Hingeschaut

«Echtzeit»: Eine Stunde gegen den schlechten Ruf

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RTL II macht Ernst bei der Ankündigung, seinem Programm mehr Substanz und Relevanz zu verpassen - und liefert mit «Echtzeit» ein nahezu makelloses Format ab, dessen Tempo heraussticht. Die erhoffte Doku-Revolution bleibt allerdings vorerst aus.

Quoten der «VICE Reports»

Seit neun Wochen läuft die Sendung bereits am späten Montagabend bei RTL II, die große Quoten bleiben aber bisher aus: Mit durchschnittlich rund 0,4 Millionen Zuschauern gingen eher maue 3,0 Prozent aller und 4,5 Prozent der jungen Konsumenten einher. Überdurchschnittlich lief noch keine einzige Folge.
Würde man eine bundesweite Umfrage starten, welcher der acht größten Fernsehsender Deutschlands am ehesten für anspruchsvolle, hochwertige und vor allem journalistisch relevante Formate steht, dürfte RTL II wohl nur einen verschwindend geringen Anteil der Stimmen bekommen - selbst unter den Privatsendern. Mitunter mag das ein wenig unfair sein, da der Grünwalder Kanal nicht nur einige hochklassige internationale Serien in petto hat, sondern sich auch immer wieder zaghaft an Wissensmagazinen versuchte. Im Vergleich zum (oft sehr erfolgreichen) Trash-Übermaß gingen diese Oasen der Substanz jedoch meist unter, was bisher auch für den Versuch gilt, das in den USA sehr erfolgreiche «VICE» am späten Montagabend nach den televisionär aufbereiteten Paarungsresultaten Sarahs und Pietros sowie dem «Trödeltrupp» erfolgsbringend zu positionieren (siehe Infobox). Da Resignation zu früh käme und der Privatsender in Zeiten nachlassender Einschaltquoten unter Druck steht, sich partiell neu zu positionieren, versucht man sich nun am Sonntag um 19 Uhr an der neuen Doku- und Reportagereihe «Echtzeit». Und die weiß zum Auftakt durchaus schon einmal zu überzeugen.

Laut Pressemitteilung ist das vorrangige Ziel des Neustarts, Inhalte zu präsentieren, "die junge Menschen interessieren - journalistisch hochwertig aufbereitet und packend erzählt". Nach Betrachtung der ersten Folge, die bedauerlicherweise den etwas arg sensationshascherischen Titel «Chongqing - Die Megacity der Superlative» trägt, mag man dieser Beschreibung schon einmal ein anerkennendes Nicken zukommen lassen. Die netto gut 50-minütige Doku über die chinesische Multimillionenstadt ist temporeich und mitreißend erzählt, kann visuell mit den allermeisten öffentlich-rechtlichen Produktionen mindestens mithalten und verliert trotzdem nicht ihre eigentliche Zielsetzung aus dem Auge, ihrem Publikum auch Inhalte zu vermitteln. Ob dieses Format allerdings so "anders" ist als die gewohnte Doku-Kost im deutschen Fernsehen, muss man zunächst einmal doch ein wenig in Zweifel ziehen.

Das herausstechendste Merkmal der Chongqing-Ausgabe ist wohl ihr hohes Tempo und ihre Dynamik, womit sie sich zumindest gegenüber den meist eher temporeduzierten Dokus und Reportagen aus öffentlich-rechtlicher Produktion abhebt. Vor allem zu Beginn werden viele Montagen mit Zeitraffern eingebettet, die nicht nur die gezeigten Bilder dynamischer erscheinen lassen, sondern darüber hinaus auch eine Symbiose mit der verbalen Kernbotschaft eingehen, die Metropole wachse kontinuierlich in rasantem Tempo. Es wird sich allerdings rasch eigen, dass es sich hierbei nicht bloß um ein situatives Stilmittel handelt, sondern Flinkheit in Bild und Ton die gesamte Sendezeit prägt.

Die hohe Schlagzahl geht einher mit vielen unterschiedlichen Themen, Interviewpartnern und Schauplätzen, die allesamt ihren Beitrag dazu leisten, unterschiedliche soziokulturelle Facetten der Stadt aufzuzeigen. Der Rezipient gewinnt im Rahmen dessen zunehmend den Eindruck, die Intention der Macher gehe vor allem in die Richtung, Kontraste aufzuzeigen. Den Kontrast zwischen der heutigen Megacity mit vielen Millionen Einwohnern und dem kleinen Provinz-Örtchen vergangener Jahrzehnte, den Kontrast zwischen dem oberflächlichen Bombast und Pomp und der wenig glamourösen Realität der einfachen Menschen, die meist für umgerechnet weniger als 200 Euro monatlich arbeiten, den Kontrast zwischen der chinesischen Mentalität und der im Westen vorherrschenden. Kein schlechter Ansatz, der liebevoll und vor allem ohne moralinsaure Holzhammer-Tonalität, aber vielleicht auch eine Idee zu überambitioniert umgesetzt wird.

Weitere «Echtzeit»-Ausgaben

Im August sind weitere Folgen geplant, für die zum aktuellen Zeitpunkt aber noch keine konkreten Themen feststehen.
Denn zwischen all den Gesprächsbeiträgen einheimischer und zugewanderter Menschen, den diversen visuell stark in Szene gesetzten Schmuckstücken und den vielen Informationen des Off-Sprechers fühlt man sich zeitweise fast etwas mit Eindrücken überlagert. Vielleicht ist es genau das, wovon man ausgeht, dass es gerade bei jungen Menschen gut ankommt - und hilfreich ist es sicher dabei, eventuellen aus wachsender Ödnis resultierenden Umschaltimpulsen vorzubeugen. Allerdings nimmt es der Doku auch ein wenig Stringenz und lässt sie mitunter leicht chaotisch wirken.

In Frage zu stellen ist ferner auch, ob das gewählte Thema das allerbeste für die «Echtzeit»-Premiere war. Nüchtern betrachtet ist eine Doku über eine "Megacity" nun nichts, womit man sich elementar von den Stoffen privater Wissensmagazine abhebt. Ein revolutionärer Charakter, mit dem die Sendung Eindruck bei einem anspruchsvollen Publikum oder bei Medienkritikern schinden kann, bleibt hier also weitgehend aus. Auffällig oft betont man auch, dass Chongqing mit seinen 32 Millionen Einwohnern "die größte Stadt der Welt" sei - ohne expliziten Hinweis darauf, dass es nur für den Fall gilt, dass man von ihrer administrativen Grenze ausgeht, da die Kernstadt "nur" über knapp fünf Millionen Einwohner verfügt. Von einer seriösen und gut recherchierten Doku hätte man sich einen solchen Hinweis dann doch gewünscht, wenn man schon so eifrig mit Quantitäts-Superlativen aufwartet.

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18,1%
War in Ordnung, da kann man zumindest mal reinschauen.
16,7%
Ganz mies, das muss ich nicht noch einmal sehen.
12,5%
Habe es (noch) nicht gesehen.
52,8%


Dennoch bleibt die Auftaktfolge von «Echtzeit» ein sehr löbliches Farbtupferl im ansonsten vorwiegend wenig bildungsfördernden Programm des Privatsenders. Von der am Sonntag gezeigten Episode allerdings auf eine generelle Ausrichtung des Formats zu schließen, könnte sich im Nachhinein als Fehler erweisen. Schließlich betont man seine große Themenvielfalt ebenso wie die Vielzahl der Produzenten, derer es bereits jetzt 15 geben soll - allesamt vereint unter einer Dachmarke, die für neuartigen hochwertigen Stoff stehen möchte, der eine junge Zielgruppe erreicht. Wenn die Chongqing-Ausgabe ein sanftes Herantasten an die großen und schweren Themen der Menschheit darstellt, können wir noch einiges in den nächsten Wochen erwarten. Sollten wir schon die Speerspitze der Substanz erlebt haben, kann sich die mutige Zielsetzung in der konkreten Umsetzung allerdings auch ziemlich schnell als ein laues Lüftchen erweisen.

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