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Das Verhörzimmer des neuen Netflix-Formats «Criminal» sieht etwas anders aus. Auf dem Tisch ist ein großer roter Button, der, mit genügend Nachdruck aktiviert, die Audioaufzeichnung startet. Hinter dem Verhörten an der Wand: adrette Holzschnitzereien. Das Nebenzimmer auf der anderen Seite der berüchtigten Einweg-Glasscheibe, von wo aus die polizeilichen Kollegen das Spektakel verfolgen, ist in bedrohlich dunkelrotes Licht getaucht. Und der hallenähnliche Vorraum eröffnet den Blick auf die wahlweise verregnete, trübe oder sonnige Stadt draußen.
Dieser größere ästhetische Anspruch ist nicht ohne dramaturgischen Grund: «Criminal» will aus der Verhörsituation nicht den Höhepunkt eines üblichen Krimis machen, der eineinhalb Stunden lang einen Beschuldigten nach dem anderen abgegrast hat und jetzt in der klaustrophobischen Zuspitzung ein letztes Mal zur Sache kommen will. Stattdessen verweilen wir zwölf Folgen lang jeweils die ganze Laufzeit über in der kammerspielartigen Enge: da, wo es um alles geht.
- © joseharo
In der ersten deutschen Folge sitzt dort ein älterer beleibter Mann, ein in Köln geborener Unternehmer, der im Wenderausch in den Osten rübergemacht hatte und seit fast dreißig Jahren in Berlin lebt. Als Immobilienhai hat er sich ein stattliches Vermögen erwirtschaftet, mitunter auf dem Rücken von Wendeverlierern, die ihm für ein paar blaue Fliesen die runtergekommenen Prenzlauer-Berg-Buden renovierten: so jemand wie Jens Kral, dessen nahezu drei Jahrzehnte alte Leiche vor kurzem bei Bauarbeiten gefunden wurde.
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Die englischen Polizeikollegen hören derweil von ihrem mutmaßlichen Täter (brillant wie immer in seinen Bösewichtrollen: David Tennant) nur eines: „no comment.“ Er soll seine vierzehnjährige Stieftochter sexuell missbraucht, ermordet und ihre sterblichen Überreste im Wald entsorgt haben. Doch die Indizienlage ist dünn. Den Cops ist klar: Nur er selbst kann sich ans Messer liefern. Doch dazu müssen sie ihn erst dazu bekommen, sein kalkuliertes Schweigen zu brechen.
Die spanische Beschuldigte (wunderbar exzentrisch: Carmen Machi) hört derweil gar nicht mehr auf, zu erzählen: von ihrer Hündin, ihrem ausschweifenden Sexualleben, ihrer behämmerten New-Age-Lebensphilosophie, ihrem drogensüchtigen Bruder. Doch hinter dem scheinbar unkontrollierten Gebrabbel steckt eine Strategie: Die Polizisten halten die Frau für eine eiskalte Psychopathin.
Trotz seines innovativen Ansatzes und der radikal anmutenden und un-fernseh-haften Beschränkung auf ein einziges Setting will «Criminal» sein Genre – den Krimi – nicht neu erfinden, und folgt strukturell gesehen einer überschaubar komplexen Mitknobeldramaturgie: Meistens ist der vorgeführte Täter tatsächlich schuldig, hin und wieder muss der alte Hase unter den Polizisten aber auch seine Arbeitshypothese korrigieren. Behutsam unterfüttert werden die Konflikte durch angestaute Dramen unter den Ermittlern: Ein Mitglied des französischen Kollegiums ist aufgrund eines Traumas eigentlich dienstunfähig und muss draußen auf dem Flur warten, in Deutschland spiegelt sich der Ost-West-Konflikt des Beschuldigten der ersten Folge auch im Ermittlerteam wider.
«Criminal» ist also Fernsehen im Regelbetrieb, mit einem überschaubaren intellektuellen Anspruch und bestenfalls angedeuteten sozio-politischen Untertönen. Das soll jedoch nicht als einschränkendes Negativkriterium missverstanden werden. Denn das Format ist handwerklich wie künstlerisch sehr gut gemacht, mit exzellent ausgearbeiteten Spannungsbögen, klug austariertem Figurenpersonal, einer kunst- und stimmungsvollen Inszenierung und hervorragender Besetzung.
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«Criminal» ist in seinen deutschen, französischen, spanischen und britischen Varianten ab dem 20. September bei Netflix zu sehen.
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17.09.2019 21:04 Uhr 1