Filmfacts: «The Florida Project»
- Regie und Schnitt: Sean Baker
- Produktion: Sean Baker, Chris Bergoch, Kevin Chinoy, Andrew Duncan, Alex Saks, Francesca Silvestri, Shih-Ching Tsou
- Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch
- Darsteller: Willem Dafoe, Brooklynn Prince, Bria Vinaite, Valeria Cotto, Christopher Rivera, Caleb Landry Jones
- Musik: Lorne Balfe
- Kamera: Alexis Zabe
- Laufzeit: 111 Minuten
- FSK: ab 12 Jahren
Nachdem Baker im von der Kritik gefeierten, ausschließlich mit dem iPhone gefilmten «Tangerine L.A.» den Subkosmos Transgender-Prostituierter behandelte, beleuchtet er in «The Florida Project» die ganz eigene Welt Quasi-Obdachloser in Florida. Dort, wie in manch anderen hart von den Nachwehen der Wirtschaftskrise gebeutelten US-Regionen, mieten sich viele arbeitslose oder zumindest von Job zu Job tingelnde Menschen in Billigmotels ein, weil sie sich keine Wohnung leisten können oder wollen. Das Leben in Billigmotels ist zwar Monat für Monat gerechnet mindestens ebenso teuer wie das in einem kleinen Apartment. Allerdings lassen sich in den fertig eingerichteten Motels die Mieten wöchentlich abbezahlen, was bei knapper Kasse gleich zwei Vorteile bietet, die manchen Personen wichtiger sind als die Möglichkeit, ein paar Dollar an Miete im Monat zu sparen.
Nahe Orlando wird dieser ungewöhnlichen Lebenssituation dadurch bittere Ironie hinzugefügt, dass die gesellschaftlich Ausgestoßenen ihr Dasein in farbenfroh-kitschigen Absteigen fristen, die mit ihrem bunten Äußeren und ihren albernen Namen versuchen, vollkommen ahnungslose Disney-Touristen anzulocken. Der unterschwellige bis unausgesprochen-offensichtliche Disney-Einfluss reicht in «The Florida Project» aber noch darüber hinaus. Disneys Zauberwelt ist nämlich für die Protagonisten ein geografisch so naher, letztlich trotzdem praktisch ungreifbarer Silberstreif am Horizont ihrer Moral.
Dies zieht im Zusammenhang mit der Erzählperspektive der meisten «The Florida Project»-Sequenzen den Giftzahn, den viele ähnliche Dramen (und auch Dokumentationen über soziale Brennpunkte) aufweisen. Dieser unter anderem für den Academy Award nominierte Film ist kein "Elendsporno", der dazu da ist, dass sich sein Publikum über die handelnden Figuren erhaben fühlen kann und "Mensch, Mensch, die armen Leutchen, zum Glück hat's mich nie so erwischt" murmelnd den Kopf schüttelt.
Baker erzählt ohne den leisesten zynischen Anflug vom Leben in einer dieser Motelanlagen, Magic Castle, indem er die Sicht des sechsjährigen Mädchens Moonee (Brooklynn Prince) einnimmt. Diese ist sich ihrer deprimierenden Lebensumstände, wenn überhaupt, nur bruchstückhaft bewusst ist und hat in ihrer Mutter Halley (Bria Vinaite) eine liebende, wenngleich auch völlig verantwortungslose Mutter. In lose zusammenhängenden Anekdoten zeigt Baker Moonee und ihre Freunde, wie sie mit schelmischer Attitüde (und nicht etwa aus Hunger und Not) Touristen um Geld für Eis anbetteln, Motelmanager Bobby (Willem Dafoe) den letzten Nerv rauben, indem sie Schabernack treiben, oder unbeaufsichtigt von Motel zu Motel zu Grünanlage zu Motel rennen.
Das unaffektierte (teils improvisierte) Zusammenspiel der Rasselbande, die viel Chaos treibt, doch nie Böswilligkeit zeigt, erinnert an eine zeitgemäße Variante der «Die kleinen Strolche»-Kurzfilme, die frech-liebenswerte Kinder und deren Streiche zeigen – all dies vor dem Hintergrund der Großen Depression. Baker spielt die klaffende Diskrepanz zwischen dem Spieldrang seiner Kinderfiguren und der misslichen wirtschaftlichen Lage derer Eltern zwar mit messerschafer Schreibe aus, dennoch überwiegt in «The Florida Project» die erstaunliche Unbeschwertheit der Hauptfiguren – bittersüße Feststellungen sind zumeist ein prägnanter Nachgeschmack. Etwa, wenn die naiven, von ihren Eltern nicht beobachten Kinder nur deshalb nicht zum Opfer eines Kinderschänders werden, weil Motelmanager und "Bube für alles" Bobby im richtigen Moment nicht etwa auf eine zu streichende Wand, sondern gen Picknickwiese blickt.
Gemeinhin ist Dafoe das Glanzstück des Films. Zwar gelingt Brooklynn Prince der Balanceakt zwischen Quälgeist und munterem Chaoskind mühelos und Neuentdeckung Bria Vinaite schafft es mit ihrer Partygirl-Stimme und den wenigen, genau platzierten Momenten, in denen sie besorgt dreinblickt, ihre Rolle als "Mutter, die viel lieber nur die Teenie-Schwester wäre, die ab und zu Babysitter spielt" anzulegen. Dennoch zieht Dafoe unangestrengt am restlichen Ensemble vorbei und ist als nachsichtiger, trotzdem auch nötige Härte zeigender Hotelmanager, der für seine Dauergäste eine Art Vater darstellt, die Seele des Films. Dafoe spielt diese Rolle mit einer ansteckenden Freude, lässt aber durchweg einen leichten Weltschmerz und eine leichte Verzweiflung über die Probleme in seinem Magic Castle durchschimmern, womit er quasi die Essenz von «The Florida Project» verkörpert.
Und obwohl der in knallig-sonnigenen 35mm-Bildern eingefangene Film Disney als das Paradies knapp außerhalb der Leinwand skizziert, lässt Baker es sehr wohl zu, dass Walt Disney World dramatische Schatten auf Moonee und Halley wirft. Die frühe Schlüsselszene des Films dürfte jene sein, in der Halley bei der Arbeitsvermittlung kritisiert wird, weil sie einen Minijob hingeschmissen hat. Sie verteidigt sich, dass sie vom Chef bedrängt wurde, was ihr Gegenüber nicht mit der leisesten Reaktion würdigt – und jammert kurz darauf, dass sie so, wie sie aussieht, doch niemals "in den Parks" genommen werden würde.
Das ist ein großes Maß an Behördenkritik, ein Deut "Tja, Halley, sieh ein, du bist nicht für jeden Job gedacht" und eine Prise "Wenn sich der Großteil der Wirtschaft einer ganzen Region um ein Business dreht, sind die, die dort nicht reinpassen, arm dran". Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind? Das weiß Halley beim besten Willen nicht, und Baker überlässt das Urteil allen Zuschauerinnen und Zuschauern individuell.
«The Florida Project» ist ab sofort in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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