Die Kritiker

«365 Days» - Vergewaltigungsfantasie als Softporno

von

Auf Netflix kletterte die polnische Erotik-Thriller «365 Days» kurz nach Veröffentlichung auf Platz zwei der meistgesehenen Filme. Dabei ist der Inhalt des «Shades of Grey»-Verschnitts mehr als fragwürdig.

Filmfacts: «365 Days»

  • VÖ: Netflix
  • FSK: 16
  • Laufzeit: 114 Min.
  • Genre: Erotik/Drama
  • Kamera: Bartek Cierlica
  • Musik: Mateusz Sarapata, Michal Sarapata
  • Buch: Tomasz Klimala
  • Regie: Barbara Bialowas, Tomasz Mandes
  • Darsteller: Michele Morrone, Anna Maria Sieklucka, Bronislaw Wroclawski, Otar Saralidze, Magdalena Lamparska
  • OT: 365 dni (POL 2020)
Die bislang drei Teile umfassende Romanreihe „365 Dni“ der Schriftstellerin Blanka Lipinska galt bereits kurz nach Erscheinen im Jahr 2018 als eine Art „polnisches «Fifty Shades of Grey»“. In der erotischen Trilogie verliebt sich ebenfalls ein attraktiver Geschäftsmann in eine junge Frau und verlangt von ihr, sich ihm vollständig zu ergeben und sie dafür mit Liebe und Sex zu belohnen. Doch es gibt neben den deutlich drastischeren Sexszenen einen entscheidenden Unterschied: Steht es der weiblichen Hauptfigur in «Shades of Grey» nicht bloß jederzeit frei, sich dieser insbesondere in Teil eins so fragwürdigen Beziehung zu entsagen, wird die Protagonistin in «365 Days» – so der Netflix-Titel – entführt. Darüber hinaus kann man der «Shades of Grey»-Filmreihe zwar einen arg misslungenen, die SM-Szene gefährlich verfälschenden und die Beziehung zwischen Christian Grey und Anastasia Steele als Paradebeispiel für ein toxisches Miteinander darstellenden Auftakt vorwerfen. Doch im weiteren Verlauf der Reihe verlieren die Filme zwar nicht unbedingt an Seichtheit und Kitsch, dafür setzen sie sich überraschend ernst mit dem gefährlichen Verhalten des männlichen Hauptcharakters auseinander und konturieren darüber hinaus seine nicht mehr bloß als Gespielin dargestellte Freundin genug, um beide schließlich auf Augenhöhe zu positionieren.

Nun kann es natürlich sein, dass sich auch «365 Days» in Teil zwei und drei noch in erzählerisch überraschende Höhen emporschwingt. Doch nach dem katastrophalen Auftakt, der die erzwungene Liebe zwischen Kidnapper und Entführungsopfer als in schummriges Licht getauchte Männerfantasie darstellt, ist das kaum anzunehmen.



365 Tage um sich zu verlieben


Die Geschäftsfrau Laura (Anna Maria Sieklucka) macht mit ihrem Freund Urlaub auf Sizilien. Hier will das Paar gemeinsam ihren Geburtstag feiern – und ganz nebenbei versuchen, seine eingeschlafene Beziehung zu retten. Doch es kommt ganz anders: Als Laura eines Abends plötzlich auf den attraktiven Mafiaboss Massimo (Michele Morrone) trifft, ist sein Interesse an der wunderschönen Brünetten geweckt. Doch die hat kein Interesse an dem Macho und hat die Begegnung mit dem jungen Mann fast schon wieder vergessen, als dieser beschließt, Laura zu kidnappen und ihr ein Ultimatum zu stellen: Innerhalb eines Jahres soll sie sich in ihn verlieben. Nur wenn sie es nicht tut, wird er sie nach 365 Tagen laufen lassen. Nach anfänglicher Skepsis erweist sich die Entführung für Laura als faszinierendes Dominanzspiel, bei dem sie Massimo nach und nach verfällt…

Es gibt immer wieder Studien darüber, dass Vergewaltigungsfantasien zu den häufigsten erotischen Fantasien gehören – und zwar nicht von Männern, sondern von Frauen. Insofern lässt sich ein Plot wie jener in «365 Days» nicht automatisch als perverse Erfüllung eines Männertraums abtun. Erst recht, weil ja nicht bloß die Romane von einer Frau geschrieben sind, sondern mit Barbara Bialowas («Big Love») auch noch eine Frau die Co-Regie übernahm und am Drehbuch mitwirkte. Und tatsächlich scheinen die Macher bei der Zeichnung von Protagonistin Laura auch im Hinterkopf gehabt zu haben, kein duckmäuserisches Mauerblümchen (als welches etwa Anastasia Steele zu Beginn der «Shades»-Reihe dargestellt wurde) etablieren zu wollen, sondern eine ebenso smarte wie toughe und gleichermaßen attraktive Frau, die weiß was sie will und selbst im Entführungsszenario ihrem Kidnapper niemals offensichtlich hörig ist.

Soweit die Theorie. Abgesehen von ihren beschränkten Schauspielfähigkeiten erfüllt die in «365 Days» ihr Spielfilmdebüt gebende Mimin Anna Maria Sieklucka mit ihrem Auftreten auch genau diese Voraussetzungen. Ihrem Entführer schaut sie stets selbstbewusst in die Augen, schon nach kurzer Zeit kommandiert sie Massimos Bedienstete ebenso selbstsicher durch dessen großes Anwesen wie ihr Entführer selbst. Doch den entscheidenden Ton angeben, die „Beziehung“ der beiden vorantreiben, das wird letztlich doch immer nur Massimo erlaubt – und die Zeichnung der vermeintlich so souverän in dieser Situation agierenden Laura unterstreicht bloß die Fantasie von der gefügigen Geliebten, die sich spätestens bei den ausladenden Nacktszenen genauso sexwillig zeigt wie ihr Entführer.

Unter diesen Voraussetzungen ließe sich ja sogar noch besser argumentieren, dass «365 Days» eben nicht einfach bloß billige Männer-, sondern eben auch erotische Frauenfantasie ist. Was nicht zuletzt auch den durchschlagenden Erfolg auf der Streamingplattform Netflix erklären würde; Schließlich ist die Auswahl an hochwertig produzierten Erotikfilmen für Frauen mit halbwegs valider Handlung arg gering, sofern man nicht direkt auf einschlägigen Pornoseiten danach suchen möchte. Doch das Regieduo aus Tomasz Mandes und Barbara Bialowas inszeniert sein Projekt eben nicht als für Männer und Frauen gleichermaßen attraktive Sexromanze, sondern nimmt klar die Position des Kidnappers Massimo ein. Das beginnt schon bei einer angedeuteten Hardcore-Fellatio-Szene in einem Flugzeug, die vermutlich nur deshalb die FSK-Freigabe ab 16 überstanden hat, weil man das beste Stück des Mannes nie zu Gesicht bekommt (die Brüste der Schauspielerin sieht man dafür permanent unverhüllt).

Stattdessen sehen wir aus Massimos Perspektive die angewiderten Augen der ihn beglückenden Frau – deren Kopf Massimo sogar in dem Moment festhält, als dieser zu seinem Höhepunkt kommt. Alles außer Schlucken scheint dem Macho nicht genehm zu sein. Diese regelrechte Aggressivität zu Beginn verseucht den weiteren Verlauf des Films; Es gibt gleich mehrere Oralsexszenen derselben Art. Das ist auch inszenatorisch plump-redundant.

Nicht nur inhaltlich fragwürdig, auch handwerklich grottig


Hinzu kommen Szenen wie diese, in der Massimo Laura gegen ihren Willen an Hand- und Fußgelenken am Bett fixiert, und von ihr sogar eine Art Dankbarkeit verlangt, wenn er sich – weil sie nicht will – vor ihren Augen von einer anderen beglücken lässt („Sieh dir an, was du verpasst!“). Und selbst wenn er sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf die junge Frau legt und ihr in einer Nahaufnahme die Angst ins Gesicht geschrieben steht, sorgen das Schummerlicht und die romantische Musik dafür, dass all das wie eine zweistündige Vorstellung davon wirkt, wie es ist, eine Gespielin zu haben, die man so lange bedrängt, bis diese einem tatsächlich jeden erotischen Wunsch erfüllt. Blöd nur, dass die Figur der Laura dabei vollkommen auf der Strecke bleibt, erdulden muss, was Massimo Spaß bereitet und schließlich auch noch zum Umdenken kommt, als dieser ihr das Leben rettet – schwimmen kann die junge Frau nämlich auch nicht. Wenn in der Mitte des Films dann plötzlich eine zugegebenermaßen sehr erotische, knapp fünfminütige Montage folgt, in der sich Massimo und Laura gleich mehrmals hintereinander leidenschaftlichem Sex hingeben, der nicht bloß ihn, sondern auch sie ausgiebig zu befriedigen scheint, scheinen sämtliche bisher angebrachten Kritikpunkte nichtig. Auch dass sie sich im weiteren Verlauf tatsächlich in ihren Entführer verliebt, ihn sogar heiraten will und die halbherzige Warnung ihrer besten Freundin ignoriert – schließlich hat ihr Lover nicht nur einen „von Gott geschaffenen Körper“, sondern auch noch den „Schwanz eines Teufels“ (damit wäre auch die Qualität der Dialoge abgehakt) – basiert ja letztlich auf ihrer freien Entscheidung. Getreu dem Motto: Wenn du an deiner Situation nichts ändern kannst, dann genieße sie wenigstens.

Doch «365 Days» lässt gar nichts Anderes zu. Sie ist von Anfang an darauf ausgelegt, dass Massimos Machtspiele bei seinem schönen Opfer Wirkung zeigen – und darauf, dass das Ganze am Ende auch noch mit irgendeinem wirren Thrillerplot verknüpft wird, der laut der Bücher zumindest in den Teilen zwei und drei noch ein wenig wichtiger wird.

All diesen Fragwürdigkeiten steht eine Inszenierung gegenüber, gegen die die bisweilen seelenlosen Hochglanz-Romanzen aus Hollywood aussehen wie liebevoll-charakteristisch inszeniertes Independentkino. So schön die hier hübsch drapierten Männer und Frauen auch sein mögen (insbesondere der Hauptdarsteller Michele Morrone kann niemals aufgrund seiner mimischen Qualitäten gecastet worden sein) und so sehr die sizilianischen Küstenpanoramen auch die Sehnsucht nach dem nächsten Italienurlaub wecken, so glatt und atmosphärenlos wirkt die Szenerie hier doch. Hinzu kommt ein sich aus Billig-RnB- und Popsongs zusammensetzender Soundtrack, der jeden, aber auch wirklich jeden Moment (insbesondere die in der zweiten Hälfte an Quantität zunehmenden Sexszenen) mit seinem austauschbaren Gedudel zukleistert. Und während die Außenaufnahmen in ihrer durchgehenden Überbeleuchtung eher an Daily-Soap denn an (Kino-)Film erinnern, sorgt das Neonlicht in den Innenräumen für ein permanentes Puff-Gefühl. Da kann man sich ja nur auf die ätzende Geschichte konzentrieren, die es in Zeiten von #MeToo und Co. so eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Aber vielleicht fehlt es unsereins auch einfach nur am entsprechenden Fetisch…

Fazit


Der erotische Netflix-Hit «365 Days» geht mit der Darstellung einer sich gegen den Willen der Frau entwickelnden Liebesbeziehung weit über die Grenzen einer harmlosen Sexfantasie hinaus. Die Macher erzählen die Geschichte in erster Linie aus der Sicht des Entführers und wie sich dieser sein Opfer zueigen macht. Und selbst Momente der aktiven Bedrängung werden hier mit Schummerlicht und romantischer Musik bagatellisiert. K.O.-Kritikerin wie die grottigen Dialoge sowie die furchtbaren Darstellerleistungen rücken da in den Hintergrund.

«365 Days» ist ab sofort bei Netflix streambar.

Kurz-URL: qmde.de/119291
Finde ich...
super
schade
50 %
50 %
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelNitro kramt «Captain Future» hervornächster ArtikelAufwind verpufft! «Game On!» verliert deutlich
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Fabian Riedner Veit-Luca Roth

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung