Jahrelang musste ich, wann immer ich mit Freunden über Filme gesprochen habe, in der Angst leben, mit dem Todschlagargument „Ach, du bist ja auch Kritiker, natürlich hast du was zu meckern …“ kaltgestellt zu werden, sollte ich eine Produktion weniger mögen als mein Umfeld. Während ich in der Vergangenheit in den Fällen, in denen diese Keule ausgepackt wurde, mit Gegenbeispielen konterte („Nein, ich habe nicht plötzlich was gegen RomComs/Komödien/Actionfilme, ich mag doch etwa …“), kann ich den Vorwürfen ab sofort noch kühler entgegnen: „Ich bin Kritiker. Und keiner, der Haare spaltet.“ Im Gegensatz zu immer mehr Durchschnittszuschauern – wie mir scheint.
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Was bemängelt wurde? Zunächst: „Der Film hat ja viel zu wenig Handlung!“ Nun, da lasse ich gerne mit mir reden. Ich befinde: «The Revenant» ist ein Survivaldrama, da ist das pure Überleben naturgemäß die ganze Handlung. Siehe auch: «Gravity» oder «All is Lost». Sicher wäre es denkbar, einen nebensächlichen Erzählstrang über einen Bärenjäger aufzumachen, der sich gerade mit seiner Gattin zerstritten hat, und nun nach dem perfekten Wiedergutmachungsgeschenk sucht. Aber ist das nötig? Bei einem Konzert sagt ja auch niemand: „Es wurde mir zu viel gesungen!“
Und dennoch kann ich verstehen, wenn jemand sagt, dass ihm das Genre des Survivaldramas zu wenig gibt, um sich für zehn Euro Kinoeintritt einen fast dreistündigen Vertreter dieser Gattung anzuschauen. Wer es bevorzugt, dass ein Film eine komplexe Handlung aufweist, dessen gutes Recht ist es, über «The Revenant» die Nase zu rümpfen. Gut, fairer wäre es, dann zu sagen „der Film hat mir zu wenig Handlung“, statt „der Film hat gar keine Handlung / zu wenig Handlung“, da das Überleben allein sämtliche Story ist, die solch ein Film braucht … Doch solche Unterschiede in der Formulierung machen den Berufskritiker (der ja mit dem Ausdruck seiner Beobachtung Geld verdient) aus. Das vom Hobbyfilmgucker zu verlangen, wäre was dreist von mir.
Allerdings endete die Kritik aus meiner Freundesgruppe damit noch lange nicht: „Und mit Logik hat der Film es ja überhaupt nicht! Was für ein Murks!“ Auf meinen verdatterten Blick folgte die Erläuterung: „Der müsste doch drei, vier Mal gestorben sein, wenn der die ganze Zeit bei der Eiseskälte ins Wasser geht! Und wenn er doch Feuer machen kann, wieso isst der dann den Fisch und später diese Büffelinnereien roh?!“
Wow. Wenn ich, der feine Herr Filmkritiker, bei früheren DVD-Abenden so an die Filme herangetreten wäre, hätte man mich achtkantig aus der Bude geworfen. Oder man hätte mir wenigstens den Mund verboten. Dabei gibt es so, so viel anzumerken: Bruce Willis‘ Paraderolle des John McClane wäre in «Stirb langsam» laut manchen Ärzten vier Mal ums Leben gekommen. «Titanic» ist voller Anachronismen. In «Pulp Fiction» sind im Hintergrund einmal Einschusslöcher zu sehen, bevor überhaupt geschossen wurde. In «Ben Hur» ist eine Armbanduhr zu sehen! In «Hangover» sagt eine Figur, dass wohl wer seine Matratze aus dem Hotelzimmer geworfen hat – dabei kann man in keinem einzigen der großen Las-Vegas-Hotels sein Fenster weit genug dafür öffnen! Was schert es mich dann in einem Survivaldrama, wenn eine kurz vor dem Verhungern stehende Figur keine Geduld mehr aufbringt, um ihr Essen zu rösten? Und auch wenn die wiederholten Tauchgänge von DiCaprios Figur «The Revenant» den Verlauf unwahrscheinlicher machen, als der Film ohne sie wäre, so ist es nicht so, dass der Held aus Jux und Dollerei ins Wasser geht und in Wirklichkeit daher auf jeden Fall, garantiert, definitiv gestorben wäre …
Mit meinen Freunden ließ sich nach dem Kinobesuch ja noch diskutieren, und auch wenn ich nicht genug Überzeugungsarbeit leisten und ihnen den Film schönreden konnte, so war wenigstens irgendwann der Punkt erreicht, wo sie mein positives Fazit nachvollziehen konnten. Und darum geht es bei Diskussionen über Filme in erster Linie: Das Verstehen von Meinungen – nicht ums Gleichschalten. Ich respektiere ja auch die negativen Stimmen (wobei ich „Mag den Mangel an Handlung nicht!“ deutlich leichter schlucken kann als „Ihhh, unlogisch!“).
Bloß ist diese Anekdote bedauerlicherweise kein Einzelfall. Ein Abstecher in die Untiefen von Filmforen und YouTube- oder Review-Kommentarsektionen enthüllt Millionen von „Nitpicking“-Abrechnungen. Das erstreckt sich auch auf Fernsehserien: Während «Deutschland 83» sehr gute Reviews erhalten hat, waren die Facebook-Diskussionen zur Serie unter anderem auf der Quotenmeter.de-Page voll mit Aufzählungen der Marke: „Neee, also, da und hier und dort hat die Kostümabteilung kleine Fehler gemacht. Drecksserie!“
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Schon schade, wenn wir Kritiker es sind, die zur Vernunft aufrufen müssen: Das Gesamtwerk ist entscheidend, das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren. Was für einen Film sehe ich, und wie erreicht er sein Ziel? Ein Survivalspektakel braucht keine achthunderttausend Zeilen genialer, schlagfertiger Wortwechsel. Und ein Film mit zwei, drei „Hm, ich weiß nicht, ob die Figur da ganz klug handelt“-Momenten ist nicht „dermaßen voller Logiklöcher, ey, den kann man nicht gut finden.“ Und das sagt nun ausgerechnet jemand, der noch immer bei Branchengesprächen als „von Beruf: Meckerfritze“ vorgestellt wird. Fehlanzeige, liebe Medienmacher. Eure neuen Feinde sind die Normalos …