenen Wochen kippte die Stimmung zu Gunsten von «The King's Speech». Das britische Geschichtsstück erhielt zahlreiche namhafte Preise, darunter die oberste Auszeichnung der US-Produzentengewerkschaft, welche als wichtiger Indikator für die Oscar-Verleihung gilt. Neben David Finchers «The Social Network» wirkt «The King's Speech» auf der oberflächlichen Ebene schnell altbacken. Es ist ein britisches Drama über eine während der 20er- und 30er-Jahre spielende Anekdote der britischen Adelsgeschichte. Thema, Musik, Inszenierungsstil, Aussage des Films, alles weckt ein Gefühl der wohlbekannten und sicheren Geborgenheit. Ja, selbst die Eröffnungssequenz positioniert sich als unbeabsichtigte Antithese zum Anfang von «The Social Network».
«The King's Speech» beginnt während der British Empire Exhibition 1925. Prinz Albert (Colin Firth), der Herzog von York, soll die Abschlussrede halten, doch seine Nervosität und sein heftiges Stottern machen ihm dies unmöglich. Daraufhin versucht er sich an mehreren Sprachtherapien. Allesamt bleiben sie erfolglos. Seine Frau Elizabeth (Helena Bonham Carter) wendet sich deshalb an den australischen Sprechpraktiker Lionel Logue (Geoffrey Rush), einen gegen britische Etikette verstoßenen Querdenker. Prinz Albert kommt mit Logues Methoden und seiner „Wir sind beide gleichwertig“-Mentalität nicht zurecht und bricht die Behandlung nach der ersten Sitzung wieder ab. Weihnachten 1934 erklärt Prinz Alberts Vater, König George V. (Michael Gambon), ihm die Bedeutsamkeit des Radios, und drängt ihn dazu drängt, vor seinen Augen die Weihnachtsansprache zu üben. Prinz Albert scheitert kläglich, wird von seinem Vater bloßgestellt. Somit nimmt Albert die Behandlung bei Logue wieder auf. Dieser Sinneswandel kommt nicht zu früh: Der Zustand von König George V. verschlechtert sich stetig, und es machen sich Zweifel breit, ob Prinz Alberts älterer Bruder Edward (Guy Pearce) mit seiner Lebemann-Attitüde ein geeigneter Thronfolger ist…
Als sich abzeichnete, dass «The King's Speech» die Favoritenrolle im diesjährigen Oscar-Rennen übernimmt, fanden sich in den Untiefen des Internets allerhand Trotzreaktionen seitens der Fans von David Finchers Drama über Freundschaft, Gier und Verrat. Die Verarbeitung der Facebook-Gründung sei so viel zeitgemäßer, «The Social Network» gilt als ein Dokument über das Lebensgefühl einer Generation und darüber, wie das digitale soziale Netzwerk alte zwischenmenschliche Gesetze aufbrach. Wie kann «The King's Speech» als Rückfall in die klassischen Schemata des typischen Oscar-Films ein verdienter Gewinner der begehrten Statue sein?
Um mit der Antwort absichtlich viel Staub aufzuwirbeln: «The King's Speech» hat seine Position im Oscar-Rennen aus dem Grund verdient, aus welchem «The Social Network» für manche der bessere Film als «Inception» ist. Christopher Nolans Thriller stellte die Regeln mehrerer (Sub-)Genres auf den Kopf, fühlte sich anders und neuartig an, klotzte, wo andere kleckerten. Im direkten Vergleich war «The Social Network» ganz klar die traditionellere Oscar-Wahl. Aber durch seine perfekte, niemals unschöpferische Ausführung, die dichte Atmosphäre und in Erinnerung haften bleibenden Figuren, ist «The Social Network» ein mindestens ebenso verdienter Anwärter auf den Goldjungen.
Exakt diese Argumentation lässt sich zu Gunsten von Tom Hoopers kurzweiligem Adelsdrama anwenden. «The King's Speech» ist weit davon entfernt, die Filmwelt mit einer außerordentlichen Inszenierung oder revolutionären Storyideen jahrelang zu prägen. Und das muss er nicht, denn ihren Platz in der Filmgeschichte erarbeitet sich diese britische Produktion durch ihre anrührende Wirkung, intelligenten Witz und glänzende Schauspielleistungen des nahezu perfekt besetzten Ensembles.
Dominiert wird «The King's Speech» von Hauptdarsteller Colin Firth, dessen gesamte Karriere auf diese Rolle hinzulaufen schien. Scheinbar mühelos stellt er den ungewollt in seine Machtposition rutschenden Prinzen dar, der von seinem Stottern gehemmt wird und zahlreiche Demütigungen hinnehmen muss. Dieser Intensität steht die Subtilität gegenüber, mit welcher er den Widerwillen spielt, sich den Behandlungen Logues auszusetzen, oder sich mit den Aufgaben seines Adelsstand zu beschäftigen. Firth macht aus Prinz Albert eine gequälte, teils aufbrausende Figur, mit der das Publikum leicht mitfühlen kann, wodurch man die Bewährungsproben Alberts wie gefesselt verfolgt. Auch die Erfolgsmomente werden dadurch, selbstverständlich, umso anrührender.
Besonderes Lob verdient außerdem Oscar-Preisträger Geoffrey Rush, der sich spürbar in seinem Element befindet. Er setzt als exzentrischer sowie dreister Therapeut, welcher sich herzerwärmend um seinen Patienten sorgt, dem Film seinen eigenen Stempel auf, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Mit trockenem und teils skurrilem Humor verleiht Rush «The King's Speech» obendrein eine angenehme, leichtfüßige Note: Die Therapiestunden Logues und seine freche Schnauze machen dieses Historiendrama witziger, als die meisten Blockbuster-Komödien der letzten Jahre. Dies ist natürlich auch dem gelungenen Drehbuch von David Seidler («Das magische Schwert») zu verdanken, dessen Vita sich zuvor mehr erschreckend, denn beeindruckend las. Historiker werden womöglich wieder über die unvermeidlichen dramaturgischen Freiheiten schimpfen (u.a. zeigte Logues Therapie viel früher Erfolg und Alberts Verhältnis zu Winston Churchill war anders, als dargestellt), aus filmischer Sicht gibt es hingegen nichts zu klagen. Stattdessen erstaunen die flüssigen und natürlich wirkenden Stimmungswechsel in «The King's Speech», welche aufgrund des genialen Schauspiels, vor allem von Rush und Firth, und Tom Hoopers kontrollierter Inszenierung eine nachhaltige Wirkung entfalten. In der einen Sekunde lacht man noch herzlich über Logues Exzentrik oder Alberts Temperament, in der nächsten ist man wegen der Verletzlichkeit der tief ausgearbeiteten Figuren sprachlos.
All dies macht «The King's Speech» zu einem klaren Schauspielerstück. Zu einem Schauspielstück, um genau zu sein, dessen zwei wichtigsten männliche Rollen so präsent im Vordergrund stehen, dass man glatt das eigentlich verdiente Lob für Helena Bonham Carter vergessen kann, die als Elizabeth ihrem Mann stets liebevoll den Rücken stärkt. Regisseur Tom Hooper ist sich der Natur dieses anfangs als Theaterstück geplanten Films bewusst, und konzentriert sich deswegen vornehmlich darauf, seine Darstellerriege richtig in Szene zu setzen. Nur in raffiniert ausgewählten Momenten rückt die Inszenierung etwas stärker ins Bewusstsein, etwa in der bereits angeschnittenen Eingangsszene. In dieser behält Hooper seine britisch-erhabene Gelassenheit, während er und Kameramann Danny Cohen durch extreme Nah- und Weitwinkelaufnahmen die Albtraumhaftigkeit einfängt, die der öffentliche Auftritt für Prinz Albert annimmt. Gleiches gilt für die Ausstattung von «The King's Speech», die zwar detailreich ausfiel, doch nur auf Lionel Logues ungewöhnliche Praxis einen Akzent setzt.
Zu den wenigen Kritikpunkten an diesem inspirierenden Oscar-Anwärter zählt einerseits ein hemmungslos übertreibender, glücklicherweise bloß kurz auftretender, Timothy Spall als Winston Churchill und andererseits die unerklärlicherweise für mehrere Preise nominierte Musik von Alexandre Desplat. Im Gegensatz zu Spall fällt diese zwar nicht negativ auf, doch Desplats routiniertes Geklimper wird dem herausstehenden Charakter von «The King's Speech» einfach nicht gerecht. Die Filmmusik klingt, trotz eines seiner effektiven Moments, wie aus jedem beliebigen Kammer-Historiendrama entliehen. «The King's Speech» allerdings ist ein menschliches, humorvolles Drama, das den Zuschauer zu motivieren weiß und seine relevanten Themen mit einer ungewohnten Einfachheit behandelt, ohne seine Schwere zu untergraben. Durch seine Herzlichkeit und seine angemessene Besonnenheit wird einem «The King's Speech» noch sehr lange in Erinnerung bleiben. Da wäre eine etwas einfallsreichere Filmmusik noch die letzte Krönung gewesen.
Fazit: Nahezu makelloses, intelligentes Erwachsenenkino, einem sensationellen Colin Firth sowie einem nicht minder genialen Geoffrey Rush. Obendrein ist «The King's Speech» ein schlichtweg schöner Film, der einem nahe geht und dennoch ungezwungen zum Lachen bringen kann. Auch solches Lob gehört einmal ausgesprochen.
«The King's Speech» ist seit dem 17. Februar in vielen deutschen Kinos zu sehen.