Die Kritiker

«Waking Sleeping Beauty»: Wie sich Disneys Tricksparte aus einem Tief ackerte (und prompt auf die nächste Krise zusteuerte)

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Von «Arielle» bis «Der König der Löwen»: Die sogenannte Disney-Renaissance musste einst mühsam erkämpft werden – und hinter der Fassade dieser Erfolgsgeschichte kriselte es weiter.

Filmfacts «Waking Sleeping Beauty»

  • Regie und Erzählung: Don Hahn
  • Produktion: Don Hahn, Peter Schneider
  • Drehbuch: Patrick Pacheco
  • Musik: Chris P. Bacon
  • Schnitt: Ellen Keneshea, Vartan Nazarian, John Damien Ryan
  • Laufzeit: 85 Minuten
«Arielle, die Meerjungfrau», «Die Schöne und das Biest», «Aladdin» und «Der König der Löwen»: Diese Filme sind nicht nur gigantische Kassenschlager, mehrfach preisgekrönte Triumphe des Zeichentrickkinos und Lieblinge ganzer Kinder-Generationen. Es sind auch Filme, die der Disney-Konzern selbst jetzt, Jahrzehnte später, auszuschlachten versteht. Alle dieser gemeinhin von Jung und Alt zu gleichen Teilen geliebten Zeichentrickklassiker wurden mit kostengünstig bis billig produzierten Fortsetzungen bedacht. Drei dieser vier Filme erhielten TV-Serienableger. Sie alle wurden schon mit einer Bühnen-Musicaladaption gesegnet. Und drei von ihnen haben bereits ein (Realfilm- oder Computeranimations-)Remake erhalten. Nur «Arielle, die Meerjungfrau» hat noch kein Remake – das ist aber bereits in Arbeit, und bis dahin stillt auf Disney+ «Arielle, die Meerjungfrau Live!» den Durst der Fans – eine besondere Fassung des Zeichentrickfilms, die mehrmals durch Musik- und Tanzeinlagen von Stars wie Shaggy, Queen Latifah, John Stamos und Auli'i Cravalho unterbrochen wird.

Dieses Quartett an Filmen hat das Disney-Zeichentrickstudio aus einem völligen Tief gezogen und erfolgreich verhindert, dass Disneys Animationssparte dicht macht. Denn man mag es heute kaum noch glauben – doch es gab eine Zeit, in der die Tricksparte so etwas wie das ungeliebte Kind des Disney-Konzerns war. «Waking Sleeping Beauty» erzählt, wie die Disney-Trickstudios auf ihr Tief zusteuerten, wie sie dort wieder heraus gefunden haben – und welche Egos auf diesem Weg verletzt wurden …

Hinter der Glitzerfassade


Von Entertainment-Gigant Disney veröffentlichtes Material über die eigene Konzernhistorie kann zweierlei Wege gehen. Das zeigt sich äußerst deutlich am sehr breit gefächerten Angebot an Film-Fachliteratur aus dem DIsney-Hause. Manche Bücher richten sich an Kinder oder Familien und bieten bloß weichgespülte Informations-Bröckchen, wie man sie auch in Begleit-Featurettes findet, die im Fahrwasser eines Kinostarts zu Werbezwecken online veröffentlicht werden. Doch andere Disney-historische Bücher graben sehr wohl tief und nehmen eine differenzierte Position ein – das sind Veröffentlichungen, die sich an erwachsene Filmfreaks richten, die eh schon wissen, dass in fast 100 Jahren Konzerngeschichte wohl kaum alles astrein ablaufen konnte. Ob man es mit Werbefluff oder mit relevanter filmhistorischer Auseinandersetzung zu tun bekommt, zeigt sich jedoch meistens erst, sobald man die Bücher aufschlägt – am Einband allein lassen sich diese zwei Güteklassen selten voneinander unterscheiden.

Ähnlich verhält es sich mit Disney-Dokumentationen über Disney. Allein schon die frühen Disney+-Exklusivtitel haben zwei sehr unterschiedliche Positionen abgedeckt: Während die Dokuserie «The Imagineering Story» einen ambitionierten und faszinierten, doch auch (eingangs) sachlichen Blick auf die Geschichte der Disney-Themenparks bietet, ist der "Dokumentarfilm" «Ein Tag bei Disney» eine gigantische, plüschige Disney-Werberolle. Zuckrig, daueroptimistisch und spürbar vom Gedanken besessen, dem Publikum neue Produkte aufzuschwatzen.

Dass es auch völlig anders geht, beweist der Dokumentarfilm «Waking Sleeping Beauty», der bereits 2009 seine Weltpremiere feierte und 2010 limitiert in die US-Kinos entlassen wurde – wo er brutal unterging. Weniger als 85.000 Dollar wurden in die Kinokassen gespült. Während in Frankreich trotzdem noch eine Kinoauswertung sowie eine Heimkinoveröffentlichung folgten, blieb dies deutschen Filmfans verweigert. Der Streamingdienst Disney+ erlaubt es endlich auch hiesigen Interessierten, sich jederzeit «Waking Sleeping Beauty» zu Gemüte zu führen, ohne zuvor eine DVD importieren zu müssen.

Ein mit Schweiß und Tränen erkämpftes, zwischenzeitliches Happy End


Im DVD- und Blu-ray-Bonusmaterial zu den frühen Filmen der sogenannten "Disney-Renaissance" wird manchmal angerissen, dass ein Film im Entwicklungsstadium so seine Probleme hatte. Und auf sogleich mehreren Editionen von «Die Schöne und das Biest» lassen sich Verweise darauf finden, dass die Zeichenkünstler ungeheuerlich wenig Zeit zur Fertigstellung des Films hatten. Das diese gülden glänzende Erfolgsphase der Disney-Trickstudios so ihre Schattenseiten hatte, verheimlicht also selbst der Disney-Konzern nicht.

Doch es ist eine absolute Rarität, in einem offiziellen Disney-Projekt längere Kommentare darüber zu finden, dass sich die Verantwortlichen hinter solchen Disney-Klassikern wie «Aladdin» vor lauter Überstunden fast zerschunden haben, dass sich Disney-Zeichner mittels gehässigen Karikaturen über wohlmeinende Vorgesetzte lustig machten und dass sich Walt Disneys Enkel Roy E. Disney in einen Kleinkrieg mit anderen Entscheidungsträgern im Unternehmen verhedderte. «Waking Sleeping Beauty» ist solch eine Rarität.

Erzählt wird all dies von Filmproduzent Don Hahn, der unter anderem hinter «Der König der Löwen», «Der Glöckner von Notre Dame» und «Fantasia 2000» stand. Er reiht in einem ruhigen, freundlichen Tonfall knappe Fakten und sehr spezifische, ausführliche Anekdoten zusammen, um das Publikum auf eine Zeitreise mitzunehmen, die in frühen 1980er-Jahren beginnt und Mitte der 1990er endet. Er schwärmt von einer Zeit, als in den Disney-Trickstudios die letzten Vertreter der alten Garde neue Talente anlernten, die später ebenfalls zu Trickfilmlegenden werden sollten. Er zeichnet ein Bild erster Zerwürfnisse innerhalb der Disney-Trickstudios und fasst den Zerfall des Ansehens des Disney-Markennamens zusammen. All dies begleitet von Audio-Archivaufnahmen, neu aufgenommenen (stets nur als Audiospur genutzten) Interviews und viel, viel Archiv-Videomaterial.

Was daraufhin folgt, ist nicht etwa der kometenhafte Aufstieg aus den üblichen Selbstbeweihräucherungsfilmchen. Stattdessen berichtet Hahn, erneut teils in knackigen Zusammenfassungen der Ereignisse, teils in detaillierten, exemplarischen Nacherzählungen spezifischer Geschehnisse, von einem dornigen Comeback der Disney-Trickstudios. Es geht um verletzte Egos, kleinliche Auseinandersetzungen, durch Starrsinn eingebrockte bürokratische sowie künstlerische Sackgassen – und um den strahlenden Erfolg, den das Studio parallel dazu feierte. Aber wie Hahns Nacherzählung unmissverständlich klar macht, glich Disney während der frühen 1990er-Jahre einem Pulverfass. Und so, wie der Kassen- und Kritikererfolg mit «Der König der Löwen» explodierte, explodierten 1994 (durch ein tragisches Ereignis beeinflusst) zudem die Gemüter – womit «Waking Sleeping Beauty» mit einer dramatischen, statt triumphalen Note endet.

«Waking Sleeping Beauty» schafft es somit, sich in bloß 85 Minuten ausgewogen mit den Mechanismen und Personen zu befassen, die für Disneys Erfolgsserie in den Jahren 1989 bis 1994 verantwortlich waren. Das ist dank kurioser und spaßiger Anekdoten gewitzt, und trotzdem stets ernst genug, um niemals den Anschein eines PR-Plüschprojekts zu erwecken. Laut «Waking Sleeping Beauty» haben keine edlen Prinzen und Ritter in weißer Rüstung die Disney-Trickstudios aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt – sondern auffallende Charaktere, Sturköpfe und eine hoch entzündliche Mischung aus Hochmut, Eifer und impulsiven Gemütern.

«Waking Sleeping Beauty» ist auf Disney+ abrufbar.

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