Als die Trickfilmsparte des Disney-Konzerns zuletzt einen Erfolg vergleichbarer Größenordnung hatte, war es die Geschichte des Löwenjungen Simba, die rund um den Globus für Begeisterung sorgte. Auf den 1994 gestarteten, unvergesslichen Klassiker «Der König der Löwen» folgte 1995 mit «Pocahontas» eine Produktion, die bis heute die Gemüter spaltet: Sie zählte zwar zu den finanziell erfolgreicheren Filmen des Jahres und erhielt zum Großteil sehr wohlwollende Kritiken. Gleichzeitig galt das Zeichentrickmusical im Vergleich mit «Der König der Löwen» als kleine Enttäuschung und ließ einige Zuschauer eher gleichgültig zurück. Bis heute lässt es sich unter Animationsexperten und Disney-Liebhabern daher vorzüglich darüber streiten, ob «Pocahontas» filmhistorisch zur obersten Riege im Disney-Kanon gehört oder nicht.
Die Chancen, dass sich «Baymax – Riesiges Robowabohu» besser schlägt als einst «Pocahontas», stehen allerdings sehr gut. Die mittlerweile 54. abendfüllende Produktion der Walt Disney Animation Studios schreibt zwar nicht derartige Wirtschaftszahlen wie «Die Eiskönigin – Völlig unverfroren», trotzdem ist sie auf dem besten Weg, einer der einträglichsten Filme der Studiogeschichte zu werden. Zudem waren in den Ländern, in denen der für den Oscar vorgeschlagene Trickspaß bislang startete, die Kritiken nahezu durchgängig positiv. Darüber hinaus reserviert sich «Baymax – Riesiges Robowabohu» allein schon durch seine Geschichte (beziehungsweise seine Storyvorlage) einen Sonderplatz im Disney-Pantheon: Die actionreiche Komödie ist nämlich die erste Comicadaption der Walt Disney Animation Studios.
Lose von der wenig bekannten Marvel-Reihe «Big Hero 6» inspiriert, erzählen die Regisseure Don Hall und Chris Williams vom Teenager Hiro Hamada (Originalsprecher: Ryan Potter / dt. Stimme: Amadeus Strobl). Aufgrund seiner hohen Begabung machte er sehr früh den Schulabschluss – und seither treibt er orientierungslos vor sich hin. Sein älterer Bruder Tadashi (Daniel Henney / Daniel Fehlow) will dies aber nicht länger mit ansehen und zwingt ihn dazu, sich wenigstens einmal die renommierte technische Universität von San Fransokyo anzuschauen. Wider Erwarten gefällt es dem technikbegeisterten Hiro dort sehr gut, weshalb er sich für einen Studienplatz bewirbt. Für seine Aufnahmeprüfung perfektioniert er die Technologie hinter sogenannten Microbots – kleinen Robotern, die sich im Schwarm bewegen und via Gedankenübertragung kontrollieren lassen. Das anwesende Fachpublikum ist begeistert und Hiros Leben scheint endlich wieder auf einen festen Pfad zu gelangen, doch dann kommt es auf dem Unigelände zu einem schrecklichen Unfall, der Hiro niedergeschlagen zurücklässt.
Der von Tadashi entwickelte Gesundheitsroboter Baymax (Scott Adsit / Bastian Pastewka) wird aber auf Hiros Leiden aufmerksam und macht es sich – getreu seiner Programmierung – zur Aufgabe, sein Seelenheil wieder herzustellen. Wenn auch mit sehr unorthodoxen Methoden: Er bringt Hiro dazu, den mysteriösen Vorfällen nachzugehen, die sich derzeit in seiner Heimatmetropole ereignen. Die Abenteuer, in die Hiro und Baymax daraufhin verwickelt werden, ermuntern den Jungen, sich wieder gegenüber seinen Freunden zu öffnen … und mit ihnen die Ursache hinter den dunklen Ereignissen in San Fransokyo zu bekämpfen.
Eine Vereinigung zweier Welten, kein filmischer Kulturschock
Wenn sich das Disney-Trickstudio zeitgenössischen Filmtrends öffnet, kann das gehörig schiefgehen. Das Paradebeispiel dafür ist die dissonante Komödie «Himmel und Huhn», die auf der Welle ungenierter Trickproduktionen im «Shrek»-Stil schwimmen wollte. «Baymax – Riesiges Robowabohu» jedoch könnte nicht ferner von dieser eigentümlich verzweifelten Stunde Disneys entfernt sein. Statt die Grundfeste zu ignorieren, die einen typischen Disney-Klassiker ausmachen, und sich krampfhaft an einen aktuellen Trend zu schmeißen, erschaffen die Regisseure Hall & Williams ein durchdachtes, tonal ausgewogenes Amalgam. Diese Superhelden-Story beinhaltet sowohl bewährte Marvel-Markenzeichen als auch Elemente, die einfach zu einer zeitlosen Disney-Trickproduktion dazugehören.
So weißt die von Robert L. Baird, Dan Gerson und Jordan Roberts verfasste Story ein warmherziges Flair auf, das an Disney-Evergreens wie «Pinocchio», «Der König der Löwen» oder «Lilo & Stitch» erinnert: Hiros emotionale Krise wird von den Filmemachern ernst genommen und treibt über weite Teile den Plot an, wodurch der Film zu mehr wird als einer weiteren CG-Comedy. Die Lethargie Hiros wird realistisch dargestellt, und obwohl die Geschichte leichtfüßig genug daherkommt, dass die Atmosphäre nie zu karg gerät, gibt es mehrere Szenen, die nicht nur das junge Publikum rühren dürften. Hier macht es sich bezahlt, dass die Produktionscrew Psychologen zu Rate zog, denn selten zuvor vermittelte ein Familien-Animationsfilm den Prozess der Trauerbewältigung so plausibel und einfühlsam wie dieser.
- © Walt Disney
Ohje: Hiro will aus dem Pflegeroboter Baymax eine heldenhafte Kampfmaschine formen.
Vorrangig ist es aber die Freundschaftsdynamik zwischen Hiro und Baymax, die diesem rund 100-minütigen Kinospaß einen beachtlichen Platz in der Disney-Filmografie verschafft. Das Studio blickt längst auf eine lange Reihe denkwürdiger Freundschaften zurück, wie etwa die «Dschungelbuch»-Kumpel Mogli & Balu, denen das zentrale Gespann dieses Films in Nichts nachsteht. Der unberechenbare Teenager und sein grundguter Robotegehilfe ergänzen sich hervorragend – und sorgen natürlich nicht nur für herzliche Momente, sondern auch für zahllose Gags: Egal, ob sich der softe, etwas tollpatschige und langsame Baymax wegen seiner wachsenden Aufgaben immer wieder anpassen muss oder er bei nahezu leerem Akku wie ein Betrunkener herum torkelt und so Hiro einige Nerven kostet; die Lachmuskeln bekommen ein echtes Härtetraining verpasst.
Kein Helden-Sextett, sondern ein fantastisches Duo mit vier hilfreichen Freunden
Das Quartett, das gemeinsam mit Hiro und Baymax das im englischen Filmtitel «Big Hero 6» erwähnte Superteam bildet, ist wiederum kaum mehr als schmückendes Beiwerk. Die zähe GoGo Tomago, der ebenso neurotische wie pragmatische Hüne Wasabi und die frohsinnige Chemieexpertin Honey Lemon erhalten allesamt nur ein paar gute Pointen. Außerdem leisten sie einen unterhaltsamen, aber kleinen Beitrag zu den Actionszenen des Films, weswegen sich das Gefühl einstellt, es wäre mehr bei ihnen drin gewesen. Ihr Kumpel Fred (T.J. Miller / Andreas Bourani) dagegen verbringt etwas mehr Zeit im Rampenlicht und sorgt mit seinem Comicfachwissen sowie seiner Begeisterungsfähigkeit für einige herzliche Lacher. Leider nutzen ihn die Macher auch für die einzigen forcierten, strikt an das junge Publikum gerichteten Gags des Films, indem sie ihn über seine miesen Hygienegewohnheiten lamentieren lassen. Im Gegenzug darf Fred auch als Steilvorlage für etwas Marvel-Fanservice dienen, so als wollte man die älteren Zuschauer für Freds Albernheiten entschädigen.
Der Marvel-Einfluss reicht aber auch über einen gewissen Gastauftritt, der hier nicht gespoilert werden soll, hinaus: Das hohe Erzähltempo und die coolen Helden-Trainingsmontagen in «Baymax – Riesiges Robowabohu» sowie die genrebedingt zahlreichen Actionszenen rücken dieses Disney-Abenteuer ganz klar in Richtung Marvel, ohne dass dies gekünstelt wirkt. Alle Actioneinlagen sind dramaturgisch ausgewogen und inhaltlich gerechtfertigt. Vor allem eine ausgedehnte Flugsequenz sorgt, unter anderem dank der facettenreichen Musik Henry Jackmans und des großartigen 3D-Effekts, vor lauter Staunen für offene Münder. Späteren Begegnungen der Big Hero 6 mit ihrem rätselhaften Widersacher wiederum fehlt trotz hoher Ideendichte etwas inszenatorische Raffinesse, um den brillanten Actionpassagen im Pixar-Film «Die Unglaublichen» vollauf Konkurrenz machen zu können. Und auch einige der finalen Plottwists sind zwar plausibel genug, um «Baymax – Riesiges Robowabohu» qualitativ nicht herunterzuziehen, trotzdem hätte ein letzter Feinschliff des Dialogbuchs die Wendungen sicherlich aufregender gestalten können.
Absolut makellos ist indes die optische Komponente: Die Eis- und Schneelandschaften in «Die Eiskönigin – Völlig unverfroren» sind zwar märchenhaft-schön, doch auf Dauer auch etwas einseitig. In «Baymax – Riesiges Robowabohu» dagegen toben sich die Disney-Künstler richtig aus und erschaffen mit San Fransokyo einen Schauplatz, der es in sich hat. Diese Version San Franciscos weist bereits mit ihren steileren Hügeln und tieferen Tälern eine noch intensivere Atmosphäre auf als die so oft auf Zelluloid gebannte kalifornische Großstadt. Hinzu kommen aber noch verspielte japanische Einflüsse sowie behutsam eingeflochtene, futuristische Elemente, die aus diesem fiktionalisierten San Francisco erst San Fransokyo machen – eine Kinostadt, die spürbar lebt, brummt und ebenso bildhübsche wie abstoßend-finstere Ecken zu bieten hat. Doch egal, ob die Regisseure die Filmstory gerade in einem einladenden oder einem abscheulichen Winkel San Fransokyos abspielen lassen: Die Farben sind kräftiger und die Animationen plastischer als in jedem Disney-Computeranimationsfilm zuvor – eine wahre Augenweide!
Fazit: Ein Heldenroboter, den man lieb haben muss, starker Humor und viel Herz: «Baymax – Riesiges Robowabohu» ist die ideale Mischung aus Superheldenaction und Disney-Trickspaß.
«Baymax – Riesiges Robowabohu» ist ab dem 22. Januar 2015 in zahlreichen deutschen Kinos zu sehen – sowohl in 2D als auch in 3D.
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