First Look

«Sense8»: Acht Menschen - Eine Vision

von

Sie können es also doch noch: Die beiden Wachowski-Geschwister zeigen mit der Netflix-Serie «Sense8», was sie wirklich draufhaben.

Cast & Crew

  • Autoren: The Wachowskis («Matrix») (Andy Wachowski, Lana Wachowski), J. Michael Straczynski («Thor», «Babylon 5>», «World War Z»)
  • Regie: The Wachowskis, Tom Tykwer, James McTeigue, Dan Glass
  • Executive Producers: The Wachowskis, J. Michael Straczynski, Grant Hill
  • Cast (Sensates): Brian J. Smith, Tuppence Middleton, Aml Ameen, Bae Doona, Miguel Ángel Silvestre, Tina Desai, Max Riemelt, Jamie Clayton
  • Cast (Weitere): Naveen Andrews, Daryl Hannah
Eine Frau, sie trägt nicht mehr als einen Fetzen Stoff am Körper, liegt vollkommen erschöpft und unter Schmerzen auf einer Matratze inmitten einer Ruine. Zittrig öffnet sie ein Kästchen, sucht zwischen leeren Papieren und Spritzen ihre Drogen – erfolglos. Verzweifelt streckt sie ihre verkrampfte Hand in die Höhe. Jemand ergreift sie. „I’m here“, flüstert er ihr leise zu. Sofort entspannt sich die Frau für einen kurzen Moment, auch wenn der Mann, mit dem sie zu sprechen glaubt, offenbar nur in ihrer Fantasie existiert. Ein zweiter Mann erscheint neben ihr und redet auf sie ein. „You are coming home, with me“. Plötzlich taucht dieser mit einem bewaffneten Team in der Ruine auf. Sie greift nach einer Waffe – und schießt sich selbst in den Kopf. Acht Menschen, verteilt über den ganzen Globus, sehen den Selbstmord von „Angel“ in einer Vision. Das ist die Geburtsstunde der sogenannten „Sensates“.

Diese atemberaubende Szene ist der Einstieg in Netflix‘ neue Mystery-Serie «Sense 8», deren erste Staffel von nun an beim amerikanischen Streaming-Anbieter im Programm steht. Die Premiere der Produktion ist einer der großen Netflix-Höhepunkte des ersten Halbjahres 2015, nachdem zuletzt bereits zahlreiche Originals des Anbieters starteten, unter anderem «House of Cards», «Unbreakable Kimmy Schmidt», «Bloodline», «Marvel’s Daredevil» und «Grace and Frankie». Die neue Serie «Sense8» ist dabei eines der ambitioniertesten und teuersten Projekte des Unternehmens, mit dem Netflix zum ersten Mal offensiv einen globalen Anspruch vertritt. Eine internationale Schauspieler-Auswahl sowie über die ganze Welt verstreute Drehorte sollen ein möglichst großes Publikum ansprechen. Das passt zu den derzeitigen Expansionsplänen des Streaming-Anbieters: In den nächsten zwei Jahren will der Anbieter in weitere 150 Länder vorstoßen. Unter anderem mit «Sense8» im Line-Up.

Acht Menschen sind auf unerklärliche Art und Weise miteinander verbunden. Sie sehen das, was die anderen sehen. Sie teilen ihre Gefühle, seien es Wut, Trauer oder Erregung. Sie übernehmen die Fähigkeiten der anderen und setzen sie für sich selbst ein. Und sie werden deswegen von einer geheimnisvollen Organisation gejagt. Jonas (siehe Bild unten), der Mann aus der ersten Szene, versucht dem entgegenzuwirken und die Sensates zusammenzubringen. Naveen Andrews dürfte vielen Mystery-Fans ein Name sein: In der Golden Globe- und Emmy-prämierten Serie «Lost» verkörperte er 117 Folgen lang Sayid Jarrah.

Nach dem intensiven Einstieg in die Serie geht es für «Sense8» nun darum, Charakterbildung für die acht höchst unterschiedlichen Sensates zu betreiben. Im Gegensatz zu beispielsweise «Lost» bekommt nicht jeder Charakter eine eigene Folge für sich alleine. Alle Handlungsstränge werden in jeder Episode mal mehr und mal weniger thematisiert. Dabei gelingt die Charakterbildung in den ersten Folgen stellenweise gut, teilweise aber auch sehr klischeehaft. Stark ist unter anderem die Zeichnung der Transsexuellen Nomi aus San Francisco, die gemeinsam mit ihrer Freundin für ihre Rechte kämpft, aber bereits nach kurzer Zeit ins Krankenhaus eingeliefert und dort gegen ihren Willen festgehalten wird, um eine schockierende Diagnose zu erhalten. Jamie Clayton verkörpert diese Rolle unglaublich authentisch und stark. Wiederum reichlich klischeehaft wirkt zu Beginn der Charakter Wolfgang aus Berlin, ein Krimineller mit einer gestörter Vaterbeziehung: Er pinkelt zwischenzeitlich auf dessen Grab – Frank Underwood lässt grüßen. Gespielt wird diese Rolle im Übrigen vom deutschen Schauspieler Max Riemelt (Bild links).

Insgesamt wurden die Schauspieler für die acht Rollen international ausgewählt. So sollen die verschiedenen Drehorte, unter anderem auch Mumbai und Nairobi, möglichst authentisch dargestellt werden. Die verschiedenen Darsteller sind eine Mischung aus Etablierten wie zum Beispiel Bae Doona («Cloud Atlas», «Jupiter Ascending») und aufstrebenden Talenten (Besetzung: siehe Infobox). Die Leistung der zahlreichen Hauptcharaktere ist auf sehr hohem Niveau. Kaum ein Moment, in dem man den Schauspielern ihre Rollen nicht abkauft. Die Unterschiedlichkeit und Summe der Hauptpersonen könnte aber auch gleichzeitig das größte Problem der Serie sein: Die Stories der acht Charaktere müssen eingeführt werden, ohne dass die gemeinsame Hauptstory nicht zu kurz kommt. Aber genau das passiert phasenweise: Lange Zeit stehen die einzelnen Charaktere im Vordergrund. Das ist eigentlich nichts Schlechtes, da die Produzenten den Anspruch haben, dass jede Figur auch für sich alleine eine Serie tragen könnte. Jedoch leidet hierunter zu Beginn der spannende übergreifende Plot. Erst am Ende der zweiten Folge packt die Serie diese Handlung am Schopfe und nimmt richtig Fahrt auf.

Als wir erstmals davon sprachen, wie wir die Geschichte umsetzen wollten – ihren Umfang, die übergreifenden Elemente und die Schauplätze – erzählte uns so gut wie jeder, dass das unmöglich und einfach nicht machbar sei. Und falls doch, würden wir dabei draufgehen. Also haben wir tief durchgeatmet, uns eingestanden, dass wir uns auf das Unmögliche einlassen ... und es trotzdem getan.
Produzent J. Michael Straczynski
Hinter der Produktion von «Sense8» stehen nicht gerade unbekannte Namen: Die Wachowskis und J. Michael Straczynski. Die Wachowskis verbindet man mit einer der großen Trilogien des neuen Jahrtausends: «Matrix». Seitdem ist es um die beiden Geschwister aber recht ruhig geworden. Mit «Cloud Atlas» produzierten sie dann 2012 eine als unverfilmbar gehaltene Buchvorlage ziemlich gut. Aber vor allem zuletzt mussten die Wachowskis doch deutliche Kritik einstecken. Ihr erst dieses Jahr erschienener Science Fiction-Epos «Jupiter Ascending» fiel bei den Kritikern gnadenlos durch. Für «Sense8» setzten die Geschwister trotzdem wieder auf das etablierte Team aus ihren bisherigen Produktionen. Insgesamt wurde die Serie auf sehr hohem Niveau produziert, was man ihr in fast jeder Szene anmerkt. Dahinter stecken unter anderem Köpfe wie Grant Hill (Co-Produzent bei «Titanic») oder der Oscar-prämierte Kameramann John Toll. Die beeindruckenden Bilder entstanden allesamt – unter Mithilfe kleiner visueller Effekte unter Verantwortung von Dan Glass – an den Original-Schauplätzen der Serie: San Francisco, Chicago, Berlin, London, Nairobi, Mumbai, Mexico City, Reykjavik und Seoul. Für jeden Drehort wurde ein eigenes Team abgestellt – ein riesiger logistischer Aufwand angesichts der Tatsache, dass jede Stadt ihre Eigenheiten und Probleme mit sich bringt. Auch die Regiearbeit wurde unter den Städten aufgeteilt. Für Berlin und Nairobi war beispielsweise der deutsche Regisseur Tom Tykwer verantwortlich.

Insgesamt wirft Netflix mit «Sense8» eine stimmige und spannende Serie auf den Markt, wobei es aber an der einen oder anderen Stelle doch Ansatzpunkte für Kritik gibt. Wie bereits angesprochen kommt die übergreifende Handlung des Mystery-Thrillers zu Beginn der Staffel etwas kurz. Trotzdem schafft es die Serie, den Zuschauer zu fordern. Die Charakterbildung der Sensates ist stellenweise etwas klischeehaft (unter anderem eine Tanzszene in Mumbai à la Bollywood), aber andererseits auch beeindruckend tiefgehend angesichts der Tatsache, dass man pro Folge meistens nur fünf bis zehn Minuten Sendezeit für eine Rolle investieren kann. Acht Handlungsstränge bedeuten auch Raum für zahlreiche Thematiken, unter anderem LGBT-Rechte, Kriminalität, psychische Probleme oder die gravierenden Unterschiede zwischen den Industrienationen und der Dritten Welt. Das ergibt spektakuläre Bilder, wobei die musikalische Untermalung unter Verantwortung von Ethan Stoller und Johnny Kilmek für die gezeigte Handlung phasenweise doch etwas überdramatisch ist.

Größtes Manko, das man Netflix anrechnen muss, ist die doch recht gewöhnungsbedürftige deutsche Synchronisation. Im Gegensatz zu vielen anderen Dramen oder Thrillern aus den USA wirkt diese oft etwas abgehoben vom Bild. Aber auch die divergierenden Synchronsprecher für bekannte Schauspieler sind im ersten Moment befremdlich. Jene, die «Lost» auf Deutsch gesehen haben, werden mit der Synchronisation von Naveen Andrews ihre Probleme haben. Die deutsche Fassung ist nicht schlecht, jedoch bereitet das Original auf Englisch deutlich mehr Freude.

«Sense8» ist eine sehr düstere Serie, die Charakterdrama, Thriller und Mystery zusammenführt. Auf den weitläufigen Trend, in solchen Genres trotzdem noch möglichst viele Witze einzubauen, springt die Serie nicht auf – zum Glück. Das wäre ihrer mysteriösen und spannenden Stimmung abträglich gewesen. «Sense8» möchte mehr sein als nur ein Zeitvertreib. Die Serie will ideelle Werte wie Menschlichkeit und Verbundenheit vermitteln und die Identität des Einzelnen hervorheben. Wenn man einige Klischees ausblendet, gelingt das den Wachowski-Geschwistern und J. Michael Straczynski wirklich gut. «Sense8» ist mehr als nur sehenswert.

Die erste Staffel von «Sense8» ist seit dem 5. Juni bei Netflix verfügbar.


Kurz-URL: qmde.de/78684
Finde ich...
super
schade
94 %
6 %
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelDeutschsprachige Sitcoms im Testnächster Artikel«Let's Dance» schlägt sie alle
Es gibt 0 Kommentare zum Artikel
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Fabian Riedner Veit-Luca Roth

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung