Die Kino-Kritiker

«Glass»: M. Night Shyamalans Besuch einer Comic-Psychiatrie

von   |  2 Kommentare

Nach «Unbreakable» und «Split» besucht M. Night Shyamalan erneut sein mühselig entworfenes Filmuniversum voller Menschen, die glauben, sie seien "mehr".

Die Drei-Akte-Superhelden-Trilogie, die zum Filmuniversum wurde?


Filmfacts «Glass»

  • Regie und Drehbuch: M. Night Shyamalan
  • Darsteller: James McAvoy, Bruce Willis, Anya Taylor-Joy, Sarah Paulson, Samuel L. Jackson
  • Produktion: Jason Blum, M. Night Shyamalan, Marc Bienstock, Ashwin Rajan
  • Musik: West Dylan Thordson
  • Kamera: Mike Gioulakis
  • Schnitt: Luke Ciarrocchi, Renaldo Kell
  • Laufzeit: 129 Minuten
  • FSK: ab 16 Jahren
Lange hat es gedauert, sehr lange hat es gedauert: Als M. Night Shyamalan im Jahr 2000 mit «Unbreakable» seinen ersten Film nach dem Sensationserfolg «Sixth Sense» heraus gebracht hat, plante der Regisseur und Drehbuchautor große Dinge. Denn der Mystery-Thriller über einen Mann, der als Einziger ein schweres Zugunglück überstanden hat, stellte sich im Laufe seiner 106 Minuten Laufzeit sukzessive als dramatische, geerdete Revision typischer Comicmotive heraus. Shyamalans Meisterplan war es, den klassischen ersten Akt einer Superhelden-Ursprungsgeschichte auf die Länge eines einzelnen Filmes auszudehnen und dies konsequent zu einer Trilogie auszubauen.

Doch es sollte anders kommen: Obwohl «Unbreakable» mit 248,1 Millionen Dollar Einnahmen (bei einem Budget von 75 Millionen Dollar) zweifelsohne einen Erfolg darstellte, schnitt der Film des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Disney-Erwachsenenlabels Touchstone Pictures unterhalb der immensen Studioerwartungen ab. Der Einzelfilm, der den zweiten Akt einer Superhelden-Ursprungsgeschichte auf Shyamalans Weise neuinterpretiert, schien somit gestorben, ebenso wie der dritte Part dieser Trilogie.

Aber Shyamalan hielt über die Jahre an seinem Traum fest, eine «Unbreakable»-Trilogie zu errichten. Egal, welche Höhen (etwa: «Signs») oder Tiefen (etwa: «Das Mädchen aus dem Wasser») seine Karriere gerade durchlief: Wenn die Presse oder Fans ihn danach gefragt haben, versprach Shyamalan, in dieses Filmuniversum zurückzukehren oder zur Not einst verworfene Ideen für die «Unbreakable»-Saga an anderer Stelle neu aufzubereiten. Und so gelang es dem Filmemacher, eines der größten Geheimnisse seiner Karriere dort zu verstecken, wo es jeder hätte sehen können. Denn als er 2016 mit «Split» einen neuen Mystery-Thriller veröffentlichte, überrumpelte er das Publikum mit einer geschickt eingefädelten Wende: Gegen Schluss des Films entpuppte sich der als Psychohorror vermarktete Film als heimlicher «Unbreakable»-Ableger, der somit ebenfalls in einer Art pseudo-realistischem Comicuniversum spielt.

Ein starker Coup, der Shyamalan da gelang. Nicht nur, weil praktisch niemand damit rechnete, dass «Split» das Gegenstück zu «Unbreakable» ist, und er nach über einem Jahrzehnt endlich den Filmnachfolger ablieferte, von dem er so lange geschwärmt hat. Er navigierte zudem, nach eigenen Aussagen völlig mühelos, die sonst so stürmischen Gewässer der Hollywood-Rechtefragen. Denn anders als «Unbreakable» wurde «Split» von Blumhouse Productions und Disneys erbitterten Konkurrenten Universal Pictures verantwortet, so dass er den Disney-Konzern dazu bringen musste, einzuwilligen, eine "seiner" Figuren für den Universal-Film «Split» freizugeben. Und daraufhin galt es, für «Glass», das Crossover zwischen «Unbreakable» und «Split», beide Konzerne zusammenzubringen.

Laut Shyamalan war dies jedoch keine schwere Aufgabe und ließ sich durch einen lachhaft kurzen Pitch über die Bühne bringen. Auch die Geschäftsaufteilung verlief frei von Komplikationen: Universal übernimmt den Verleih des Films in den USA und Kanada, Disney im Rest der Welt. Da der Mäusekonzern das Label Touchstone Pictures so gut wie eingemottet hat, wird stattdessen das ebenfalls kaum noch genutzte Label Buena Vista International ausgegraben (die Beweggründe, weshalb das eine Logo im Archiv bleibt und das andere so prominent genutzt wie schon lange nicht mehr, bleiben ein Mysterium für sich), und fertig ist die Shyamalan-Version eines «Avengers»-Crossover-Events. Oder doch nicht?

Geerdet und doch überhöht


Gewiss, Shyamalan musste seinen ursprünglichen Plan anpassen. Was vor der immer bombastischere Filme ergebenden Schwemme an Superheldenfilmen als stark geerdete Akt-für-Akt-für-Akt-Filmtrilogie begann, wurde 2016 nicht mit Akt zwei fortgeführt. Aus der «Unbreakable»-Trilogie wurde das «Eastrail 177»-Franchise, einem zusammenhängenden Filmuniversum, das mit dem Solofilm eines starken Helden begann und daraufhin mit dem Solofilm eines psychisch gestörten, ebenfalls muskulösen Schurken eine Fortsetzung erhielt. «Glass» mag nun so gesehen das Crossover sein, in dem Figuren aus «Unbreakable» und Figuren aus «Split» aufeinandertreffen. Und dennoch ist «Glass» nicht einfach Shyamalans Spielvariante eines Superhelden-Actiondauerfeuerwerks wie «Avengers | Infinity War».

Der Filmschaffende bleibt sich stattdessen (trotz des Budgetsprungs von neun Millionen Dollar für «Split» auf nun 20 Millionen Dollar) bei «Glass» vollauf treu. Wir reden hier von dem Mann, dessen Geisterfilm zu weiten Teilen aus Therapiegesprächen besteht und dessen erster Superheldenfilm vornehmlich zeigt, wie ein Mann grübelt. Shyamalan ist jemand, der in der höchsten Popularitätsphase seiner Karriere einen Alien-Invasionsfilm gedreht hat, der primär davon handelt, wie eine Familie auf ihrer Farm Paranoia schiebt, und dessen Idee eines (B-Movie-)Katastrophenfilms so aussieht, dass Menschen vor dem Wind fliehen. Shyamalan ist kein Regisseur, der Spektakel zelebriert. Filmfans, die tatsächlich davon ausgehen, dass sich David Dunn (Bruce Willis) und Kevin Wendell Crumb alias "Die Horde" (James McAvoy) 128 Minuten lang die Köpfe einschlagen, hat erstens ein sehr unerklärliches Verständnis dessen, was Shyamalan so treibt, und wird zweitens vom Film herbe enttäuscht.

Stattdessen dreht sich der Löwenanteil von «Glass» darum, dass die Psychiaterin Dr. Ellie Staple («American Horror Story»-Größe Sarah Paulson) versucht, dahinter zu steigen, ob eine Wahnvorstellung um sich greift: Was führt dazu, dass Dunn, Crumb und Ex-Comicbuchverkäufer Elijah Price (Samuel L. Jackson) felsenfest davon überzeugt sind, Superhelden beziehungsweise Superschurken zu sein? Dies erzählt Shyamalan in der für ihn markanten Gemächlichkeit: «Glass» ist ein Slowburner mit langen Bildeinstellungen und Figuren, die sich in langsam entfaltenden Dialogen unterhalten, die voll und ganz Shyamalans gewohnter Schreibfeder entsprechen. Egal, ob es sich um den hoch intelligenten, sich gewählt ausdrückenden, psychopathischen Comicbuchfan Price handelt, den wortkargen Sicherheitstechniker Dunn oder irgenwen, der zwischen ihnen einzuordnen ist: Die Figuren in «Glass» reden wie gedruckt, sie baden selbstbewusst in Pathos und kosten jedes Wort, das sie von sich geben, voll aus, so als würden sie gerade ein wichtiges, gut vorbereitetes Referat halten.

Auch visuell zieht «Glass» diesen "Irgendwie bodenständig, irgendwie comichaft"-Spagat vollauf durch. Shyamalan und sein Kameramann Mike Gioulakis («It Follows») fangen die maroden, trivialen Schauplätze von «Glass» (verlassene Fabrikgebäude, heruntergekommene Unterführungen, eine spartanisch eingerichtete Nervenheilanstalt …) in gesättigten Bildern ein und geben dem Geschehen eine Farbkodierung. Dreht sich eine Szene primär um Dunn, dominieren Grüntöne. Diese in der Farbpsychologie unter anderem als vital gedeutete Farbe unterstreicht, dass Dunn Leben bewahrt. Zudem wird Dunns Erkennungsfarbe in «Glass» bevorzugt mit Blau und Weiß kombiniert, wodurch Grün zusätzlich als hilfsbereit, ausdauernd und tolerant gedeutet wird.

Jacksons Price dagegen trägt nicht nur Lila, auch "seine" Szenen sind von diesem Farbton durchzogen, um zu verstärken, wie majestätisch und adelig er sich selber betrachtet. Bricht 'Die Bestie' aus McAvoys Figur aus, tüncht Shyamalan die Bilder derweil in Ocker und Senfgelb, was der Regisseur mit religiösen Zeremonien assoziiert, wodurch er unterstreichen will, wie sehr sich diese Figur als Priester sieht, der verletzte Seelen beschützen möchte.




Darüber hinaus spielt Shyamalan mit der Farbästhetik seines Films, indem er die Bilder immer dann ausbleicht, wenn Price, Dunn und Crumb an sich selber zweifeln oder Figuren im Fokus stehen, die nicht an deren Selbstsicht als comicbuchhafte Wesen glauben. Aufgewogen wird diese mit Bedeutung beladene, zumeist galant-entschleunigte Bildsprache durch eine etwas steife Schnittarbeit: Die Cutter Luke Ciarrocchi und Blu Murray lassen manch desorientierende Schnittfolgen zu, selbst wenn die Narrative nicht danach ruft, und lassen manche Szenen länger atmen als es ihnen gut tut. Es wirkt mitunter so, als wollten sie oder Shyamalan dem Publikum eine Denkpause gestatten, obwohl das Geschehen selbsterklärend ist.

Musikalisch dagegen ist «Split»-Komponist West Dylan Thordson eine denkwürdige, nahtlose Verquickung aus den beiden «Glass»-Vorgängerwerken gelungen: Seine Filmmusik erzeugt mit ihrer komplexen Mischung aus zerbrechlichen Melodien und frenetischen Rythmen eine sonderbare Sogwirkung und mischt die Stilistiken von «Split» und «Unbreakable» zu einer neuen Klangwelt zusammen.

Gute Performances, wenig Herz, stilistisch zielstrebig


Shyamalan holt nicht nur die Figuren aus «Unbreakable» zurück, sondern auch den engagierten Bruce Willis: Als nachdenklicher, dauergeknickter Vigilante, der gerne glauben möchte, dass er so viel mehr ist, gibt Willis eine ruhige, verletzliche Darbietung ab. Jackson verleiht seiner Rolle, die unter einer umgangssprachlich Glasknochenkrankheit genannten Behinderung leidet, eine genüssliche Arroganz und McAvoy perfektioniert, was er in «Split» begonnen hat, indem er die multiplen Persönlichkeiten seiner Rolle mit Gestus und Stimme ausfüllt und enormen Schmerz rüberbringt, wann immer sie miteinander ringen. Sarah Paulson aber überbietet sie alle: Als Dr. Staple führt sie mit kühlem Nachdruck Zwiegespräche, lässt aber immer wieder Augenblicke der Empathie oder Verzweiflung durchschimmern, indem sie für Millisekunden die Mundwinkel verzieht oder die Augen aufflackern lässt.

Charlayne Woodard als Prices Mutter, Anya Taylor-Joy als «Split»-Veteranin Casey Cooke und «Unbreakable»-Rückkehrer Spencer Treat Clark bekommen vom Skript derweil wenig an die Hand geliefert, was «Glass» stets dann schadet, wenn Shyamalan eine Szene darauf stützt, dass wir mit diesen Figuren mitfühlen. Während die emotionale Stütze von «Glass» daher brüchig ist, ist Shyamalan konsequent darin, den formalen Überbau durchzuziehen: Er zieht große Suspense daraus, ob die Figuren Staple glauben sollten oder die These, sie seien Comicbuchfiguren, stimmt. Er generiert Spannung daraus, ob «Glass» eher in einer der uns gleichenden Welt oder einer überhöhten Superheldenwelt spielt, und daraus, welche narrative Struktur er hier emuliert. Genrekommentare lässt Shyamalan dabei allerdings weitestgehend aus.

Ihm geht es nicht darum, mit «Glass» über ein Genre zu referieren, das sich seit «Unbreakable» in neue Sphären katapultiert hat. Diese Filmreihe, so sehr sie sich aufgrund der verzögerten Produktionsgeschichte anpassen musste, ist weiterhin mit sich selbst beschäftigt. Und der thematische Schwerpunkt von «Glass» liegt deswegen konsequent darin, in welchem Umfeld sich die Hauptfiguren dieser Erzählung befinden und was sie weshalb daraus machen (sollten). Shyamalans Erkenntnisse und Hypothesen sind längst nicht so profund und komplex, wie es dem Duktus, in dem er «Glass» zuweilen erzählt, angemessen wäre. Betrachtet man «Glass» jedoch als tonales/stilistisches Experiment, besteht die Chance, dass man Shyamalan seine Twists, Antäuschungen und Offensichtlichkeiten leichter verzeiht. Und rein strukturell ist die «Eastrail 177»-Saga zweifelsohne ein faszinierendes Hollywood-Kuriosum.

«Glass» ist ab dem 17. Januar 2019 in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Kurz-URL: qmde.de/106536
Finde ich...
super
schade
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelNeues Staffeltief für «Manifest» und gelungener Start für die neue Drama-Serie «The Passage»nächster ArtikelDiscovery gräbt «Extreme Makeover: Home Edition» aus
Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Aries
16.01.2019 07:53 Uhr 1
Schade, dass die US Kritiker samt und sonders es komplett anders sehen und den Film verreißen. Ich verstehe es nicht.
Sentinel2003
16.01.2019 14:18 Uhr 2
Ich habe mich in den letzten Jahren immer gewundert, warum es von Touchstone Pictures keine Filme mehr gibt....sehr merkwürdig....
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Fabian Riedner

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung