First Look

«The Society»: Netflix' beste Jugendserie?

von

Nach dem Verschwinden ihrer Eltern müssen sich die Minderjährigen in einer putzigen US-Kleinstadt neu sortieren. Das erzählt Netflix trotz aller Melodramatik doch angenehm politisch.

Cast & Crew

Schöpfer: Christopher Keyser
Darsteller: Kathryn Newton, Gideon Adlon, Sean Berdy, Natasha Liu Bordizzo, Jacques Colimon, Olivia DeJonge, Alex Fitzalan u.v.m.
Executive Producer: Marc Webb und Christopher Keyser
In der reichen Kleinstadt West Ham stinkt es seit einiger Zeit bestialisch. Keiner weiß, warum. Obwohl die Behörden beteuern, dass der abartige Gestank keinerlei Gesundheitsgefahr darstelle, wird beschlossen, die Minderjährigen sicherheitshalber aus der Stadt zu karren, bis die Ursache behoben wurde. Doch aus unerfindlichen Gründen macht der Busfahrer bei der Evakuierungsfahrt kehrt und bringt die High-School-Meute zurück in das Städtchen. In der kurzen Zwischenzeit ist der Ort zur Geisterstadt mutiert, und alle Erwachsenen sind spurlos verschwunden. Willkommen in einem elternlosen Paralleluniversum.

Erzählerisch ist das – trotz des bemühten wie mühseligen Aufbauens eines umfassenderen Mysteriums – freilich nur Beiwerk, das man akzeptieren muss, um zum eigentlichen Kern dieser Serie vorzustoßen. Denn bei übermütigen durchtrainierten High-School-Footballern, die ihre Bierdosen nun nicht mehr vor Mom und Dad verstecken müssen, brennen jetzt ob der neuen Möglichkeiten binnen Minuten alle Sicherungen durch. Bis zur ersten Sturm-und-Drang-Party quer durch die Ortskirche dauert es freilich nicht lange – und schon beginnt der langsame Zusammenbruch der Zivilisation, während die Teenager Stück für Stück den Weg in die Barbarei beschreiten. „Lord of the Flies“, wir hören dein Trapsen überdeutlich.

Es dauert einige Folgen, bis sich die Situation so weit zuspitzt, dass sie interessant wird. Doch sind einige zivilisatorische Tabus erst überschritten, wird aus «The Society» eine kluge (und gleichzeitig zielgruppen-altersgerechte) Dekonstruktion von Machtstrukturen, Gerechtigkeit, Politik und der letztlich schockierenden Fragilität aller gesellschaftlichen Strukturen.

In moderner TV-Abwandlung kennt man dieses Motiv natürlich bereits von den «Walking Dead», die sukzessive neue Modelle und Konstrukte vorstellen, um in einer post-apokalyptischen Welt mit ubiquitärer Bedrohung irgendwie zu überleben: die permanente Wanderschaft, der Rückzug auf ein Landgut, das Verschanzen in einem verfallenen Knast, die autoritär-faschistische Law-and-Order-Kleinstadt. Doch während AMCs Zombie-Epos diese Szenarien schier gebetsmühlenartig abhandelt, um sie alle nacheinander zu verwerfen, wirkt die Trial-and-Error-Prozedur zur radikalen Neuorganisation des Alltagslebens der «Society» stringenter, durchdachter und weniger gewollt. Man mag es angesichts der sehr zurückhaltenden Gewaltszenen von «The Society» und den Blutorgien der «Walking Dead» kaum glauben, aber AMCs aufwendige Sci-Fi-Serie erzählt seichter als das Young-Adult-Format von Netflix.

Natürlich ist auch «The Society» dabei sehr allegorisch, und findet damit genau den richtigen Zugang zu seinen Themen: Das Abgleiten der Gesellschaft in die Lügendiktatur wird nicht erklärt, es wird gezeigt, schrittweise, kompliziert, mit komplexen, vielseitigen, zerrissenen Figuren und verschachtelten Interessenskonflikten. Dass zur reibungslosen Zielgruppenschmackhaftmachung dazu erst folgenweise ein breites Wer-mit-wem-Spektrum etabliert werden muss, kann man bei diesem Ergebnis glatt verzeihen.

«The Society» ist bei Netflix abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/109465
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