Die Kino-Kritiker

Eine «Deutschstunde» von Kinoformat

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Es ist nicht das erste Mal, dass Siegfried Lenz‘ «Deutschstunde» verfilmt wird. Aber es ist vielleicht das erste Mal, dass man sich auch noch viele Jahre später daran erinnern wird.

Filmfacts: «Deutschstunde»

  • Start: 3. Oktober 2019
  • Genre: Drama
  • FSK: 12
  • Laufzeit: 130 Min.
  • Kamera: Frank Lamm
  • Musik: Lorenz Dangel
  • Buch: Heide Schwochow
  • Regie: Christian Schwochow
  • Darsteller: Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Levi Eisenblätter, Johanna Wokalek, Sonja Richter, Maria Dragus, Louis Hofmann
  • OT: Deutschstunde (DE 2019)
Der Filmtitel «Deutschstunde» passt im Falle von Christian Schwochows nunmehr sechster Langfilmregiearbeit gleich im doppelten Sinne. Zum einen ist der gleichnamige Roman von Siegfried Lenz gern genommene Schullektüre, zum anderen ist die darin erzählte Geschichte aber auch eine Veranschaulichung deutscher Geschichte, die heute – ganze 53 Jahre nach ihrer Veröffentlichung – noch einmal eine ganz andere Dringlichkeit besitzt, als damals nur zwei Jahrzehnte nach dem Nationalsozialismus. Denn natürlich kann man sich darüber echauffieren, vielleicht sogar amüsieren, dass das deutsche Dramakino gern die finstersten Jahre der Weltgeschichte zum Anlass nimmt, um anhand derer Geschichten zu erzählen. Doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass der affektive Ausruf, es sei nun aber auch langsam mal gut mit Weltkriegsdramen, leider eben doch nicht (mehr) so einfach getätigt werden kann. Denn offenbar muss einen ja auch die Filmgeschichte permanent daran erinnern, dass sich solche Dinge wie einst auf keinen Fall wiederholen dürfen – und trotzdem war die Welt noch nie so kurz davor, dass eben genau das passiert.

Schwochow verleiht seiner «Deutschstunde» somit gleichermaßen einen insbesondere technisch modernisierten Anstrich, lässt erzählerisch aber gezielte Leerstellen, die dafür sorgen, dass die Ereignisse im Film plötzlich wieder brandaktuell wirken.

Deutschland, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.


Der Jugendliche Siggi Jepsen (Tom Gronau) muss in einer Strafanstalt einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Er findet keinen Anfang, das Blatt bleibt leer. Als er die Aufgabe am nächsten Tag nachholen muss, diesmal zur Strafe in einer Zelle, schreibt er wie besessen seine Erinnerungen auf. Erinnerungen an seinen Vater Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen), der als Polizist zu den Autoritäten in einem kleinen norddeutschen Dorf zählte und den Pflichten seines Amtes rückhaltlos ergeben war. Während des Zweiten Weltkriegs muss er seinem Jugendfreund, dem expressionistischen Künstler Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti), ein Malverbot überbringen, das die Nationalsozialisten gegen ihn verhängt haben. Er überwacht es penibel, und Siggi (Levi Eisenblätter), elf Jahre alt, soll ihm helfen. Doch Nansen widersetzt sich – und baut ebenfalls auf die Hilfe von Siggi, der für ihn wie ein Sohn ist. Der Konflikt zwischen den beiden Männern spitzt sich immer weiter zu – und Siggi steht zwischen ihnen. Anpassung oder Widerstand? Diese Frage wird für Siggi entscheidend…



«Deutschstunde» erzählte zwar schon immer eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg (respektive kurz danach, wenn man die Handlungsklammer in der Strafanstalt berücksichtigt), verortete die Geschehnisse allerdings nie direkt an die Front oder ins unmittelbare Umfeld der Kriegsereignisse. Ja, fast gewinnt man im Laufe der üppigen 130 Minuten sogar den Eindruck, die Bewohner hier in diesem kleinen, beschaulichen Dorf in Norddeutschland hätten so weit weg vom Geschehen kaum etwas zu befürchten; Hakenkreuze oder andere Indizien für die Nazi-Herrschaft bekommt man in «Deutschstunde» erst gar nicht zu sehen. Darüber hinaus erleben wir die Geschichte ja auch noch aus den Augen eines Elfjährigen, der viele der unterschwellig bedrohlichen Auswüchse des Dritten Reichs gar nicht versteht und Zusammenhänge nicht so selbstverständlich erfassen kann, wie der Zuschauer im Kinosaal.

Wie bedrückend bedrohlich die Situation jedoch schon für den Kleinsten der Jepsen-Familie ist, zeigt sich, als er sich gewissermaßen zwischen seiner Familie und einem einst engen Familienfreund entscheiden muss: Sein Vater Ole verhängt ein Malverbot an seinen Vertrauten und Künstler Max und betraut seinen Sohn auch noch damit, diesen im Auge zu behalten, um ihn im Falle der Widersetzung an seinen Vater zu verraten. Diesen inneren Zwiespalt zwischen aufopferungsvoller Vaterliebe und der Zuneigung zu Max, einhergehend mit dem Wissen um Recht und Gerechtigkeit, bringt der Nachwuchsdarsteller Levi Eisenblätter («SMS für Dich») hervorragend zum Ausdruck und wird trotz seines jungen Alters zur Identifikationsfigur für das Publikum, indem er es mit der Frage konfrontiert, wie es in seiner Situation wohl gehandelt hätte.

Der schönste (!) deutsche Film des Jahres


Wie schon im Roman ist das Verfolgen eines blinden Gehorsams im Zuge falschverstandener Loyalität („Wir hatten ja keine Wahl!“) in «Deutschstunde» nicht bloß Auswuchs des Nationalsozialismus. Regisseur Christian Schwochow («Paula») und die Drehbuchautorin Heide Schwochow nutzen die Veranschaulichung desselben als Einblick in finsterste menschliche Abgründe, in denen Familienväter gewillt sind, ihre Kinder zu misshandeln oder sogar ihren Tod in Kauf nehmen, weil es das System so verlangt. Gleichwohl ist «Deutschstunde» keine reine Versuchsanordnung, in dessen Folge man darauf wartet, wann die Lage denn nun endlich eskaliert. Schwochow inszeniert seine Geschichte in erster Linie als Familientragödie, anhand derer sich die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges sehr subtil veranschaulichen lassen. Am Ende ist es nämlich dann doch egal, wie weit weg vom Geschehen sich Siggi und seine Familie hier befinden, das Grauen weiß sich seinen Weg auch so zu bahnen.

Ulrich Noethen («Das Tagebuch der Anne Frank») mimt im Falle von «Deutschstunde» die Personifizierung ebenjenen Grauens, der in seinem regelrecht manischen Erfüllungswillen blinden Gehorsams jedwede Menschlichkeit verliert; eine der besten deutschen Schauspielleistungen des Jahres, der Tobias Moretti («Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm») als stumm aufbegehrender und letztlich doch gefangener Künstler Max Ludwig Nansen einen nicht minder kraftvolle Performance entgegensetzt. Sonja Richter («The Homesman») und Johanna Wokalek («Wuff») als zum Zuschauen verdammte Gattinnen der beiden Männer lassen sich derweil längst nicht nur aufs Leiden beschränken, sondern machen aus ihren Nebenrollen ambivalente Charaktere, irgendwo zwischen Opfer der Umstände und resoluten Rebellinnen.

Wurde die erste Filmadaption von «Deutschstunde» Anfang der Siebzigerjahre noch als Zweiteiler fürs Fernsehen konzipiert, ging Christian Schwochow einen sichtbar selbstbewussten Weg über Kinoveröffentlichung. Und hier gehört das gut zweistündige Filmdrama auch hin, denn Kameramann Frank Lamm («Jugend ohne Gott») kreiert von der aller ersten Szene am Nordseestrand Panoramen, die in ihrer rauen Schönheit keinen größeren Kontrast zu den Gräueltaten der Nazis abgeben könnten. Am liebsten möchte man stundenlang in den endlosen Weiten des Watts schwelgen – und hat dazu auch gerade in der ersten Hälfte vielfach Gelegenheit, da sich Schwochow an ein äußerst gemäßigtes, zunächst viel Sitzfleisch einforderndes Tempo hält. Und auch die eigentliche Rahmenhandlung rund um Siggis Aufenthalt in der Strafanstalt hätte es nicht zwingend gebraucht. Doch selbst dann als die Handlung an Fahrt aufnimmt, nimmt sich der Filmemacher immer wieder die Zeit heraus, hinter «Deutschstunde» das Ausrufezeichen der unbedingt notwendigen Kinoauswertung zu setzen.

Zumindest anhand dieses Beispiels braucht sich Lamm vor internationalen Kollegen wie Roger Deakins nicht zu verstecken. Einhergehend mit der üppigen Bildpracht beeindruckt zudem die Tonspur, auf der sich die Kompositionen von Lorenz Dangel («Ich und Kaminski») bemerkenswert in den Hintergrund der aus Naturgeräuschen bestehenden Soundkulisse stellen. Eigentlich wäre ein Film wie «Deutschstunde» in seinen dramatischen Momenten wie geschaffen dafür, das Leid der Figuren mit einem dramatischen Score nochmal ganz besonders zu unterstreichen. Doch Christian Schwochow lässt das Grauen ganz einfach für sich sprechen – etwas, von dem sich viele andere, gerade deutsche Filmemacher eine Scheibe von abschneiden dürfen.

Fazit


Die künftigen Generationen von Schulklassen sind zu beneiden, erhalten sie doch mit «Deutschstunde» die Verfilmung einer Pflichtlektüre, die nicht nur das Thema zeitgemäß aufgreift und weiterdenkt, sondern auch mit einer herausragenden Inszenierung aufwarten kann.

«Deutschstunde» ist ab dem 3. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen.

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