Filmfacts: «Roads»
- Start: 30. Mai 2019
- Genre: Drama/Roadmovie
- Laufzeit: 99 Min.
- FSK: 6
- Kamera: Matteo Cocco
- Buch: Sebastian Schipper, Oliver Ziegenbalg
- Regie: Sebastian Schipper
- Darsteller: Fionn Whitehead, Stéphane Bak, Ben Chaplin, Moritz Bleibtreu, Marie Burchard, Paul Brannigan
- OT: Roads (DE/FR 2019)
Auch sein neuer Film «Roads» wurde zum Großteil auf Englisch gedreht, die Hauptrollen darin spielen der später durch «Dunkirk» berühmt gewordene Fionn Whitehead sowie der französische Schauspieler Stéphane Bak («Elle»), die als ungleiches Duo den Sommer ihres Lebens verbringen. Das klingt nicht nur abgegriffen, sondern im Anbetracht der Umstände auch irgendwie zynisch, denn «Roads» ist des schlichten Titels zum Trotz kein banales Roadmovie mit der ewig gleichen Dramaturgie, sondern ein zutiefst ehrliches Plädoyer an die Menschlichkeit und im weitesten Sinne auch ein Flüchtlingsfilm, bei dem aber ebendiese Menschlichkeit dafür sorgt, dass die geschilderten Umstände nie zum Politikum werden. Und so geht es bis zum Schluss eben doch ausschließlich um eine ganz besondere Freundschaft.
Holprige Reise durch Europa
Der aus wohlhabenden Verhältnissen stammende, 18-jährige Gyllen (Fionn Whitehead) aus London hat das Wohnmobil seines Stiefvaters entwendet und ist dem Familienurlaub in Marokko entflohen, als er zufällig auf den gleichaltrigen William (Stéphane Bak) aus dem Kongo trifft, der versucht, die Grenze nach Europa zu überwinden, um dort seinen verschollenen Bruder zu suchen. In diesem Moment größter Verlorenheit beschließen die beiden Verbündete zu werden: Angetrieben von jugendlicher Abenteuerlust bahnt sich das ungleiche Paar seinen Weg durch Marokko, Spanien und Frankreich bis nach Calais. Während die Freundschaft und das Vertrauen der jungen Männer zueinander mit jedem Tag wächst, werden sie mit Entscheidungen konfrontiert, die nicht nur ihr eigenes Leben nachhaltig beeinflussen, denn früher oder später müssen sich die beiden ihrer ganz eigenen Realität stellen…
Gerade im deutschen Kino hat sich in den vergangenen Jahren ein regelrechter Trend zum Roadmovie entwickelt. Zwei oder mehr Freunde gehen auf die Reise, nicht selten ist einer von ihnen schwer krank. «Die Goldfische», «25 km/h», «Männertag», «Hin und weg» oder «Der geilste Tag» gaben vor einer Weile sogar der deutschen Abendshow «Late Night Berlin» mit Klaas Heufer Umlauf Anlass dazu, diese Entwicklung gewitzt aufs Korn zu nehmen. Es ist komisch, weil es wahr ist! Sebastian Schipper setzt sich mit «Roads» nun aber deutlich davon ab. Sein Film spielt zwar auch auf der Straße und im Mittelpunkt stehen zwei Freunde (wider Willen), gleichzeitig ist die Geschichte jedoch weit davon entfernt, eine Komödie zu sein und auch die Entwicklungen, die Schippers Film im Laufe seiner übersichtlichen 99 Minuten nimmt, verlaufen alles andere als genregemäß. Man kennt das: Die Hauptfiguren setzen sich ein Ziel und auf ihrem Weg von A nach B reiht sich eine komische Situation an die nächste. Nebenbei werden Bekanntschaften geschlossen und am Ende steht im besten Falle noch eine tiefschürfende Erkenntnis; die vergangenen Tage sollen schließlich nicht umsonst gewesen sein und der Zuschauer auch noch eine Botschaft aus dem Kinosaal mitnehmen.
In «Roads» passiert dagegen alles eher im Vorbeigehen, denn im Fokus steht einzig und allein die Entwicklung der Freundschaft zwischen Gyllen und William. Treffen die zwei unterwegs auf Fremde, hinterlassen diese nur partiell ihre Spuren; etwa bei einem Aufeinandertreffen mit einem windigen Deutschen, verkörpert von einem entfesselt aufspielenden Moritz Bleibtreu («Nur Gott kann mich richten») oder einer Gruppe von Flüchtlingen, denen die beiden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion helfen wollen.
Zwei Newcomer spielen groß auf
Wie jüngst auch der mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnete «Styx» betrachtet «Roads» die Flüchtlingsthematik auf eine subjektive, emotionale Weise. Das kann man aufgrund der sehr intimen Fokussierung, die niemals das große Ganze, sondern vorwiegend ein Einzelschicksal beleuchtet, oberflächlich finden, oder man kann die unkonventionelle Herangehensweise loben. Natürlich steht das Schicksal der (ohnehin fiktionalen) Figur William für sich, aber dem hier gemeinsam mit Oliver Ziegenbalg («Mein Blind Date mit dem Leben») auch als Autor tätigen Sebastian Schipper gelingt es dadurch ganz besonders, aufzuzeigen, was in Williams Inneren vor sich geht, sodass sich seine Probleme umso leichter auf seine Leidensgenossen übertragen lassen. Vor allem wenn die stetig an ihm und Gyllen klebende Kamera (Matteo Cocco, «Babai») hier durch Calais fährt und man abwechselnd schwer bewaffnete Polizisten und hilflose Flüchtlingsgruppen sieht, ergibt sich aus dem Hervorheben dieser Parallelwelten eine fast surreale Spannung.
- © Studiocanal
Überhaupt ist «Roads» ein durch und durch spannender Film, wenngleich nicht vergleichbar mit klassischen Thrillern oder Krimis. Stattdessen ist es die Prämisse der Flucht, mit deren Hilfe Schipper dem Film etwas Treibendes verleiht: Der Eine flieht aus der Armut, der Andere aus dem Reichtum in die Fremde – und in beiden Fällen sind die Beweggründe der Protagonisten nachvollziehbar.
Denn so sehr sich die um Identitätssuche und Familienfehden kreisenden Konflikte eines Gyllen auf den ersten Blick wesentlich ‚harmloser‘ anhören als die im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Probleme eines William, so nimmt sich das Skript doch gleichermaßen Zeit für beide. Jeder von ihnen hat sein ganz persönliches Päckchen zu tragen und mithilfe der sehr subjektiven Erzählweise kommen sie gleichberechtigt zur Geltung. Dabei bleiben Gyllens familiäre Hintergründe ein klein wenig unterbelichtet. Und auch die Geschichte rund um Williams Bruder hätte fast noch mehr Zeit vertragen; während der Lauflänge von gut 90 Minuten kommt zwar zu keinem Zeitpunkt Leerlauf auf, dafür wünscht man sich gar, noch ein wenig mehr an der gemeinsamen Zeit der beiden Jungs teilzuhaben. Denn auf ihrem Weg gelingen Sebastian Schipper nicht nur immer wieder Momente atemberaubender Schönheit, wenn die zwei einmal quer durch Europa reisen.
Gerade in den Szenen die das menschliche Zusammenleben unweigerlich stören – ein Zusammentreffen mit einer Gruppe rassistischer französischer Rowdies oder die Szene mit Moritz Bleibtreu – liegen Ideale und Realität so dicht beieinander, dass man die von den Jungen gelebte Naivität nur zu gern in sich aufsaugt. Umso härter wirkt das Ende, denn hier liegt den Machern nichts ferner, als die Augen vor der Realität zu verschließen. Wie bittersüß.
Fazit
Nach seinem einmaligen One-Shot-Trip «Victoria» zieht es Regisseur Sebastian Schipper mit «Roads» wieder in konventionellere Gefilde. Dabei hangelt er sich keineswegs an den klassischen Etappen eines Roadmovies entlang; im Gegenteil! Seine ganz eigene Version davon lebt von einer unberechenbaren Atmosphäre und davon, dass er die Augen nie vor der Realität verschließt.
«Roads» ist ab dem 30. Mai in den deutschen Kinos zu sehen.
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