Die Kino-Kritiker

«Assassination Nation»: Wütend. Widerspiegelnd. Wuchtig.

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Kino für und über die Generation Snapchat: Die zornige, stylische, scharf beobachtende Satire «Assassination Nation» zeigt Digital Natives in ihrem Alltag und wie dieser durch Leaks ins Schleudern gerät. Vor allem geht es aber darum, was die Generationen Y und Z am meisten plagt ...

Filmfacts: «Assassination Nation»

  • Regie und Darsteller: Sam Levinson
  • Produktion: Manu Gargi, Aaron L. Gilbert, Anita Gou, David S. Goyer, Matthew J. Malek, Kevin Turen
  • Darsteller: Odessa Young, Suki Waterhouse, Hari Nef, Abra, Anika Noni Rose, Colman Domingo, Maude Apatow, Bill Skarsgård, Joel McHale, Bella Thorne
  • Musik: Ian Hultquist
  • Kamera: Marcell Rév
  • Schnitt: Ron Patane
  • Laufzeit: 109 Minuten
  • FSK: ab 16 Jahren
Die erste Staffel der von alltäglichem Schulpsychoterror handelnden Jugend-Dramaserie «Tote Mädchen lügen nicht» und Harmony Korines über vergnügungssüchtige, rebellische Jugendliche referierender Farbrausch «Spring Breakers» haben zusammen ein Kind, das sie mit 4chan großgezogen haben. Eines Nachts schaut es sich im durch drei Liter Energy Drink erzeugten Rausch ein Filmdoppel an, bestehend aus dem dystopischen Thriller-Horroractioner «The Purge: Anarchy» und Bobcat Goldthwaits stinkwütender, spitzzüngiger, pechschwarzer Komödie «God Bless America». Und nach dieser Filmnacht sagt sich dieses Kind: "Gooooil! Das will ich auch." Und so, liebe Leute, muss «Assassination Nation» entstanden sein. Bei alternativen Entstehungsgeschichten muss es sich um infame Lügen handeln …

Wir befinden uns in der Kleinstadt Salem, Massachusetts, Heimat der besten Freundinnen Lily Colson (Odessa Young), Bex (Hari Nef), Em (Abra) und Sarah (Suki Waterhouse). Die ihnen feindlich gesinnte Heimatstadt der vier High-School-Girls, um genauer zu sein. Die ihnen ungeheuerlich feindlich gesinnte Heimatstadt, wenn wir schon dabei sind. Die Einwohner Salems wollen nämlich Blut sehen. Das Blut dieser vier Teenagerinnen. Was dazu führen kann, dass der Zorn einer ganzen Stadt dermaßen hochkocht, dass er sich in Form einer selbstgefälligen Schreckensrevolte mit Mob-Mentalität und Blutdurst entlädt? Es ist so einfach und daher so schaurig: Alles nahm seinen Anfang, als eine anonyme Person diskreditierende Fotos eines ultrakonservativen Lokalpolitikers ins Internet gestellt hat, woraufhin sich die unterschwelligen Anspannungen in Salem intensivierten. Was die vier Mädels damit zu tun haben? Das wüssten sie wohl selber gerne …

Die Internetleaks lösen in Salem moralische, gesellschaftliche und interpersonelle Debatten aus. So diskutieren die vier Freundinnen darüber, wie sie zum nun in aller Öffentlichkeit mit Schimpf und Schande verachteten, erzkonservativen Politiker Bartlett (Cullen Moss) stehen sollen. Zur Verwunderung ihrer Besties hat Bex keinerlei Empathie für Bartlett über, dessen Leben durch pikante Fotos zerstört wurde: Politiker wie er hätten Bex und anderen Transgendern, sowie weiteren Mitgliedern der LGBTQ+-Community, nur Ärger bereitet. Wenn Bartlett, selbst wenn er hinter verschlossenen Türen nichts mit seinem politischen Ich gemein hat, ihr das Leben zur Hölle gemacht hat, wieso sollte Bex nun schlagartig Mitgefühl empfinden, nur weil auch er in die Ungnade verkrampfter Puritaner gefallen ist?

Nach den Bartlett-Leaks setzen sich die Mechanismen des Zorns, der gesellschaftlichen Unruhe und des Unfriedens zwischen verschiedenen sozialen Milieus zügiger in Bewegung – selbst wenn sich die Veränderungen zunächst nur im Hintergrund abspielen. Aber sie sind spürbar. Lily und ihre Eltern zanken sich darüber, ob die nächste Runde an Leaks, die eine stadtbekannte Person betreffen, sie als pervers und gefährlich enthüllen – oder ob Salem doch nur darauf wartet, diesem Menschen etwas vorzuwerfen. Und in der Schule gießen die Leaks Öl in bereits bestehende, zwischenmenschliche Feuer. Nein, das Internet hat Mobbing, Stalking und emotionale Abkapslung nicht erfunden – aber es ist ein mächtiges Werkzeug, das sich für Gutes ebenso nutzen lässt wie für Schädliches. Und unsere Heldinnen haben null Verständnis dafür, wieso sich ausgerechnet die, die keine Digital Natives sind, so sehr der Hass schürenden Macht des Webs öffnen …

Diesem Unverständnis, das die Protagonistinnen in «Assassination Nation» plagt, verleiht Sam Levinson mit gewaltigem Nachhall in der Tonspur seines Films Ausdruck: Die Bässe wummern so fett, dass es den Kinosesseln den Staub wegbläst und stählern-spitze, elektrische Höhe schnipsen sich vehement in die Gehörgänge des Publikums. Es ist ein dissonantes Tonspektrum, ein entrücktes, eines, dem es förmlich anzumerken ist, wie es über steifes Schubladendenken den Kopf schüttelt. Der Soundtrack ist zum Bersten voll mit Alternative R&B, Synthpop, herben Electronic-Nummern, Chamber pop, Trip hop, avant-pop und was es noch alles für non-mainstreamige, kantige Genres gibt, zu denen experimentierfreudige, jüngere Millennials oder Mitglieder der Nachfolgegeneration tendieren. Und eine Handvoll zurück gerichteter, musikalischer Hommagen gibt es selbstredend auch zu hören, etwa "Violenza Inattesa" von Ennio Morricone, denn was wären die Generation Y und Z ohne popkulturelle Referenzen?

Wenn keine Archivmusik aus den Lautsprechern dröhnt, erzeugt Komponist Ian Hultquist («The Diabolical – Das Böse ist überall») minimalistische, jedoch nicht minder sperrig zwischen kalt-distanziert und brenzlig-aggressiv, brummend und schneidig changierende Klangfolgen. «Assassination Nation» spricht die Sprache einer Teilgeneration, den im Web groß gewordenen, aufgeschlossenen, aber verletzlichen Individuen, denen für alles die Schuld zugeschoben wird. Und das ist nicht nur im übertragenen Sinne gemeint: Levinsons Skript spricht wirklich eine moderne Sprache. Ähnlich, wie «American Honey» den Soziolekt einfängt, den sich ausgerissene, junge Erwachsene aus Brennpunktmilieus aneignen, ist «Assassination Nation» eine imponierende Zeitkapsel des gegenwärtigen Social-Media-Jugendsprechs. Levinson überzieht es nicht.

Er lässt seine Protagonistinnen Codes switchen, wenn sie sich mit älteren, weniger webaffinen oder schlicht altmodischer gearteten Mitmenschen verständigen. Und auch untereinander hauen sie sich nicht am laufenden Band Schlagwörter um die Ohren – denn Jugendsprache ist eben nicht wie eine tief ländliche Mundart eine nahezu selbstständige Sprache, sondern eben eine von Eigenheiten geprägte Umfärbung des Alltagssprechs. Levinson versteht das und versetzt die Gespräche der Hauptfiguren mit Teenieslang, Web-Begriffen sowie alltäglich gewordenen, medienbezogenen Floskeln wie "Wenn das hier ein Film wäre …" und legt den Figuren zudem einen zügigen Teenieduktus in den Mund, ohne je die Grenze zur Persiflage zu erreichen.

Was Levinson klanglich sowie auf Dialogebene leistet, übertrifft er visuell nochmal enorm. «Assassination Nation» ist zweifelsohne "der meiste Film 2018" sowie "der 2018igste Film des Jahres": Als probiere Kameramann Marcell Rév immer neue Instagram-Filter aus, ist «Assassination Nation» in ständig neue Töne getaucht – zwischenzeitlich auch in Rosa, Lila und Blau, dem in jüngster Vergangenheit so populär gewordenen, sogenannten Bisexuellen Licht. Die Kamera schwebt ungehalten durch die entweder krass überbelichteten oder alternativ unterbelichteten Schauplätze, während einer Party wird das Bild über längere Zeit in drei parallel ablaufende Abschnitte im Hochkant-Format geteilt. Immer wieder drängen sich Bildschirminhalte in das Sichtfeld. Und wenn das fragile Teenie-Leben einer Schülerin durch Verrat, Internet-Leaks und Untreue in die Brüche geht, stellt sich die Kamera während einer langsamen Zoom-Fahrt auf den Kopf. An anderer Stelle pausiert der frenetische Stil dagegen, um kurz eine minutiös durchgeplante Slasherfilm-Sequenz zu initiieren, in der wir von draußen die Fenster eines Hauses entlanggleiten, in dem die Hölle ausbricht.

«Assassination Nation» ist bunt. Aufgedreht. Überdreht. Unruhig. Volles Rohr und auf die Fresse. Ein stilistisch intensiver Film, Kino für Generation Snapchat. Sowie für alle, die sie verstehen wollen. Und doch so, so filmisch: Keine wahl- und haltlos aneinandergereihten, so bedauernswert-verzweifelten Anbiederungen an eine Bevölkerungsschicht, die dem Lichtspielhaus den Rücken zugekehrt hat. Levinson kreiert ein intensives, inhaltlich und formal durchchoreografiertes Videogemälde über die Sorgen der späten Generation Y und der am Smartphone klebenden Generation Z, spricht zu ihnen und spiegelt deren Ästhetik sowie deren Lebenswelt. Nicht zum bloßen Zweck der stilistischen Fingerübung, sondern um mit voller filmischer Gewalt die Gesellschaft für ihre Doppelzüngigkeit anzuklagen.

Denn «Assassination Nation» ist zugleich eine authentische, schonungslose Bestandsaufnahme wie eine derbe Übertreibung: So wie Lily, Bex, Em und Sarah reden (längst nicht alle, wohl aber viele) Jugendliche. So wie sie gehen sie mit Social Media um. So wie sie diskutieren sie untereinander – wild durcheinander, und gleichzeitig durch diverse Ablenkungen leicht distanziert. So weit der Zeitkapsel-Teil, der um ein wütendes, satirisches Element ergänzt wird. Denn so wie die Protagonistinnen haben Teenies Störfaktoren geerbt, die sie nicht verdient haben. Das Internet und die innere Haltung der Digital Natives soll das Problem sein, wie es unausgesprochen über lange Zeit im Raum steht? Falsch. Spätestens nach einer Zäsur innerhalb des «Assassination Nation»-Plots, sollte es deutlich werden. Aus dem Hang-Out-Movie, in dem wir mit schlagfertigen Girlies rumhängen, mit ihnen lachen und mit ihnen den Kopf schütteln, wird eine gepfefferte, von gesellschaftlichen Tendenzen eingeschüchterte, zornige Satire darüber, dass der Jugend von Heute eine verlogene Welt vermacht wurde und Eltern sowie Großeltern verlangen, dass die Teens ohne zu Murren den Preis bezahlen.

Levinson stellt «Assassination Nation» auf den Kopf, kehrt innen nach außen, sobald dieses Thema aus dem Hintergrund ins Rampenlicht überquillt. Was inhaltlich so wahr und inszenatorisch so dick aufgetragen war, ist nun ästhetisch und klanglich etwas gesitteter, porträtiert aber nicht mehr das Heute, sondern im «The Purge»-Stil ein (hoffentlich doch nicht) mögliches Übermorgen. Das Amerika, das sich Trump-Wähler als 'great again' vorstellen. Eine Welt, in der tumbe, privilegierte Typen offen Jagd auf weltoffene, junge Frauen machen, weil … darum. Die "Bitches" sollen ihnen das Land zurückgeben, das sie nie an sich reißen konnten – aber wen interessieren schon Fakten?

Odessa Young, Suki Waterhouse, Hari Nef und Abra meistern den erzählerischen und tonalen Dreh des Films, legen den naturalistischen Stil ab, werden kecker, aber auch genehmer. Sie ziehen verängstigt, verständnislos und aufgebracht noch mehr Empathie auf sich als zuvor und verdeutlichen so: Nein! Lang genug haben Frauen, Jugendliche, Unterrepräsentierte und Aufgeschlossene den Sündenbock gespielt. Sie haben der doppelzüngigen Masse das Land niemals weggenommen, aber vielleicht wäre es ja endlich an der Zeit …

Die Hauptfiguren in «Assassination Nation» haben die Nase gestrichen voll davon, dafür abgestraft zu werden, dass sie die Regeln nicht nachvollziehen können, die frühere Generationen sich selber gestellt und dann geflissentlich ignoriert haben. Das ist das wahre Problem der Millennials und der Nachfolgegeneration, nicht das Internet – so das Argument Levinsons, das er mit Nachdruck ausführt, selbst wenn er in den allerletzten Augenblicken seine lodernde Inbrunst behäbig lindert.

So satirisch-überhöht und stilistisch verzerrt «Assassination Nation» sein mag, ist der Film keinesfalls flach oder argumentativ einseitig. Er skizziert nicht alle Mitglieder der Generationen Y und Z gleich, selbst innerhalb des fokussierten Figurenspektrums lässt er Raum für Abstufungen. Des Internetspeaks. Der Tendenz zur digitalen Selbstdarstellung. Der sexuellen Freiheit. Der Lust an Provokation oder eben doch an Konformität. Und so groß der Nachdruck ist, mit dem «Assassination Nation» die politische Rechte abstraft, gibt es Bereiche, wo er dem Publikum Raum lässt, nur mit Abstrichen den Argumenten der Protagonistinnen beizupflichten.

Lily und Co. sind nicht unfehlbar, «Assassination Nation» reiht nicht ein Strohmannargument an das andere. Und der Film gestattet sich auch Querschüsse in Richtung der vermeintlich eigenen Reihen. Kurz nach Filmbeginn erfolgt eine Triggerwarnung. Unterlegt mit lauten, quälenden Geräuschen. Während in fetten Großbuchstaben nicht nur die Themen eingeblendet werden, die im Laufe der nachfolgenden Filmminuten empfindliche Seelen triggern könnten. Es werden dazu passende Ausschnitte eingeblendet. Was den Sinn der Triggerwarnungen praktisch auslöscht. Ein markiger Schritt. Ein frecher Auftakt. Ein lautes, schrilles Statement – und unter dieser grellen Oberfläche schlummert ein komplexer Gedankenanstoß. Es ist der perfekte Auftakt zu «Assassination Nation» und es fasst den Film so markant, so treffend zusammen, dass eigentlich nichts Weiteres über ihn gesagt werden müsste.

Fazit: «Assassination Nation» ist ein scharf beobachtetes Porträt einer Teilgeneration, das sich ihr stilistisch vollauf hingibt – und nach und nach zu einer zornigen Satire wird, die oberflächlich die gefährlichen Tendenzen der sozialen Netzwerke auseinandernimmt. Aber das wahre Ziel dieser Satire ist die Doppelmoral der Vorgängergenerationen: «Assassination Nation» argumentiert komplex sowie intensiv – und stellt seinem jungen Publikum den Benzinkanister sowie eine Packung Streichhölzer hin. Doppelzünger des Westens, fürchtet euch.

«Assassination Nation» ist ab dem 15. November 2018 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

Zusammen mit Universum Film verlosen wir vier Freikarten zum Film. Wenn ihr eine Chance auf die Tickets haben wollt, schickt bis zum 18.11.2018, 23.59 Uhr MEZ an gewinnen@quotenmeter.de unter dem Betreff "AN" eure Top drei Musikgenres. Viel Erfolg!

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