Serienfacts
- Showrunnerin: Melissa Rosenberg
- Basierend auf den Comics von Brian Michael Bendis und Michael Gaydos
- Darsteller: Krysten Ritter, Mike Colter, Rachael Taylor, Wil Traval, Erin Moriarty, Eka Darville, Carrie-Anne Moss, David Tennant
- Musik: Sean Callery
- Produktion: Tim Iacofano
- Schnitt: Jonathan Chibnall, Michael N. Knue, Tirsa Hackshaw
Die 13-teilige Produktion von Tall Girls Productions, Marvel Television und ABC Studios spielt in unmittelbarer Nachbarschaft der gefeierten ersten Marvel/Netflix-Serie «Daredevil»: Im abgewrackten Teil von New York City versucht Titelheldin Jessica Jones, sich eine neue Existenz als Privatdetektivin aufzubauen. Früher hat sich die eigensinnige, junge Frau als Superheldin versucht, weil sie ihre 'Begabung' für das Gute einsetzen wollte. Dies ging jedoch katastrophal aus, weshalb sich Jessica zurück gezogen hat. Ihr kaum zu stillender Durst, Gutes zu bewegen, hat sie dann aber letztlich ins Detektivsein gedrängt. Als sie einen Vermisstenfall annimmt, wird sie unwissentlich kopfüber in Geschehnisse gestürzt, die eng mit einigen weiterhin nachwirkenden, traumatischen Ereignissen verknüpft sind, die sie zu durchstehen hatte: Denn der grausame und mysteriöse Kilgrave treibt weiter sein Unwesen und missbraucht ungebrochen seine Fähigkeit, Gedanken zu kontrollieren …
- © Netflix
Krysten Ritter in ihrer Rolle als «Jessica Jones». Diese ist ein Privatdetektiv mit Superkräften.
Schon die ersten Minuten zeigen, dass «Jessica Jones» nicht irgendeine Superheldenproduktion unter vielen ist: Im New York City der gestressten, emotional verletzten und trotzdem kämpferischen Jessica Jones spielt Sex eine große Rolle.. Ob zwischen zwei treuen Partnern, ob One-Night-Stands oder wilde Affären: Erwachsene Menschen geben sich nun einmal dann und wann ihrer Lust hin – und das gilt für Heterosexuelle ebenso sehr wie für Bi- und Homosexuelle. Diese Realität bildet die in schattigen Film-noir-Aufnahmen gestaltete, mit einigen, wenigen, grellen 70er-Exploitationfilm-Farbtupfern garnierte Serie ganz unverblümt dar.
Explizite Nacktaufnahmen gibt es zwar nicht zu sehen, dafür verstehen es die Regisseure und Autoren hinter «Jessica Jones» so viel besser als die meisten anderen Serienmacher, wie Sex als erzählerisches Werkzeug genutzt werden kann: Wer ist der dominantere beim Akt, wie erfüllt wirken die beiden Partner jeweils davor und danach, wie aggressiv oder einfühlsam gehen sie vor – non-verbal, rein körperlich wird in dieser Serie sehr viel über die Charaktere vermittelt. Und das ist ein vortrefflicher Weg für eine Serie, deren zentrales Thema die Diskrepanz zwischen Können und Willen einerseits und Macht und Gefügigkeit andererseits ist.
Die von Krysten Ritter so facettenreich, lebensnah gespielte Jessica bekam einst von Kilgrave (beängstigend und mit hypnotischer Kraft: «Doctor Who»-Star David Tennant) seinen Willen aufgezwungen und ist seither eine traumatisierte Frau in einer zwar progressiven, aber weiterhin von Männern geführten Gesellschaft. Ritters Jessica ist aber kein reines Opfer, dafür ist sie zu sehr von einem Vorwärtsdenken getrieben und zu fähig, sich in geistigen oder körperlichen Auseinandersetzungen zu behaupten. Eine unbeseelte Terminatrix ist sie jedoch auch nicht – zu spürbar nagt die Vergangenheit an ihr, zu sehr zweifelt sie in entscheidenden Momenten an sich oder ihrem Umfeld. «Jessica Jones» schildert von den Nuancen, die Missbrauchsopfer aufweisen, und beleuchtet dazu nicht nur Jones intensiv, sondern auch viele weitere Kilgrave-Opfer.
Obwohl die wichtigsten Figuren, darunter auch Jessicas beste Freundin Trish (Rachael Taylor) und die lesbische Staranwältin/Teilzeit-Unterstützerin Jessicas/Teilzeit-Widersacherin Jeri Hogarth (Carrie-Anne Moss) und der körperlich unkaputtbare Luke Cage (Mike Colter), allesamt dramatische Tiefe aufweisen, ist «Jessica Jones» keine selbstgeißelnde Problemserie. Die Autoren nehmen die angerissenen Motive sehr ernst, spinnen daraus allerdings eine hochspannende, sich bedachtvoll entfaltende, 13 Kapitel lange Kriminalgeschichte. Durch die stets spürbare, in die Magengrube schlagende Gefahr, die Kilgrave darstellt, ist «Jessica Jones» in erster Linie ein anspruchsvoller, charakterstarker Thriller, in zweiter Linie ein dramatisches PTSD-Psychogramm und in dritter Linie eine reife Superheldenserie.
Mit Running Gags über kaputte Türen, sowie mit Jessicas knallhartem Mundwerk und exzentrischen Nachbarn ,macht «Jessica Jones» aller thematischen Schwere zum Trotz sogar noch immer viel Spaß. Was wiederum den Suchtfaktor dieses feministischen Neo-Noir-Formats immens erhöht – diese beklemmende, niederschmetternde Parabel auf unsere Welt mag zum Nachdenken anregen, ist dabei aber kurzweilig genug, dass diese grimme Stimmung nie den „Weiterguckimpuls“ stören könnte. Und das will was heißen, denn «Jessica Jones» ist nicht zimperlich: Betrübliche Ereignisse warten hinter jeder Ecke, und da die Gefühlswelten der handelnden Figuren im Mittelpunkt der Serie stehen, wird das darauffolgende Leid detailreich vorgeführt – und von finsteren, bittersüßen Jazzklängen begleitet. Willkommen in einer Comicwelt mit Konsequenzen …
Fazit: Egal, wie stark, schön, klug oder vorsichtig du bist: Es gibt immer Monster, die dich kleinkriegen können. «Jessica Jones» erzählt mit Gravitas, komplexen Figuren und in düster-galanter Ästhetik davon, was danach passiert ...
«Jessica Jones» ist ab sofort über Netflix zu sehen.