Die Kritiker

«Ich war eine glückliche Frau»

von

Mit dieser feingeistigen psychologischen Produktion und Petra Schmidt-Schaller in einer starken Hauptrolle ist dem Ersten einer der besten Fernsehfilme des Jahres gelungen.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Petra Schmidt-Schaller als Eva Sanders
Rainer Bock als Hermann Blok
Marc Hosemann als Jan Sanders
Imogen Kogge als Sylvia Blok
Momo Beier als Lena Sanders
Ben Nicolas Behrend als Max Sanders
Michael Abendroth als Vater Jan

Hinter der Kamera:
Produktion: Hessischer Rundfunk
Drehbuch: Edda Leesch
nach der Erzählung "Ik droom dus" von Margriet de Moor
Regie: Martin Enlen
Kamera: Philipp Timme
Der erste Eindruck dieses Films ist nicht der beste. Wir folgen einem Herbstblatt, das uns zu Füßen von Eva Sanders (Petra Schmidt-Schaller) führt. Sie sitzt in einem Frankfurter Straßencafé, und über diesem Bild ertönt ihre Stimme in einem unnötigen Voice-Over, das unangenehm schwülstige Phrasen von sich absondert. Eva erhält einen Anruf von Hermann Blok (Rainer Bock), ihrem ehemaligen Nachbar aus dem Vorort, wo sie bis vor Kurzem mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann gelebt hat. Obwohl das ältere Ehepaar Blok und Evas Familie kaum miteinander Kontakt hatten, bittet er sie, ihn zu besuchen. Er habe ihr etwas Wichtiges zu erzählen.

Nun beginnt die eigentliche Geschichte dieses Films – und mit ihr das faszinierende Psychogramm seiner interessanten Figuren. Blok erzählt von seiner kürzlich verstorbenen Frau Lydia (Imogen Kogge), die eine tiefe Sympathie für Eva gehegt habe. Eva ist von dieser Beobachtung überrascht, schließlich sei sie Lydia nur ein einziges Mal an einem verregneten Tag in der Stadt begegnet und habe dabei kein einziges Wort mit ihr gewechselt.

Blok erzählt von der neurologischen Krankheit seiner Frau, die ausgebrochen war, als er in den Ruhestand trat. Lydia war eine äußerst versierte Archäologin gewesen, eine Koryphäe auf ihrem Spezialgebiet, hatte ein außergewöhnliches feinmotorisches Talent und ein hervorragendes dreidimensionales Vorstellungsvermögen. Doch bald konnte sie nur noch am Stock gehen und selbst einfachere handwerkliche Aufgaben nicht mehr verrichten. Sie versank in einer sich zunehmend verschlimmernden Depression, und all die Antriebsversuche ihres Mannes blieben wirkungslos. Bis die Sanders gegenüber auf ihrem Grundstück die Blutbuche versetzten.

Nun war der Blick frei in das Haus nebenan, und Lydia verbrachte täglich die meisten Stunde am Fenster sitzend und beobachtete die Nachbarn. Die Details schmückte sie selbst aus und unterlegte sie mit den unerfüllten Wünschen ihres eigenen Lebens. Je weiter die Zeit fortschritt, desto größer wurden die Diskrepanzen zwischen der Realität und ihrer inneren Erzählung, die sie schon zu Beginn ihrer exzentrischen, seltsamen Beschäftigung weder klar trennen konnte noch wollte. Während Eva an ihrem Laptop tatsächlich Beipackzettel für Medikamente übersetzte, schrieb sie in Lydias Fantasie Kinderbücher. Während Evas gerne in einem adretten Anzug gekleideter Mann Jan (Marc Hosemann) in Lydias Ausschmückungen zweifellos ein wichtiges Amt im Staatsdienst ausfüllte, arbeitete er tatsächlich, wenn auch in höherer Funktion, in einem Autohaus. Und während sich Lydia im Haus gegenüber die Schönheit einer Idylle vorstellte, zerbrach das augenscheinliche Familienglück dort doch zusehends.

Interessant wird es nicht erst, wenn diese Widersprüche in den letzten Minuten des Films unüberwindlich werden. Die feinfühlige, einnehmende Introspektion, die vorsichtige und dabei nicht minder kraftvolle Sektion des intimen Lebens seiner Figuren erweckt schon vorher eine große Faszination.

Deutsche Fernsehfilme – besonders die schlechten – haben eine grässliche Unart: Sie überladen ihre Symbole, sie bauen mit großer Anstrengung allerhand diffuse Allegorien auf, hinter denen sich dann nur die ärgsten Banalitäten verstecken. Auch «Ich war eine glückliche Frau» arbeitet gern mit Symbolen: Doch seine Symbolhaftigkeit ist eine äußerst gehaltvolle. Die von Jan versetzte Blutbuche wird nicht zum Stein des Anstoßes erhoben, aber ihre Platzierung im Garten versperrt doch den Blick in das nachbarliche Innenleben oder gibt ihn frei – tatsächlich und symbolisch. Jan Sanders fühlt sich zunehmend eingeengt von seinem wohlständigen, aber nicht minder bürgerlichen Leben. Er erkennt in seinem mittleren Alter, dass er ein Gefangener von Verbindlichkeiten ist, und die Bande der Familie, die ihm diese bürgerlichen Zwänge erleichtern sollen, verlieren für ihn zunehmend an Attraktivität. Schon im Zustand der Verzweiflung flüchtet er sich in Baumverpflanzungen und Hausrenovierungen, hängt Bilder um, reist allein nach Israel. „Er wollte etwas verändern. Die Frage war nur: Was?“, konstatiert Eva in ihrer Rückschau, und nichts kann dies besser zeigen und fassbar machen als die so deutliche wie hintergründige Symbolkraft dieses Films, nicht überladen und gerade deswegen vielsagend.

Auch die Architektur der Spielorte verdeutlicht die Haltungen der Figuren. Die Sanders leben in einem modernen Haus mit Flachdach, breiten, hohen Glasfronten und weißem Anstrich. Das Haus der Bloks dagegen ist älter, mit geneigtem Dach und allerhand ausgebauten Gauben. Hier trifft eine Moderne auf eine ältere Bürgerlichkeit, die Lebensrückschau auf ein Leben, das noch im Begriff ist, geformt zu werden. Am Schluss – so viel nimmt der Film selbst vorweg – zerbricht freilich das (vermeintliche) Familienglück der Sanders, während Lydia aus dem Leben scheidet, nachdem sie ihr letztes Jahr nur noch in der Familienfantasie der Nachbarn existiert hatte. Jede Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen und der gelebten Realität hatte dabei die vernichtendsten Auswirkungen auf ihren Geisteszustand gehabt.

Vor allem das unnötige, zum Rest des angenehmen Duktus völlig unpassende Voice-Over, das einige Schlüsselmomente des Films kommentiert und ihn mit pseudophilosophischen Gedanken zu Beginn und Ende einrahmt, schmälert die gelungene Wirkung dieses ansonsten gänzlich unprätentiösen Films etwas. Doch insgesamt macht er sehr viel aus der interessanten, innovativen Perspektive, mit der er das Leben seiner Protagonisten betrachtet, und stellt im Titel eine zweischneidige Disposition in Aussicht, die er gekonnt zu kommentieren versteht – ein wenig so, wie sich Albert Camus den Sisyphos aus der griechischen Mythologie vorgestellt hat. Das mit viel Bedacht besetzte Ensemble aus Petra Schmidt-Schaller, Rainer Bock, Marc Hosemann und einer besonders versierten Imogen Kogge trägt einen entscheidenden Anteil dazu bei, diese spannende, intelligente Geschichte auch emotional fassbar zu machen.

Das Erste zeigt «Ich war eine glückliche Frau» am Mittwoch, den 18. Oktober um 20.15 Uhr.

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