Alle Augen richten sich nach Hollywood. Dort erwartet die Filmwelt in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar die mittlerweile 83. Verleihung der Academy Awards, und die spannende Frage lautet: Wird sich der klare Favorit, das leichtfüßige Historiendrama «The King‘s Speech», gegen die filmische Verarbeitung der Facebook-Gründung «The Social Network» durchsetzen? Oder erwarten uns einige unvorhergesehene Außenseitersiege? Eventuell gewinnt auch erstmals das Drehbuch zu einem Animationsfilm den begehrten Oscar, vielleicht wird Dreamworks charmantes Abenteuer «Drachenzähmen leicht gemacht» dem Abschluss der «Toy Story»-Trilogie den Animationsoscar vor der Nase wegschnappen? Der Abend ist erst vorbei, wenn die letzte Dankesrede zu Ende gestottert wurde. Und bis dahin können Sie sich hier bei Quotenmeter mit interessanten Hintergrundinformationen über die Nominierungen in den wichtigsten Kategorien auf die große Preisverleihung einstimmen.
Beste Regie: …und wo bleibt der Traumarchitekt?
Unter den wichtigsten Oscar-Kategorien wird diese Saison der Preis für die beste Regieleistung am heißesten diskutiert. Einer der Hauptgründe dafür ist auf der einen Hand das zu erwartende Stechen zwischen David Fincher (nominiert für «The Social Network») und Tom Hooper (nominiert für «The King‘s Speech»). Der womöglich schwerwiegendere Grund ist auf der anderen Hand die vollkommen unerwartete kalte Schulter, die Christopher Nolan für den smarten Blockbuster «Inception» gezeigt bekam.
Dabei schien Christopher Nolan ein sicherer Tipp zu sein. «Inception» begeisterte sowohl die Kritiker (er hält bei Rottentomatoes derzeit einen Wert von 86%), als auch das Kinopublikum (weltweites Einspielergebnis: 823.576.195 Dollar). Zudem schien Nolan für eine Nominierung in der Regie-Kategorie überfällig: Auf seine drei Nominierungen bei den Directors Guild Awards (darunter auch eine für «Inception») folgte nie eine Nominierung für den Oscar als bester Regisseur. Aber es kam bekanntermaßen anders, als gedacht: Während mit David Fincher, Tom Hooper, Darren Aronofsky (für «Black Swan») und David O. Russel (für «The Fighter») vier der diesjährigen Nominierten für den Regiegewerkschaftspreis auch eine Oscar-Nominierung erhielten, tauschte die Academy Christopher Nolan gegen das «True Grit»-Brüdergespann Joel & Ethan Coen.
Da offizielle Stellungnahmen, wie üblich, ausblieben, entfachte unter Oscar-Experten und Cineasten das Fieber der Mutmaßung. Fakt ist, dass der groß angelegte, laute und actionreiche Blockbuster «Inception» rein formell atypisch für die Oscars ist. Zu groß die Anleihen an Heist-Movies und James-Bond-Filme, zu stark der Fokus auf das Konzept, die schauspielerischen Leistungen genrebedingt zu sehr im Hintergrund. Scheiterte Nolans Nominierung etwa daran? Aber «Titanic» und «Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des König» waren ebenfalls keine klassischen Schauspieler-Dramen und wurden nicht bloß für den Regieoscar nominiert, sie gewannen auch in dieser Kategorie. Hätte «Inception» vielleicht bloß die Milliardengrenze knacken müssen, um wie «Avatar» zumindest nominiert zu werden?
Der kleine, für «Inception» möglicherweise tragische, Haken an diesen Vergleichen: James Camerons Megaerfolge waren schon allein rein technisch bahnbrechend, Peter Jackson wiederum erhielt den Regieoscar für den megalomanischen Abschluss einer filmhistorisch bedeutsamen Trilogie. «Inception» ist bloß ein, wenngleich beeindruckendes, Einzelwerk. Mit dem Überraschungserfolg von «True Grit» nahmen Nolan dann die Coen-Brüder vielleicht einige Last-Minute-Stimmen sowie einige der Action gegenüber offeneren Academy-Mitglieder weg… Fans von Christopher Nolan sollten sich sicherheitshalber in Geduld mit der Academy of Motion Picture Arts & Sciences üben. Der in London geborene Regisseur dachte nämlich bereits laut darüber nach, im Anschluss an «The Dark Knight Rises» ein Biopic über die späten Jahre von Howard Hughes zu drehen. Eine solche Quasi-Fortsetzung von Martin Scorseses «Aviator» schreit geradezu nach einem Wiedergutmachungs-Oscar.
Britischer Fernsehregisseur vs. Kultfilmer
Mit einem diesjährigen Wiedergutmachungs-Oscar rechnete zu Beginn der Oscar-Saison wohl das ganze Internet. Filmindustrie-Blogs und Fanforen waren sich sicher, dass David Fincher für «The Social Network» prämiert wird. Immerhin ist das zeitgenössische Drama (zusammen mit «Der seltsame Fall des Benjamin Button») sein bislang Oscar-tauglichster Film, während Kultproduktionen wie «Fight Club» oder «Sieben» an dem stereotypischen Geschmack der Academy vorbeiliefen. Fincher gewann auch zahlreiche Kritikerpreise sowie den Golden Globe. Kurz darauf kippte die Stimmung in Hollywood und Tom Hooper startete eine Aufholjagd, unter anderem gewann er für «The King‘s Speech» den Preis der Regiegewerkschaft. In der letzten Dekade gewannen 8 von 10 DGA-Preisträger auch den Regie-Oscar. Und es gibt eine noch bestechendere, wenngleich obskure, Statistik, die Hooper den Rücken stärkt: In der Geschichte der Academy Awards erhielten alle Filme, die den Oscar als bester Film gewannen und mit zwölf Nominierungen ins Rennen gingen, auch den Regie-Preis. Bis auf «Gladiator». Ist ihnen diese Zahlenspielerei zu weit hergeholt? Dann versetzen sie sich mal in David Fincher, dem seit Hoopers Gewinn bei den DGAs die Oscar-Felle davonschwimmen.
Da «The King‘s Speech» der klare Favorit in der Sparte „Bester Film“ ist, ist ein Sieg Tom Hoopers nahezu garantiert. In den vergangenen 50 Jahren ging der Regieoscar in 80% der Fälle an den Strippenzieher hinter dem Film, der auch den Hauptpreis mit nach Hause nahm. Allerdings sind es die 20 restlichen Prozentpunkte, die das diesjährige Wettrennen um den Goldjungen so spannend machen. 2006 gewann Ang Lee für «Brokeback Mountain» bei den DGAs sowie den Regieoscar, doch «L.A. Crash» wurde als bester Film ausgezeichnet. 2003 nahm Rob Marshall den Gewerkschaftspreis mit nach Hause, und es war sein Film «Chicago», der mit dem Haupt-Oscar wurde. Den Academy Award für die Regie erhielt jedoch Roman Polanski. Und 2001 wurden sämtliche Statistiken auf den Kopf gestellt: Ang Lee bekam für «Tiger and Dragon» den Gewerkschaftspreis, Steven Soderbergh erhielt den Regieoscar, aber der beste Film war, so die Acadmey, das Sandalenepos «Gladiator» von Ridley Scott. Gerade «Chicago» könnte das Schablonenbeispiel für dieses Jahr sein: Tom Hooper kommt, ähnlich wie damals Rob Marshall, recht frisch von seiner TV-Karriere, tritt in der Regiekategorie gegen erfahrene Kollegen an. Nun versetzen Sie sich in die Lage eines Academy-Mitglieds, das zudem Stimmrecht bei den Directors Guild Awards hat, und sich nicht ganz zwischen seiner Gesamtzuneigung für «Chicago» bzw. «The King‘s Speech» sowie der Regiearbeit von Polanski bzw. Fincher entscheiden kann. Ist es da so abwegig, dem Neuankömmling in der Kinowelt den einen Preis zuzusprechen, bei den Academy Awards hingegen (auch mit Blick auf die Gesamtkarriere) für jemand anderes zu stimmen?
Bester Animationsfilm: Drachen, Spielzeuge und ein Magier
Das Nominiertenfeld mancher Kategorien vergrößert und verkleinert sich, wie es lustig ist. Mag man zumindest mit Blick auf den besten Animationsfilm oder die Song-Kategorie meinen. In Wahrheit steckt dahinter ein ausdifferenziertes Regelwerk, nach welchem im Falle des Lieder-Oscars die Anzahl der Nominierungen hauptsächlich von der Qualität diktiert (mehr dazu im zweiten Teil unseres diesjährigen Oscar-Specials). Nicht so in der erst 2002 eingeführten Sparte für den besten abendfüllenden Trickfilm. Hier stellt das Nominiertenfeld lediglich ein Spiegelbild der Quantität dar. Eine willkürlich gesetzte Hürde von 16 den Qualifikationsanforderungen der Academy genügenden Trickproduktionen muss innerhalb eines Jahres geknackt werden, damit statt drei sogleich fünf Animationswerke für den prestigeträchtigen Filmpreis nominiert werden. 2010 qualifizierten sich bloß 15 Filme für eine Oscar-Nominierung in der Trick-Kategorie. Deshalb wird das mit Produktionen wie «Ich - Einfach unverbesserlich» hoch gefeierte Animationsjahr nur mit einem kleinen Feld an nominierten beim Oscar repräsentiert.
Ein großer Kritiker- und Publikumsliebling, der aufgrund dieser Regelung wohl knapp eine Nominierung verpasste, ist Disneys Rückkehr zum Märchenmusical. «Rapunzel» nahm weltweit über eine halbe Milliarde Dollar ein, wobei der japanische Markt noch aussteht. Was Disneyfans besonders verärgern könnte, ist dass das Oscar-Schicksal von «Rapunzel» durch eine enttäuschende Blödelkomödie besiegelt wurde. Denn neben den 15 qualifizierten Animationsfilmen wurde zusätzlich der Hybrid aus Real- und Computeranimationsfilm «Yogi Bär» eingereicht. Angeblich soll «Yogi Bär» aufgrund eines zu niedrigen Trickanteils knapp an der Qualifikation gescheitert sein, während die Acadmy den ähnlich geartete (und von der Presse gleichermaßen verrissene) «Cats & Dogs: Die Rache der Kitty Kahlohr» zum Nominierungsprozess zuließ. Wenige Animationsminuten mehr, und es hätte zwei weitere Oscar-Nominierungen für den besten Trickfilm gegeben. Wie fair diese Regelung ist, darf ausführlich diskutiert werden.
Unter den drei Filmen, die letztlich für die Auszeichnung nominiert wurden, ist Pixars «Toy Story 3» der glasklare Favorit. Immerhin ist die emotionale Achterbahnfahrt aus den Trickstudios ebenfalls als bester Film nominiert, weswegen eine Niederlage in seiner Heimatkategorie an eine Sensation grenzen würde. Sollte es tatsächlich dazu kommen, halten Sie sich jedoch besser mit den „Schiebung!“-Rufen zurück. Es wäre durchaus mit den Regeln der Academy Awards kompatibel, dass der den Nominierungen nach beste Animationsfilm des Jahres den Preis in der Tricksparte verliert. Denn während sämtliche rund 6.000 Mitglieder der Academy für den besten Film abstimmen, wählt nur ein Bruchteil derer den Gewinner in der Kategorie „Bester Animationsfilm“.
Manche Filmfans und -kritiker wünschen sich bereits lautstark eine solche Überraschung. «Toy Story 3» ist der mit den besten Kinokritiken bedachte, breit gestartete Film des Jahres (99% bei Rottentomatoes), allerdings folgt ihm «Drachenzähmen leicht gemacht» direkt auf dem Fuß (98% auf der Kritiken auswertenden Webseite). Das Computeranimationsdebut der «Lilo & Stitch»-Regisseure gilt als der bislang beste Film des Pixar-Dauerkonkurrenten Dreamworks Animation und feierte, wie schon «Kung Fu Panda», einen Erdrutschsieg bei den Annie Awards, dem angesehensten Preis innerhalb der Trickfilm-Branche. Zehn Annies gewann «Drachenzähmen leicht gemacht», darunter für den besten Trickfilm, die beste Regie sowie das beste Figurendesign und die beste Musik in einem Animationsfilm. «Toy Story 3» hingegen erhielt bei allein drei Nominierungen keinen einzigen Annie. Als Teilauslöser hierfür sehen Industrie-Insider Disneys und Pixars abgebrochene Kooperation mit der diesen Preis verleihenden Organisation ASIFA-Hollywood (Association Internationale du Film d'Animation). Disney kappte die Verbindungen zur Trick-Organisation, weil man im Fahrwasser des «Kung Fu Panda»-Sieges gegen den Oscar-Favoriten «WALL•E» das Regelwerk für die Annies genauer beäugte und einige Klauseln bzw. Schlupflöcher fand, die laut Disney unfair seien. Nachdem das Regelwerk nicht den Wünschen Disneys entsprechend abgeändert wurde, zog man sich von den Annie Awards zurück.
Als der relativ unbekannte Dritte im Bund steht der französische Zeichentrickfilm «L'illusionniste» zur Wahl. Der neue Film des mehrfach Oscar-nominierten Trickregisseurs und Musikers Sylvain Chomet («Das große Rennen von Belleville») feierte am 16. Februar 2010 im Rahmen der Berlinale seine Weltpremiere, lässt dennoch bis heute einen deutschen Verleih missen. «L'illusionniste» beäugt in makellos-flüssiger, traditioneller Zeichentrickanimation die Geschichte eines alternden Bühnenmagiers, der seinen Platz auf den großen Bühnen zugunsten aufstrebender Rockbands räumen muss. Von dort an tingelt er mit seinen Zaubertricks durch Cafés und Bars, wo er ein junges Mädchen kennen lernt, zu dem er eine warmherzige Vater-Tochter-Beziehung aufbaut. Kritiker lobten insbesondere die stille Poesie und den bewundernswerten Realismus von «L'illusionniste» – ein verdienter Oscar-Nominierter, der auf diesem Weg vielleicht einige neugierige Betrachter für sich gewinnen kann.
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