Wann immer ein Prominenter in den Negativschlagzeilen steht, sind zwei Aufrufe nicht fern. Wir sollten zwischen Kunst und Künstler trennen, sagen die Einen. Wir sollten ihr Werk beschämt ablehnen, wenn wir ein gutes Gewissen haben wollen, sagen die Anderen. Ignoranz als Waffe: Ignorieren wir besser die (manchmal nur vermeintliche) Tat oder das künstlerische Schaffen? Stets drängt sich die Frage auf. Egal, ob nun über die FBI-Ermittlungen gegen Brad Pitt gesprochen wird oder Regisseure wie Woody Allen und Roman Polanski ein neues Werk veröffentlichen.
Neu ist dieser Zwiespalt keineswegs. Seit jeher haben sich Künstler in ihr Werk eingebracht. Wer sich intensiver mit Michelangelo beschäftigt, wird die Sixtinische Kapelle mit ganz anderen Augen betrachten. Thomas Manns Schaffen erschließt sich erst so richtig, wenn man von seiner (unterdrückten) Homosexualität weiß. Und die Parallelen zwischen «Die Leiden des jungen Werther» und Goethes wahrem Leben inspirieren, mehr als 230 Jahre nach Erstveröffentlichung, Stunden um Stunden an Vorlesungen sowie Deutschkursen.
Seit annähernd fünf Jahrzehnten findet aber auch die Literaturtheorie 'Tod des Autors' ihre Anhänger. Demnach wird der Sinn eines Textes (und, wenn man diese Sichtweise weiterspinnt, eines jeden Kunstwerkes) erst durch die Rezeption gestiftet. Wenn ich etwas lese, sehe oder höre, dann bin ich derjenige, der es mit Sinn erfüllt. Ich bin es, der aus dem, was ich erlebe, eine Interpretation zieht. Und dieser Blick auf Kunst hat durchaus Hand und Fuß. Wenn ich mich hinsetze, um einen Liebesbrief zu schreiben, dann entscheidet die Person, die meinen Brief erhält, ob er romantisch ist. Wenn sie durch den Brief angewidert ist, dann bringt es nichts, wenn ich mich hinstelle und sage: „Aber, aber … das ist ein Liebesbrief, du musst mich nun lieben!“ Oder um diesen Vergleich ins Heute zu übertragen: Liebe Geschlechtsgenossen! Ein ungefragt verschicktes Schwanzfoto ist erstmal nur ein ungefragt verschicktes Schwanzfoto. Ob das nun die romantischste Geste der Weltgeschichte oder digitale, sexuelle Belästigung ist, entscheidet sich am anderen Ende der Datenübermittlung.
Ob es nun sinniger ist, alles um das Kunstwerk herum zu beachten, also einen sogenannten hermeneutischen Ansatz zu verfolgen, oder nur das Werk zu fokussieren und den Tod des Autors auszurufen: Nicht nur unter Literaturtheoretikern wird das heiß debattiert – wenn Filmfans darüber zanken, ob sie nun Polanskis Filme per se zu verurteilen haben oder nicht, dann machen sie nichts anderes. Und auch wenn es manche Kulturgelehrten nicht mögen werden: Diese Diskussion dürfte nunmehr schwerer denn je sein – und häufiger denn je geführt werden.
Denn einerseits ist der einzelne Autor toter denn je. Welche Kunst konsumieren wir denn tagein, tagaus? Filmfranchises, die mehrere Autoren und Regisseure durchlaufen, die wiederum Studios unterstehen, die einen weit in die Zukunft hinausreichenden Plan haben – wie das 'Marvel Cinematic Universe'. Serien, die von teils Dutzenden Autoren und Regisseuren verwirklicht werden, die wiederum zwar einem Showrunner unterstehen, der aber gerne mal abdanken muss – wie etwa bei «The Walking Dead». Und dann haben durch die immer größer werdende Bedeutung von Social Media die Fans ja auch noch etwas mitzureden – die Figur ist doof, hoffentlich stirbt sie. Kommt in Teil zwei bitte unsere Lieblingsfigur wieder? Ja, die Handlung von «Am Ende sind alle tot» ist abgeschlossen, aber wir haben 1,7 Milliarden Dollar an den Kinokassen hinterlassen und Foren mit Theorien zugespammt, wie es weitergehen könnte. Also, geht es bitte weiter? Ganz zu schweigen von all den Fanfictions und Fantheorien („Alle Pixar-Filme spielen im selben Universum!“). Das Werk gehört nicht mehr einem Schöpfer, sondern uns allen. Natürlich können wir es vor dem Hintergrund ganz alleine betrachten.
Andererseits: Mehr denn je drängen sich uns durch Vernetzung und Zusatzmaterialien die Wechselwirkungen zwischen Kunstwerk und Beteiligtem auf. Dwayne Johnson lässt seine Millionen von Fans via Social Media wissen, dass er beim Dreh einer «Fast & Furious 8»-Szene angepisst war. Robert Downey junior wird deshalb als so toller Iron Man gefeiert, weil er seine reale Persönlichkeit in die Figur überträgt. Quentin Tarantino könnte Tage, ach, Wochen am Stück darüber reden, was er sich bei seinen Filmen gedacht hat. Kaum eine rückblickende «Mr. & Mrs. Smith»-Kritik wird ohne den Fakt auskommen, dass sich Angeline Jolie und Brad Pitt am Set ineinander verliebt haben und sich ihre gegenseitige Anziehung auf den Film überträgt. Ebenso wird kaum jemand Jolies Regiearbeit «By the Sea» kommentieren, ohne auf die vielfach medial aufbereiteten Parallelen zwischen den von Jolie und Pitt gespielten Hauptfiguren und ihren realen Eheproblemen einzugehen. Jetzt, wo sich das Paar getrennt hat, gewinnt dieser Kinoflop sogar plötzlich an popkultureller Relevanz.
Und dann wäre da der keinen Abriss nehmende Schwall an metatextuellen Werken. «Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)» zeigt einen früheren Superheldendarsteller, der seine Karriere durch Anspruch wieder in Gang bringen will, wie er einen früheren Superheldendarsteller spielt, der seine Karriere durch Anspruch wieder in Gang bringen will. Und das wird mit sogleich mehreren Oscars gekrönt!
Selbst ohne die stetigen Streitgespräche darüber, wie Johnny Depp, Brad Pitt, Woody Allen, Roman Polanski oder «Birth of a Nation - Aufstand zur Freiheit»-Regisseur Nathan Parker und all die anderen teils überführten, teils angeblichen Mistkerle zu behandeln sind: Wir werden zeitgleich zu zwei entgegengesetzten Kunstverständnissen erzogen. Kunst gehört uns allen, wir dürfen selbst bestimmen, was sie für uns bedeutet – aber hier, bitte, beachtet, wie intensiv die Kunstschaffenden da durchschimmern.
Gibt es da überhaupt eine allgemeingültige Antwort? Wahrscheinlich nicht. Wir im Publikum fühlen, was wir nun einmal fühlen. Wenn wir trennen können, dann trennen wir. Wenn wir es nicht können, dann können wir es nun einmal nicht.
Nun braucht’s nur noch einen Namen dafür, denn dann entsteht hier erst wirklich eine Sache. Ich nenne meine Theorie: Die Geistererscheinung des Autors – mal sucht er uns heim, mal nicht. Und je eher wir damit unseren Frieden schaffen, desto eher reden wir wieder über Künste (und ihre Schaffenden), statt darüber, wie wir uns ihnen nähern könnten.
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27.09.2016 11:20 Uhr 1