Sonntagsfragen

'Wir haben sehr viel Selbstreflexion betrieben'

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Quotenmeter.de hat «Alles steht Kopf»-Regisseur Pete Docter und -Produzent Jonas Rivera im Roundtable-Interview getroffen: Wie ist der neue Pixar-Hit entstanden, wie ticken ihre Kollegen aus der Trickfilm-Traumfabrik und verstehen Kinder das intellektuelle Konzept des Films?

Über «Alles steht Kopf»

«Alles steht Kopf» ist der 15. abendfüllende Trickfilm der Pixar Animation Studios und handelt von den fünf Emotionen in unserem Kopf: Freude, Kummer, Wut, Angst und Ekel. Regisseur Pete Docter und Produzent Jonas Rivera erzählen mit diesen personifizierten Gefühlen eine lustige, spannende und rührende Geschichte darüber, wie wir Menschen uns in emotional schwer zu begreifenden, fremden Situationen verhalten. Der deutsche Kinostart ist der 1. Oktober 2015.
Gratulation zu diesem herausragenden Film! Die Story von «Alles steht Kopf» ist wirklich einzigartig. Wie ist sie entstanden, und wie kam es zu all den anderen kleinen Ideen, die den Film ausmachen?
Pete Docter: Als erstes ist mir das grundlegende Konzept in den Sinn gekommen, eine Geschichte über personifizierte Emotionen zu erzählen. Von dem Punkt aus kamen dann alle anderen Aspekte nach und nach hinzu: Freude sollte die Hauptfigur werden. Dennoch sollte der Film Elemente einer Ensemblekomödie beinhalten. Und so kam der Ansatz, dass wir Spaß damit haben wollen, wie sich alle über Kleinigkeiten zanken … Die Essenz des Ganzen ist, dass der Film im Laufe von fünf Jahren Stück für Stück von einer riesigen Gruppe an Künstlern erschaffen wurde, die Jonas und ich angeführt haben. Unsere Hoffnung ist, dass der komplette Film so wirkt, als sei er das Produkt eines einzigen nächtlichen Gedankenblitzes. Dabei entstand er durch ständiges Arbeiten, Schaffen, Grübeln, Hinzufügen, Wegnehmen und, und, und …

Jonas Rivera: Der Fairness halber sei gesagt, dass sämtliche Filme durch mühselige Arbeit entstehen. Das für mich Einzigartige an Pete ist aber, dass er über das Talent verfügt, aus heiterem Himmel Ideen zu entwickeln, die jeder auf Anhieb begreift. Es sind Ideen, bei denen dann jeder im Studio sofort begeistert mit dem Kopf nickt. Auf dieser Basis beginnt dann die große Schufterei.

Welche Erkenntnis hat Sie bei der Recherche zum Film besonders beeinflusst?
Pete Docter: Eine sehr interessante Sache stammt von Dacher Keltner, einem Psychologen, mit dem wir zur Vorbereitung gesprochen haben. Er meinte: „Sämtliche Emotionen haben ihre guten und ihre schlechten Seiten.“ Gefühle wie Wut und Angst, die wir normalerweise als negativ betrachten, haben gute Seiten, und genauso hat selbst Freude potentiell negative Folgen. Das wollen wir im Film auch zum Ausdruck bringen.

Jonas Rivera: Ja, das fand ich spannend! Aufzuzeigen, dass negativ behaftete Gefühle sehr wohl einen Zweck haben, zählt für mich zu den Aspekten, die mir an diesem Film am meisten zugesagt haben.

Pete Docter: In früheren Entwürfen hatten wir zudem noch Gefühle wie Stolz und Hoffnung, die Freudes Optimismus geteilt haben. Uns wurde aber schnell klar, dass die Geschichte besser funktioniert, wenn sich anfangs alle Emotionen gegen Freude wenden und sie alleine dasteht. So wirkt am Ende die Erkenntnis eindringlicher, dass sich Gefühle eben nicht strikt in gut und schlecht aufteilen lassen.

Eine der Emotionen, die raus geflogen sind, ist die Schadenfreude. Wie sah Schadenfreude in eurer Vorstellung aus?
Pete Docter: Oh je … (lacht peinlich berührt) Er war ein richtig schlechtes Klischeebild eines Deutschen in Lederhosn … Er war aber stets nur für eine sehr kleine Rolle vorgesehen. Selbst ganz am Anfang des Schreibprozesses wussten wir: Wenn wir an die 27 Emotionen im „Headquarter“ stehen haben, verlieren wir nur die eigentliche Geschichte aus dem Blick. Deshalb hing er mit einigen Anderen in der Ecke herum und fragte (in deutschem Akzent): „Gibt es heute Arbeit für uns, Freude?“ Und Freude entgegnete: „Ich sag euch, wenn es etwas zu tun gibt! Ist das für dich in Ordnung, Neid?“ Und Neid hat dann: (winkt mit genervtem Blick ab) … Das waren alles Randfiguren, die sozusagen von der Auswechselbank zugeguckt haben. Jedenfalls, bis sie gestrichen wurden.

Wir haben sehr viel Selbstreflexion betrieben und lange Diskussionen geführt, die im Autorenraum praktisch zu kleinen Therapiesitzungen ausgeartet sind!
Jonas Rivera
Mussten Sie aufgrund des Themas für diesen Film tiefer in sich hineinhorchen als sonst?
Jonas Rivera: Ja. Ich finde, dass dies sogar zu den besonders ergiebigen Aspekten an der Produktion von «Alles steht Kopf» gehört! Wir haben sehr viel Selbstreflexion betrieben und lange Diskussionen geführt, die im Autorenraum praktisch zu kleinen Therapiesitzungen ausgeartet sind! Und all das, um den Kern der Geschichte zu begreifen: „Was passiert mit uns, wenn wir als Kinder erstmals die Welt mit anderen, emotional reiferen Augen erblicken? Wann und wo ist es bei uns jeweils dazu gekommen? Wieso ändern wir uns?“ Dem wohnt auch eine Tragik inne. Erst recht für uns als Eltern, wenn wir auf unsere Kinder blicken und diese Entwicklungen beobachten. Meine Töchter sind drei und fünf Jahre alt, und wenn ich könnte, würde ich für sie die Zeit einfrieren. Dabei wäre das ganz offensichtlich keine gute Sache. Es wäre eine völlig falsche, selbstsüchtige Entscheidung! Und über genau solche Dinge haben wir während der Produktion gesprochen.

Pete Docter: Ein weiterer Grund, weshalb wir bei «Alles steht Kopf» tief in uns gehen mussten, ist das Thema des Designs. In der Vergangenheit haben wir etwa Filme über Fische oder Autos gemacht – und das Gute daran ist, dass man dabei Recherche treiben kann. „Oh, super, so soll das also aussehen!“ Und dem verleihen wir dann halt noch unseren eigenen Touch. Aber bei diesem Film?! (lacht) Wir hatten keinen Schimmer, wie Angst, Wut und all die anderen kleinen Kerlchen aussehen. Wir haben zu Recherchezwecken darüber, wie der Verstand aufgebaut ist, zwar mit Wissenschaftlern gesprochen, doch das Aussehen der Figuren entstammt den Köpfen unserer fantastischen Charakterdesigner. Wie etwa Albert Lozano und Chris Sasaki. Sie sind in Verbindung mit ihrer Wut und ihrer Angst getreten, um auf diese tollen Ideen zu kommen.

Standen für den Look der fünf Emotionen dennoch auch Persönlichkeiten Pate?
Pete Docter: Zum Teil sind sie alle von diversen Elementen inspiriert, also auch durch die eine oder andere Person. Der Schlüsselgedanke hinter dem Aussehen der Emotionen entstammt allerdings einem Bild, das Albert [Lozano] gezeichnet hat: Eine Gegenüberstellung abstrakter Formen. Freude war darauf ein Stern. Angst sah dagegen wie ein freigelegter Nerv aus, sehr verwinkelt … Und Kummer wurde durch eine auf dem Kopf stehende Träne symbolisiert. Diese simplen Formen haben uns nicht nur geholfen, die Gefühle an sich besser zu verstehen, sondern auch sicherzustellen, dass sie gemeinsam als Gruppe gut aussehen.

Schlussendlich wurden die Emotionen fast schon zu einer Art 'Greatest Hits'-Sammlung aller Menschen, die wir lieben oder über die wir sehr intensiv nachdenken
Jonas Rivera
Jonas Rivera: Pete, wenn du schon Kummer ansprichst, fällt mir aber noch etwas Konkreteres auf die Frage ein, ob die Emotionen durch bestimmte Personen inspiriert wurden. Denn schlussendlich wurden die Emotionen fast schon zu einer Art „Greatest Hits“-Sammlung aller Menschen, die wir lieben oder über die wir sehr intensiv nachdenken. Albert etwa hat im Zusammenhang mit Kummer viel über seine Mutter gesprochen. Sie ist eine ungeheuerlich süße, zuvorkommende Frau. Wäre sie jetzt hier, würde sie alles dafür tun, um sicherzustellen, dass wir alle hier im Raum gut versorgt sind! (In einer Mütterchenstimme:) „Möchte jemand noch einen kleinen Snack, oder schon sein Mittagessen“? Sie ist sehr liebevoll und fürsorglich. Und ich habe beim Zeichnen von Kummer angefangen, immer an ihren sorgvollen Gesichtsausdruck zu denken …

Pete Docter: Das wusste ich gar nicht!

Jonas Rivera: Doch, doch! Und Ekel hat etwas von Production Manager Dana Murray. Sie ist eine bildhübsche Frau, immer perfekt gestylt, und sie hat diese Manierismen …

Pete Docter: (lacht) Ja, allein wie sie „Üäääh ...“ sagt!

Jonas Rivera: Genau, das ist bei Ekel mit eingeflossen. Kurzum: Die Figuren sind alle zu einem Sammelsurium von Menschen geworden, die uns wichtig sind.

Auf der nächsten Seite sprechen Pete Docter und Jonas Rivera unter anderem über die Originalsprecher von «Alles steht Kopf» und über Pixars „Brain Trust“ …

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