Filmfacts «Dunkirk»
- Regie und Drehbuch: Christopher Nolan
- Produktion: Emma Thomas, Christopher Nolan
- Darsteller: Fionn Whitehead, Tom Glynn-Carney, Jack Lowden, Harry Styles, Aneurin Barnard, James D'Arcy, Barry Keoghan, Kenneth Branagh, Cillian Murphy, Mark Rylance, Tom Hardy
- Musik: Hans Zimmer
- Kamera: Hoyte van Hoytema
- Schnitt: Lee Smith
- Laufzeit: 107 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Im Fokus der eine Laufzeit von nur 107 Minuten aufweisenden 150-Millionen-Dollar-Produktion steht die Evakuierungsaktion 'Operation Dynamo', die im Frühjahr 1940 erfolgte, als mehrere Tausende alliierte Soldaten in der französischen Küstenstadt Dünkirchen von den deutschen Streitkräften eingekesselt wurden. Die Truppen verharrten dort eine Woche lang – doch dank ziviler Bootsfahrer, die von England aus nach Frankreich rüberfuhren, konnten sie gerettet werden.
Nolan scheute schon in seinen bisherigen Filmen vor all zu expliziter Gewaltdarstellung zurück, und dieser Linie bleibt er in «Dunkirk» treu. Dieses historische Kapitel skizziert der Regisseur nahezu blutlos nach, laut eigenen Angaben, weil er findet, dass es ein Überangebot an Kriegsfilmen gibt, die sich in der Darstellung der Schrecken an der Front auf den Schock- und Ekelfaktor verlassen. Stattdessen nahm sich der Oscar-Nominierte vor, das Gefühl der intensiven Anspannung, die Retter und Gerettete damals verspürten, allein durch fesselnden Gebrauch des filmischen Grundhandwerks zu rekreieren – mittels Schnitt, Kameraführung und Ausleuchtung sowie die Macht des Sounds.
Diesem Vorhaben kommt Nolans ungewöhnliche Erzählstruktur auf beeindruckende Weise zugute: Er verschränkt eine nahezu in Echtzeit abgebildete Mission dreier britischer Kampfpiloten, den komprimierten Rettungseinsatz eines zivilen Fischerbootes und das stark verdichtete, somit intensive Leiden einiger junger Soldaten, die von Dünkirchen wegzukommen versuchen, zu einem mitreißenden Wellengang von Ereignissen. Im Gegensatz zu klassischen Kriegsfilmen weisen die Handlungsfäden keinen jeweils eigenen Verlauf von Höhen und Tiefen auf – trotz unterschiedlicher Erzähltempi verlaufen sie wie ein einzelner Plotstrang. Die Soldaten müssen sich wegen eines Fliegerangriffs in Sicherheit bringen. Zack, auf dem Fischerboot kommt es zu intensiven Auseinandersetzungen. Zack, einer der Piloten hat beängstigende Probleme mit seiner Technik. Die Situation scheint sich kurz zu klären … Zack, schon wird die Verschnaufpause von drei neuen lebensbedrohlichen Hindernissen zerschlagen, die Nolan und Cutter Lee Smith zu einer gigantischen Hürde verschmelzen.
Nolan gestattet den Betrachtenden somit kaum einen Augenblick der Ruhe – das Füllmaterial üblicher Kriegsepen fällt in dieser stürmischen Flut an Gefahrensituationen nahezu weg. Zudem sorgt die intuitiv leicht verständliche, aber ungewöhnliche Struktur für zusätzliche Desorientierung. Wiederholt stellt sich, ob Tom Hardy als wortkarger Pilot schon am Boot aus dem anderen Handlungsfaden vorbeigeflogen ist – oder eine ähnliche Frage. Dieser "Mittendrin, statt sicher im Kinosaal"-Effekt wird mit imposantem Nachdruck durch die knarzenden, rauschenden, klappernden Toneffekte verstärkt – sowie durch die meisterliche Musikuntermalung:
Hans Zimmer sowie die unterstützenden Komponisten Benjamin Wallfisch, Andrew Kawczynski, Steve Mazzaro und Lorne Balfe erschufen einen basslastigen, treibend-bedrohlichen Score, der sich der akustischen Illusion der Shepard-Skala bedient – einer Tonfolge, die zwar bloß eine Wiederholung darstellt, aber so klingt, als würden sich Lautstärke, Tempo und Höhe steigern und steigern und steigern. Verschränkt mit vereinzelten Rückgriffen auf Edward Elgars erschöpft-triumphale "Enigma Variations" ergibt dies einen Soundtrack, bei dem einem der Atem wegbleibt.
Es ist pures, dialogreduziertes Kino, das Nolan auf der Leinwand ausbreitet und das idealerweise auch vor einer möglichst großen bestaunt wird, um die Arbeit von «Interstellar»-Kameramann Hoyte van Hoytema in all ihren Details zu erfassen. Er ist es, der zahlreiche der wichtigsten Filmmomente stemmt, indem er kraftvolle Impressionen der Naturgewalten einfängt, denen sich die Menschen in, über und um Dünkirchen stellen. In leicht ausgebleichten Bildern erzeugt van Hoytema eine eher beklommene Stimmung, statt das Bewundern der Landstriche und Wassermassen zu gestatten. Und das gegen diese verwaschene Farbästhetik wetternde, nahezu schwarzblaue Wasser steigert sich praktisch zum Oberschurken dieses Beinahe-Stummfilms, der die Deutschen wiederum als eine fast ungesehene, dennoch spürbare Bedrohung entwirft.
Doch so erstaunlich Inszenierung, Bildästhetik und Klanggewalt von «Dunkirk» sein mögen, so hypnotisch die Wirkung des messerscharfen Schnitts auch ausfällt: Nolans nunmehr zehnte abendfüllende Regiearbeit ist in erster und letzter Linie ein außergewöhnliches Handwerksstück – ein Modellbeispiel für die Stärke des hochkonzentrierten Gebrauchs filmischer Grundwerkzeuge. Diesem cineastischen Denkmal an eine beispiellose Rettungsaktion mangelt es ausgerechnet an ehrlichem Herzblut. Die Soldaten sind reine Pappkameraden, mit denen es sich einzig und allein mitfiebern lässt, weil sie Alliierte und somit auf der Seite des Guten sind. Die Besatzung des von Oscar-Gewinner Mark Rylance gesteuerten Fischerkutters besteht derweil aus zweidimensionalen Figuren, die sich mehrmals in Klischee-Dilemmata manövrieren.
Es mag zwar eine Erleichterung sein, einen Kriegsfilm ohne die üblichen abgenudelten Phrasen wie "Lasst mich zurück, bringt lieber euch in Sicherheit!", "Kein Mann wird je zurückgelassen!" oder "Wenn ich zuhause bin, mache ich meiner Freundin endlich einen Heiratsantrag!" zu sehen. Allerdings entspricht das Wegkürzen eines Klischees nicht sogleich dem Erschaffen von Tiefe. Zwar lässt sich die mangelnde Dramatik und Mehrdimensionalität in der Figurenzeichnung stellenweise mit der verdichteten Erzählweise erklären, doch zu Lande und auf See verbringt Nolan noch immer viel Zeit der Passivität mit diesen Niemanden an Figuren. Daher lassen sie sich kaum als Maschinenteilchen in diesem minutiös errichteten Kriegsmodell entschulden. Wahlweise hätte Nolan also noch stärker runterkürzen müssen, oder doch einen Hauch mehr Erzählzeit für figurenbildende Momente opfern dürfen, statt sich etwa auf Kenneth Branagh zu verlassen, der einmal als Commander dick auftragend in die Kamera schluchzt.
Zu Luft gelingt Nolan diese Balance: Zwar hat auch Hardys Pilot keine nennenswerte Persönlichkeit, aber während die Schiffsgeschichte und die Soldaten-Storyline immer wieder in ihre jeweilige Kerbe schlagen, hat sein Handlungsfaden eine nennenswerte Struktur – zunächst wird die Tankanzeige des Piloten zerstört, später verliert er jeglichen Funkkontakt. Somit muss er jedes einzelne Luftmanöver im Kampf gegen deutsche Jäger genau abwägen. Hardy vermag es, selbst mit zumeist verdeckter unterer Gesichtshälfte eine Vielzahl an Emotionen zu zeigen und seinen Piloten als empathischen Strategen anzulegen – hier zeigt Nolan ein ausgewogenes Maß an Emotionalität und filmhandwerklicher Technik.
Ist nicht gerade Tom Hard zu sehen, ist «Dunkirk» dagegen eine unpassend kalte Nacherzählung eines Augenblickes, in dem die Empathie zahlreiche junge Männer vor dem Verderben rettete – wenngleich eine handwerklich überaus faszinierende.
Fazit: «Dunkirk» sieht spitze aus, klingt umwerfend, ist clever strukturiert – und trotz seiner triumphalen Geschichte zugleich Christopher Nolans gefühlskälteste Regiearbeit.
«Dunkirk» ist ab dem 27. Juli 2017 in vielen deutschen Kinos zu sehen – in ausgewählten Lichtspielhäusern auch als 70mm-Kopie.
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