Die Kritiker

«Roma» - Ein Anti-Netflix-Film

von   |  3 Kommentare

Alfonso Cuaróns umschwärmter Award-Anwärter «Roma» startet weltweit bei Netflix, dabei ist der Film für alles gemacht, außer dafür, auf einem Streamingportal verramscht zu werden. Drei Gründe, weshalb das eine Tragödie ist.

Filmfacts: «Roma»

  • Start: 14. Dezember bei Netflix
  • Genre: Drama
  • FSK: 12
  • Laufzeit: 130 Min.
  • Musik: Peter Hinderthür
  • Kamera: Alfonso Cuarón
  • Buch & Regie: Alfonso Cuarón
  • Darsteller: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Diego Cortina Autrey, Carlos Peralta, Marco Graf, Daniela Demesa
  • OT: Roma (MEX/USA 2018)
Die Einen nennen es großzügig, wir legen uns auf armselig fest: Als sich Alfonso Cuaróns Schwarz-Weiß-Drama «Roma» in den vergangenen Monaten immer mehr zu einem ernst zu nehmenden Award-Kandidaten herauskristallisierte, entschied sich der Streaming-Gigant Netflix kurzerhand dafür, den Film auch vereinzelt in die Kinos zu bringen. Der Grund dafür hat allerdings nichts mit einer künstlerischen Entscheidung zu tun, sondern einfach mit Kalkül: Nur ein Film, der auch im Kino gelaufen ist, darf überhaupt ins Rennen um solch prestigeträchtige Preise wie den Acadamy Award gehen. Die Zuschauer, die die Gelegenheit hatten, «Roma» auf der großen Leinwand zu sehen, hatten daher einerseits Glück. Ihnen ist die Schönheit der amerikanisch-mexikanischen Produktion nämlich so zuteil geworden, wie es sich «Gravity»-Regisseur Cuarón einmal vorgestellt haben dürfte (vorausgesetzt, man hatte nicht so wie wir das Pech, in einer Vorstellung zu sitzen, in der der Projektor viel zu hell eingestellt ist). Andererseits sind sie der Marketingstrategie des Streamingriesen aber auch genau so auf den Leim gegangen, wie man es sich dort oben im kalifornischen Los Gatos im Idealfall vorgestellt haben dürfte, denn ein nicht unerheblicher Teil der Kinoeinnahmen geht über Kurz oder Lang auch an Netflix selbst.

Es ist also nicht zu leugnen, dass uns als Filmliebhabern bei dieser Veröffentlichungstaktik ein wenig die Galle hochkommt. Zeigt sie doch, dass Netflix zu keinem Zeitpunkt daran gelegen ist, Kunst zu fördern; wäre dem so, hätte man «Roma» nämlich auch ohne das Schielen auf Filmpreise im Kino ausgewertet - dort gehört dieser Film nämlich verflucht nochmal hin!

Roma, Anfang der Siebzigerjahre


Cleo (Yalitza Aparicio), arbeitet als Hausangestellte und Kindermädchen für eine wohlsituierte Familie in einem mittelständischen Viertel namens Roma in Mexiko-Stadt. Die sozialen und häuslichen Hierarchien sind in dieser Zeit klar definiert, auch die politischen Unruhen der Siebzigerjahre kreieren eine Atmosphäre der allgegenwärtigen Spannung. Zwischen alldem versucht sich Cleo daran, ein eigenes Privatleben aufzubauen. Doch als sie bei der Verkündung ihrer Schwangerschaft von dem Kindsvater verlassen wird, steht die junge Frau alleine da. Also begibt sie sich auf die Suche nach ihm, muss allerdings feststellen, dass es Frauen in dieser Zeit nur schwer möglich ist, sich gegen die ihnen auferlegte Rolle der schweigsamen Hausfrau aufzulehnen...

Alles, aber auch wirklich alles an «Roma» widerspricht so deutlich den ungeschriebenen Gesetzen der heimischen Streamingnutzung, dass der Film eigentlich als ideales Anschauungsmodell fungieren würde, um zu erklären, weshalb der steigende Zuspruch für Netflix und Co. ein solches Drama für Lichtspielhäuser darstellt. Es sind nicht nur die prächtigen Aufnahmen Mexikos, die Cuarón hier erstmals auch aus der Position des Kameramanns einfängt: Seine Bilder umfassen ganze Welten, weil nicht bloß das Vordergründige spannend ist, sondern sich im Hintergrund noch viele weitere Geschichten abspielen. «Roma» ist auf visueller Ebene ein üppiger Film, dem man anmerkt, wie viel er zu erzählen hat. Jedes Bild umfasst mehrere Erzählperspektiven, wodurch es dem Regisseur gelingt, das gesellschaftliche wie politische Lebensgefühl der Siebzigerjahre nur dadurch einzufangen, dass auf jedem Zentimeter seiner Bilder etwas Anderes passiert. Cuarón nutzt den Platz vor der Kamera optimal aus, erzählt auf verschiedenen Ebenen und zeitweise ganze Handlungsstränge binnen einer einzelnen 360-Grad-Wendung, die auch von den Schauspielern regelrechte Performance-Choreographien erfordern, in denen jeder Schritt, jeder Blick und jede Handlung ganz genau geplant sind.

Es lohnt sich, dafür die schleppende erste Hälfte zu überstehen, nur um zu sehen, wie «Roma» in der zweiten so richtig aufblüht. Womit wir beim zweiten Punkt wären, in dem die Auswertung auf Netflix gegen die Art und Weise spricht, wie der Film funktioniert: Mit seinen 130 Minuten ist «Roma» nämlich sehr lang und um die in der ersten Hälfte forcierte Atmosphäre der allgegenwärtigen Monotonie einzufangen, geht Cuarón den Weg, seinen Film eben auch genau so zu inszenieren: monoton. Das erinnert an Jim Jarmuschs «Paterson», der durch diesen Kniff der andauernden Wiederholung auf ähnliche Weise die Geduld des Publikums strapazierte. Doch nur so bekommt man mit der Zeit ein Gefühl für das Leben der Hauptfigur Cleo. Im Kino hat man zwar die Möglichkeit, zu gehen, wenn einem das Gezeigte nicht zusagt, doch da man ja zuvor auch Geld für das Ticket ausgegeben hat, ist die Hemmschwelle groß und die Chance, dass man sich eben doch noch auf das Leinwandgeschehen einlässt, definitiv vorhanden. Zuhause kann man skippen, wenn es einem zu langweilig wird. Doch wer das tut, bekommt eben auch nie die Möglichkeit, zu erleben, wie aus «Roma» mit der Zeit einer der besten Filme des Jahres wird.

Zu guter Letzt besteht Kino aber eben nicht nur aus einer großen Leinwand und dröhnenden Lautsprechern (die Soundkulisse, die jedes noch so subtile Umgebungsgeräusch in seine Einzelteile zerlegt, ist der absolute Wahnsinn!), sondern auch aus dem Erlebnis, einen Film in großer Gemeinschaft zu erleben. Kein Film ist dafür aktuell besser dafür geeignet als «Roma». Das hat nichts damit zu tun, dass es sich in großer Gruppe besser lachen, weinen oder gruseln lässt. Stattdessen erzählt Cuarón einen Film über klassen- und altersübergreifenden Zusammenhalt. Und dieses Gefühl lässt sich mit vielen anderen Menschen einfach viel intensiver aufsaugen, als wenn man sich «Roma» alleine zuhause anschaut.

«Roma» ist ab sofort bei Netflix streambar.

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Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
Nr27
16.12.2018 19:57 Uhr 1
Der Umgang mit den Filmproduktionen ist (neben einer generell auf mich recht arrogant wirkenden Haltung der hochrangigen Manager) der Hauptgrund, warum mir als Kinofan Netflix sehr unsympathisch ist und ich den Laden (trotz vieler Serien, die ich sehr gerne sehen würde) boykottiere. Dann doch lieber Amazon, die ganz bewußt darauf setzen, ihre Filme auch relativ breit in den Kinos zu zeigen.
str1keteam
16.12.2018 21:50 Uhr 2
Ein intimes Charakterdrama in schwarz-weiß und spanischem O-Ton mit Untertiteln wäre natürlich auch breitflächig in ganz Deutschland in allen Multiplexen gelaufen und von Zuschauern überrannt worden. :roll:



Mal ganz davon abgesehen, dass Netflix solchen und zahllosen anderen Nischenproduktionen Budgets zur Verfügung stellt, die kein normales Studio verantworten würde und damit natürlich absolut das Recht hat, es in erster Linie exklusiv zu vermarkten, ist es generell verlogen und weltfremd über den limitierten Alibi-Start zu jammern.



Ein Film wie Roma hätte weder in den USA noch in Deutschland oder irgendeinem anderen nicht-spanischsprachigen Land einen breitflächigen Start erhalten, sondern wäre nur kurz in einigen Großstadtkinos und kleinen Arthouse-Kinos mit technischer Ausstattung aus den 90-ern gelaufen. Wenn so eine unspektakuläre OmU Produktion 250.000 Kinozuschauer in Deutschland anlockt, wäre das selbst mit Oscar-Buzz schon verdammt viel gewesen.



Diese Art von Filmen haben auch die meisten Filmfans schon lange vor Netflix erst im Heimkino (über DVD bis zurück zur VHS) oder im TV sehen können. (Für bildgewaltige Klassiker, die vor der eigenen Zeit im Kino liefen, gilt das Gleiche und auch für The Godfather, Apocalypse Now oder 2001 brauchte es keine riesige Leinwand, um sich in diese Filme zu verlieben. Die Filmfans der 80er oder 90-er hatten nicht mal die heutigen 50 Zoll aufwärts 4K Bildschirme sondern 4:3 Bildröhrenungetüme mit SD Auflösung und im Schnitt 70 cm Bilddiagonale und haben diese Meisterwerke nicht weniger geliebt. Kino mag einen Extrakick geben, aber wenn ein Film gut ist, dann ist er auf allen Flächen gut. Das ein Film nur mit Bombastsound und Megaleinwand sehenswert ist, trifft in erster Linie auf leere Popcornspektakel zu. )



Auch der Punkt, dass man im Heimkino schnell mal vorspulen kann, wenn es langweilig wird, ist in diesem Zusammenhang kompletter Humbug. Die Zuschauer, die sich gezielt an so eine Arthouse-Produktion wagen, spulen ganz sicher nicht vor. Filmbanausen, die im Heimkino vorspulen, würden im Kino vielleicht nicht direkt gehen, aber wahrscheinlich mehr aufs Smartphone als auf die Leinwand schauen oder das Umfeld mit ihrem persönlichen Audio-Kommentar nerven. Im Heimkino von solchen Gestalten oder klugscheissernden Quasselstrippen verschont zu bleiben, ist für mich sogar ein weiterer Punkt, froh zu sein, Roma dank Netflix schon jetzt anstatt erst in 3-6 Monaten sehen zu können.





Wenn The Irishman startet, wird es die gleiche Diskussion geben und auch da werden sich wieder Experten finden, die nur über den Alibi-Kinostart vom Leder ziehen und komplett ignorieren, dass es den Film ohne Netflix nicht geben würde, weil sich jahrzehntelang kein Studio gefunden hat, das Scorsese 100 oder gar die letztlichen 150 Mio für ein klassisches Gangsterepos mit Altstars zur Verfügung gestellt hätte.
Sentinel2003
17.12.2018 12:46 Uhr 3
.....ist bei mir auch ganz, ganz selten, daß ich einen Film vorspule....
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