Die Kino-Kritiker

«Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)»

von

Sidney Schering schreibt nicht gerade die Kritik, die «Birdman» verdient hat, aber die Kritik, die «Birdman» braucht. Oder so etwas in der Art.

Cast und Crew

  • Regie: Alejandro González Iñárritu
  • Produktion: Alejandro González Iñárritu, John Lesher, Arnon Milchan, James W. Skotchdopole
  • Drehbuch: Alejandro González Iñárritu, Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris, Jr., Armando Bo
  • Darsteller: Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone, Naomi Watts
  • Musik: Antonio Sánchez
  • Kamera: Emmanuel Lubezki
  • Schnitt: Douglas Crise, Stephen Mirrione
«Birdman» ist die Art Film, die mit der finalen Schwarzblende dafür sorgt, dass dem Betrachter Fragen auf der Zunge brennen. Wo endet die reine, eskapistische Narrative und wo beginnt die philosophische Analogie? Was ist verbitterte Abrechnung mit dem Showbusiness und was liebevoller Seitenhieb? Was ist real, was ist nur Einbildung der Figuren? Tja, eins kann ich festhalten, Leute: «Birdman» ist viel, viel realistischer, als es auf dem ersten Blick scheint …

Es ist Vormittag in der Bundesrepublik. Bereits Monate vor Kinostart läuft in einer deutschen Großstadt die rabenschwarze Showbusinesskomödie «Birdman» – exklusiv für die Presse. Nach einiger Zeit steht einer der anwesenden Kritiker auf und verschwindet kopfschüttelnd aus dem Saal. Nach etwas mehr als einer Viertelstunde betritt er erneut den Saal. In der Zwischenzeit gab es eine Szene zu sehen, die sich mir besonders einprägte: Die frühere Blockbuster-Ikone Riggan Thomson (Michael Keaton) begegnet einer einflussreichen Kritikerin (Lindsay Duncan), die ihn ohne jeden erkenntlichen Anlass anschnauzt. Sie habe genug von dieser Hollywood-Prominenz, die meint, nach Jahren im lächerlichen Superheldenkostüm plötzlich so tun zu müssen, als könne sie wirklich schauspielern. Diese Hampelmänner seien eh alle gleich. Daher müsse sie sich Riggans demnächst stattfindendes Stück gar nicht erst gucken, um zu wissen, dass es sich einen niederschmetternden Verriss verdient habe.

Ich dagegen muss wohl nicht anmerken, dass dem Kollegen «Birdman» nicht gefallen hat. Er sei wie erwartet nur der lahme Versuch, einen Superheldenfilm zu machen, der sich als Schauspielübung ausgibt. Aber ich komme nicht umher, mich immer, wenn ich an «Birdman» denke, zu fragen, wie mies der nette Herr wohl Alejandro González Iñárritus Geniestreich erst finden würde, wenn er sich alles angeschaut hätte. Wahrscheinlich würde er Gift und Galle speiend klagen, dass «Birdman» ein unverschämtes, falsches Bild von Kritikern zeichne.

Die Resonanz zwischen unserer Wirklichkeit und der Fiktion von «Birdman» umfasst weit mehr als die Macken mancher Kritiker. Als soghafter Ausflug in die Gedanken- und Arbeitswelt der Schauspielerzunft sagt «Birdman» selbstredend viel mehr über Mimen aus als über jene, die sich über sie die Mäuler zerreißen. Und zahllose eben dieser Kommentare erfolgen auf der Meta-Ebene.

Beispiel: Edward Norton, der eine beachtliche Fanbase hat und zudem für nahezu all seine Performances mit Kritikerlob überschüttet wird, glänzt als Kritikerliebling und Kassenmagnet Mike Shiner. Dieser gerät mit seinem Kollegen und Regisseur Riggan regelmäßig in verbale sowie schlagkräftige Auseinandersetzungen über das Skript seines Broadway-Stücks. Was freilich keinerlei Erinnerungen an die Filme «The Score», «Frida» und «Der unglaubliche Hulk» weckt, an deren Drehbuch der ursprünglich bloß als Akteur gecastete Norton mitwirkte. Oder an «American History X», jenen in der Filmbranche legendär gewordenen Fall, in dem sich Regisseur Tony Kaye eine mediale Schlammschlacht mit dem Studio leistete, weil es Nortons eigenmächtig erstellte Schnittfassung des Dramas bevorzugte.

Und welche Worte könnte ich an dieser Stelle noch über Michael Keatons Leistung verlieren, die nicht bereits tausendfach gewählt wurden? Der Hauptdarsteller aus Tim Burtons «Batman»-Filmen ist es, der «Birdman» überhaupt erst Flügel verleiht. Sein Spiel ist nuanciert, ein Triumph des mimischen Naturalismus – und gerade dadurch schwingt sich Iñárritus Blick hinter die Kulissen des Schauspielfachs auf ein so hohes Niveau. Keatons Darbietung ist heldenhaft unmittelbar, selbst in durchgebrannten Momenten wirkt alles, was er den gefallenen Stern Riggan Thompson tun lässt, als sei es die ungeschönte Wahrheit.

Allerdings möchte ich mich nicht völlig in diesen Aspekt des doppelbödigen, kunstvollen Filmspaßes verrennen. Denn es ist ja bei weitem nicht alles aus dem wahren Leben gegriffen, was Iñárritu mit seinem kleinen Heer von Ko-Autoren zusammengestellt hat. Die sich im Kritikerdasein verkriechende Giftnudel, mit der Riggan es zu tun bekommt, steht nicht stellvertretend für ihre Zunft. Ja, es lassen sich ganz selten solche Exemplare finden, und alle, die Filme weiterhin verehren, verdammen diese raren Begegnungen. Und, ja: In einem großen Ensemble kann es vorkommen, dass so gänzlich unterschiedliche Typen von Schauspielern aufeinandertreffen, wie in Riggans Theateradaption von «What We Talk About When We Talk About Love». Menschen, die den Wert ihres Berufs völlig anders definieren als ihr Gegenüber – und somit auch ihre Aufgaben als Künstler. Äh, als Entertainer. Äh, als Geschichtenerzähler. Doch «Birdman» hat nicht nur originell dargebotene Anekdoten aus dem Showbusiness aufzuweisen. Dieser flotte Dreier aus amüsantem Arthouse-Experiment, nachdenklicher Comicfranchise-Dekonstruktion und satirischer Theaterfarce hat auch einen gewaltigen Vogel.

Richtig gelesen. Ich finde «Birdman» nicht nur wahnsinnig, «Birdman» ist Wahnsinn! Die Kamera verfolgt das Geschehen in und um das von Riggan gebuchte New Yorker Theater über weite, weite Strecken ohne erkennbaren Schnitt. Kamera-Maestro Emmanuel Lubezki und die Cutter Douglas Crise & Stephen Mirrione vollführen einen komplexen, visuellen Tanz, der dem Zuschauer das Zeitgefühl raubt, seine Orientierung einschränkt, ihn geradezu aufsaugt. Ihn als stilles, alles heimlich beobachtendes Mäuschen ins Geschehen versetzt. Wenn er nicht gerade einen von Riggans psychischen Höhen- oder Stürzflügen vor Augen geführt bekommt – dann ist der Betrachter auf einmal mitten im Oberstübchen eines einstigen Superhelden-Darstellers. Doch so oder so ist die visuelle Komponente von «Birdman» berauschend – und erschwert es gekonnt, die eh verschwimmenden Ebenen des Drehbuchs zu trennen. Ist Riggan wahnsinnig, sind manche (alle?!) seiner vermeintlichen Halluzinationen real? Oder visualisiert Iñárritu bloß die Gedankenwelt des unter immensem Druck stehenden, zwischen künstlerischem Begehren, Geltungsdrang und Verleugnung der eigenen Karriere hin und her gerissenen Mimen? Würde letzteres bedeuten, dass Riggan in „Wirklichkeit“ völlig normal ist (so weit man normal sein kann, wenn man schauspielert)? Ist Birdman sein gutes oder sein schlechtes Alter Ego?

Fragen überschlagen sich in meinem Kopf, vorangetrieben von den jazzigen, hämmernden, dynamischen, gelegentlich dissonanten Schlagzeug-Klängen des Musikers Antonio Sánchez. Gags rauschen an mir vorbei, sei es in Form feister Seitenhiebe auf die Geldmaschinerie Hollywoods und auf das hochnäsige Theatergehabe oder im Kleide kerniger Situationskomik. Die Figuren handeln von Minute zu Minute ikonischer, obschon ihre Darsteller nie die Bodenhaftung verlieren. Die Akteure sagen symbolbehaftete Monologe auf, gleichwohl bleiben die Beziehungen zwischen ihren Rollen glaubwürdig. Wie virtuos dieser Spagat doch ist, wie packend Emma Stones weitäugige, innerlich zerrissene, hingebungsvolle Leistung als Riggans manische, nein, erschütternd hellsichtige, nee, innerlich kaputte Tochter!

Stone verausgabt sich, die Kamera irrt im Theater umher, Riggan verliert sich immer tiefer im Kampf mit sich und seinem Stück und ich ringe mit mir. Bin ich weiterhin Filmkritiker, oder bloß noch staunender Betrachter?! Mein hyperkritischer, distanzierter „Kollege“ würde mir wohl etwas geigen, würde ich dies hier als Kritik bezeichnen. Jedoch: „A thing is a thing, not what is said of that thing“ steht auf dem Spiegel in Riggans Garderobe gekritzelt. Und das hier ist eine Auseinandersetzung mit den Leistungen von «Birdman». Eine Wiedergabe, wie in diesem cineastischen Glanzstück Wahrheit und Wahn zusammenspielen, Kunst und Kappes, Hommage und kritische Betrachtung. Und das habe ich nunmehr geleistet, oder?! Oder habe ich vielleicht mehr getan? In dem Fall habe ich es nicht mitbekommen.

Aber ist nicht gerade das die Macht der Ahnunglosigkeit?! Kra-Krah!

«Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)» ist ab dem 29. Januar 2015 in einigen deutschen Kinos zu sehen.

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