
All das wiederum führt dazu, dass die kreativ Verantwortlichen ihren „Antihelden“ zum Ende hin schlimme Dinge so explizit wie möglich tun und sagen lassen, um den Zuschauerinnen und Zuschauern in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, wie bereitwillig sie sich haben manipulieren lassen. Es kommt zu einem echten Bruch, zu einem Moment, der diejenigen, die dieser Szenerie beiwohnen, zwingt, „aufzuwachen“. Und obwohl dieser Moment in der Vorlage theoretisch ebenfalls existiert, hatte er dort jedoch aus oben genannten Gründen bei Weitem nicht denselben Effekt. Musste er aber auch nicht, da – wie beschrieben – sich schon nach der Lektüre der ersten Seiten kaum jemand mehr finden wird, der mit Joe Goldberg sympathisiert.

Aber wieso das Feld von hinten aufrollen, wenn es sich gerade zu Beginn entscheidet, ob man abermals gewillt ist, in Joseph Goldbergs Psyche einzutauchen. Um nicht redundant zu werden und weil im Zentrum dieser Besprechung selbstverständlich die Serienumsetzung, die diesmal wesentlich freier mit dem Ausgangsmaterial umgeht, stehen soll, wird von nun an aber nur noch in Ausnahmefällen auf die Buchversion verwiesen – zumal ohnehin jede Adaption in der Lage sein muss, für sich zu stehen und die Mehrheit der Streamenden den Roman höchstwahrscheinlich nicht gelesen hat. Und weil es über diese Staffel wahrlich genug zu sagen gibt – selbst dann, wenn man auf eine Menge verzichtet, weil diverse Spoiler in diesem Fall das (erstmalige) Sehvergnügen wirklich schmälern würden. Denn Joe treibt nun nicht mehr in New York, sondern inzwischen in Los Angeles sein Unwesen, und zwar als Will Bettelheim. Diese wenigen Fakten genügen bereits, um wieder komplett auf „You-Modus“ zu schalten und sich – und damit eigentlich dem Format – zahlreiche Fragen zu stellen: Wieso ausgerechnet die „Stadt der Engel“? Wie kam der Mann aus Brooklyn an den neuen Namen? Hat er aus seinen Fehlern gelernt? Wird man ihm auf die Spur kommen und natürlich: Wird der falsche Will sich wieder verlieben?
Abermals findet die Produktion auf nahezu alle plausible Antworten – zugegeben, wenn man hin und wieder etwas länger über bestimmte Entwicklungen und deren Zustandekommen nachdenkt, kommt einem womöglich für einen kurzen Moment ein Wort wie „aberwitzig“ oder „absurd“ in den Sinn, nur: Das war von Anfang an der Deal. Von der allerersten Episode an werden Zuseherinnen und Zuseher in schöner Regelmäßigkeit mit Situationen konfrontiert, die sich in ihrer Skurrilität überbieten. Dem zweiten 10-Folgen-Paket gelingt es allerdings nun endgültig, dass man eher geneigt ist, in diesen Augenblicken zu dem Schluss zu kommen, dass das Leben tatsächlich die verrücktesten Geschichten schreibt – solche, von denen man am ehesten denken würde, dass sie sich niemals so zugetragen haben können und die sich deswegen einfach jemand ausgedacht haben muss. Und das ist ohne jede Frage eine beachtliche Leistung und hat unter anderem viel mit der Erzählweise sowie dem „Pacing“ zu tun. Denn das Einstreuen von Informationen, die in der Regel erst später wirklich relevant werden, hat im Vergleich zur ersten Season deutlich zugenommen. Obwohl dieser Vorgang einmal expliziter und einmal impliziter vonstattengeht, ist es den Fans theoretisch konsequent möglich, (beinahe) alle Hinweise, die Rückschlüsse auf den weiteren Verlauf der Handlung zulassen, zu sammeln und zu deuten. Das liegt hauptsächlich daran, dass das Erzähltempo gleichbleibend und – bis auf wenige (gewollte) Ausnahmen – nie von Hektik geprägt ist, sondern zumeist von einer gewissen Ruhe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, worin der Grundkonflikt in Staffel 2 von «You – Du wirst mich lieben» besteht.
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04.01.2020 13:17 Uhr 1
04.01.2020 14:23 Uhr 2