Die Kritiker

«Tatort – In der Familie»

von

Ein Unbekannter rammt einem Mann in einem Münchner Park ein Messer in den Bauch. In Dortmund beobachten die Kommissare Faber, Dalay und Pawlak derweil ein kleines italienisches Vorstadtrestaurant, da es einen Hinweis darauf gibt, dass dieses als eine Art Drogendepot dient. Beide Fälle hängen zusammen. In diesem Jubiläums-«Tatort» zum 50sten Geburtstag der erfolgreichsten deutschen Kriminalfilmreihe!

Stab

DARSTELLER: Jörg Hartmann, Anna Schudt, Aylin Tezel, Rick Okon, Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Emilio de Martino, Beniamino Brogi, Antje Traue, Emma Preisendanz
REGIE: Dominik Graf
BUCH: Bernd Lange
KAMERA: Hendrik A. Kley
MONTAGE: Amina Lorenz
TON: Michael Schlömer, Ivo Seewald
MUSIK: Florian van Volxem
SZENENBILD: Ina Timmerberg
PRODUCERIN: Jana-Maria Kreutzer
PRODUKTIONSLEITUNG: Marcel Greive, Oliver Wißmann (WDR)
REDAKTION: Frank Tönmann (WDR), Stephanie Heckner (BR)
Die Reihe «Tatort» hat sich in den letzten Jahren ja so einiges getraut. Vom Shakespeare-«Tatort» über improvisierte «Tatort»e bis jüngst hin zu einem in der Vorhölle spielenden «Tatort»: Da ist so einiges gelaufen, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Ob die Ergebnisse stets überzeugen konnten, soll an einer anderen Stelle diskutiert werden. Seltsam ist in diesem Zusammenhang nur eine Tatsache: Egal, welches Experiment gewagt wurde – nach rund 89 Minuten war und ist Schluss. Im Goldenen Serienzeitalter ist der «Tatort» in seiner Spielfilm-der-Woche-Struktur gefangen. Ja, es gibt Ausnahmen – die ersten vier Schweiger-Filme hängen allesamt zusammen und finden ihren endgültigen Abschluss sogar außerhalb der Reihe im Kinofilm «Tschiller – Off Duty» -, doch es ist auffällig, dass man in der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland ARD im Rahmen von Teutonias liebster Kriminalfilmserie das klassische Film-der-Woche-Prinzip anderen seriellen Erzählformen vorzieht.

Zum 50-Jährigen aber ist es Zeit für eine Ausnahme und präsentiert ein Crossover in zwei Teilen aus Dortmunder und Münchener «Tatort». Eine interessante Wahl, gehören die Münchener Veteranen Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) zu den mit Abstand beliebtesten Ermittlern der Reihe – gleich hinter den Münsteraner- und Kölner TV-Ermittlern. Seit 1991 sind die beiden Fernsehkommissare im Einsatz für Recht und Ordnung und dabei spielen Nemec und Wachtveitl stets auf Augenhöhe. Sie sind ein Team, zwei Typen, die zwar hier und da unterschiedliche Denkweisen aufweisen, sich in diesen Unterschieden aber ergänzen und nicht einander im Wege stehen.

Die Dortmunder Ermittler sind das genaue Gegenteil. Das Wort Dysfunktional wurde an sich für den Chefermittler Peter Faber (Jörg Hartmann) erfunden. Zwar bewegt sich die Figur in letzter Zeit nicht mehr an der Grenze zur Selbstverletzung, Faber hat den Tod seiner Frau und seiner Tochter in gewisser Weise akzeptiert und in die Gesellschaft zurückgefunden, dennoch ist er nach wie ein wenig leidlicher Charakter. An sich steht die Frage im Raum, ob dieser Schicksalsschlag nur einen Charakter freigelegt hat, der immer schon in ihm brodelte, aber durch gesellschaftliche Regeln, denen auch er sich unterwarf, gebändigt werden konnte. Wenn es zwei krasse Gegensätze in der Welt des «Tatort»s gibt, dann sind dies München und Dortmund.

Schade nur, dass in diesem ersten Spielfilm des Crossover wenig aus dem Konflikt, der sich in dieser Konstellation befindet, herausgeholt wird.

Der Fokus
Stattdessen richtet Regisseur Dominik Graf den Fokus seiner Geschichte ganz auf die Besitzer des eingangs erwähnten Restaurants. Die Situation ist schnell geklärt. Durch einen nicht näher definierten Hinweis sind Faber und seine Leute auf ein kleines italienisches Restaurant im Dortmunder Stadtteil Lütgendortmund aufmerksam gemacht worden (schon in der ersten Szene observieren sie dieses). Einmal in der Woche wird das kleine Lokal von einem Dreieinhalbtonner angefahren, der das Familienunternehmen jedoch nicht nur mit Pasta und Saucen beliefern soll: Angeblich transportiert er in erster Linie Drogen der ’Ndrangheta, die im Restaurant zwischengelagert werden, bevor man sie weiter verteilt. Das Restaurant wirkt unscheinbar, ein typischer Familienbetrieb, in dem Vater, Mutter, Tochter ihre zu fairen Preisen anständig gefertigten italienischen Spezialitäten servieren.



Inhaber Luca Modica (Beniamino Brogi) ist bislang ebenso wenig mit dem Gesetz in Konflikt geraten wie Ehefrau Juliane (Antje Traue) oder Tochter Sofia (Emma Preisedanz). Der Zuschauerschaft wird keine fünf Minuten vorenthalten, dass Fabers Verdacht stimmt. Ja, Luca fungiert als Spediteur, aber ebenso wird auch klar, dass er an sich nur ein kleiner Fisch ist. Er verwahrt die Drogen. Er ist ein kleiner Verwalter, der seine Frau und seine Tochter liebt und sogar sein Restaurant mit Hingabe führt. Bis er neben den wöchentlichen Drogen eine unerwartete Zusatzlieferung erhält: Pippo (Emiliano de Martino). Woher er kommt, das wird Luca nicht mitgeteilt. Luca erhält vielmehr den Auftrag, Pippo ein paar Tage Unterkunft zu gewähren. Das Problem an Pippo: Der ist sicher auch nicht viel mehr als ein kleiner Krimineller, aber er pfeift auf die geforderte Zurückhaltung. Er ist asozial und gibt Luca zu verstehen, in ihm nur einen Botenjungen zu sehen; er hält sich nicht versteckt, sondern stachelt im Verlauf der Zeit Luca sogar dazu an, in größeren Dimensionen zu denken als nur ein paar Drogen zu verstecken. Warum nicht ein bisschen Schutzgelderpressung? Man ist schließlich die ’Ndrangheta, die mächtigste aller Mafiaorganisationen. Wer stellt sich schon gegen sie? Da Pippo auf die Regeln pfeift – gelingt es den Ermittlern ein Foto von ihm zu machen, das dann über die Netzwerke der Polizei in München landet und Batic und Leitmayr in die Ruhrstadt führt. Die haben versucht, mit der Dortmunder Polizei Kontakt aufzunehmen, bevor sie sich ins Auto setzten und ins Ruhrgebiet kamen. Nur scheint sich in Dortmund niemand für sie verantwortlich zu fühlen. Warum?

Im Grunde geht dies auf eine Idee von Fabers Kollegin Nora Dalay (Aylin Tezel) zurück. Sie hat einen Schwachpunkt des Verteilungsknotens in Lütgendortmund ausgemacht: Juliane. Die deutsche Ehefrau Lucas' ist kein Teil des mafiösen Netzwerkes, in dem ihr Mann sich bewegt, denn als Deutsche ist sie eine Außenseiterin. Mit Deckung aus der Chefetage nimmt Nora – unter falschem Namen – Kontakt zu Juliane auf, die offenbar nur darauf gewartet hat, einen Menschen zu finden, mit dem sie reden kann. Nora erlangt schnell ihr Vertrauen. Bis zu dem Moment, in dem sie sich als Polizistin erkennen gibt. So unterbreitet Nora Juliane ein Angebot: Wenn Juliane wirklich ihrer Familie helfen will, arbeitet sie mit der Polizei zusammen.

Tja, und da gibt es nun ein Problem: Batic und Leitmayr kommen nach Dortmund, da sie in Pippo den Mörder eines kleinen Drogenhändlers aus München erkannt haben. Der ist in den Armen von Batic gestorben und anhand eines Phantombilds seines Mörders – haben sie Pippo als denjenigen welchen ausfindig gemacht. Was Faber jedoch ignoriert, denn er will nicht, dass Pippo verhaftet wird und dies seine Ermittlungen sprengt. Durch den Kontakt zu Juliane haben die Dortmunder Ermittler die Chance, möglicherweise mehr als nur ein paar Boten zu verhaften. Mit etwas Geduld und Zurückhaltung kommen sie – über Juliane – vielleicht an etwas größere Fische. Widerwillig stimmen Batic und Leitmayr dem Dortmunder Ansinnen zu, Pippo nicht in Gewahrsam zu nehmen. Widerwillig, da sie sich rechtlich auf ganz dünnem Eis bewegen.

Starkes Spiel – schwaches Spiel
An sich macht Regisseur Dominik Graf viele Dinge richtig. Aber leider auch einige falsch. Richtig großartig inszeniert ist die Figur des Pippo. An diesem kleinen Mafiamörder ist nichts sympathisch oder gar erhaben. Die Inszenierung braucht keinerlei Vorgeschichte kreieren, um doch vor dem geistigen Auge eine mögliche Hintergrundgeschichte über das Werden dieses Kriminellen ablaufen zu lassen. Wie er als Jugendlicher anfing, kleine Jobs zu erledigen. Wie er sich durch Brutalität und das Fehlen jeglicher Empathie immerhin ein paar Stufen nach oben geboxt hat, ohne dass er jedoch jemals so etwas wie eine echte Führungsposition erreichen wird. Dafür ist er zu dumm, zu sehr Straße. Sicher, er ist auf seine Weise ein loyaler Soldat. Daher bringt man ihn in Sicherheit. Aber wenn das Verbrechen ein Schachspiel darstellt, dann ist er kein Turm oder Springer. Er ist ein Bauer, den man auch opfern kann, wenn dies nötig werden sollte. Nichts davon muss thematisiert werden, um es doch fassen zu können. Das ist genau so stark wie die Zeichnung von Luca, der an sich ein anständiger Kerl ist. Es mag irritierend, so etwas über einen Drogenverwalter zu sagen.

Aber nichts an Luca wirkt gefährlich oder unsympathisch. Die Geschichte wird erklären, wie er in diese Kreise geraten ist. Und so viel Spoiler darf sein: Es wird ihn nicht als einen bösen Menschen darstellen. In den mafiösen Strukturen gefangen, ist er letztlich ein Identitätssuchender, der nicht weiß, wo er wirklich steht. Schon, dass er mit einer Deutschen verheiratet ist belegt, dass er keinesfalls seiner „Gemeinschaft“ bedingungslos gehorchen würde. Juliane ist die Liebe seines Lebens. Auf der anderen Seite aber gehört er eben einer „Gemeinschaft“ an, die gewisse Erwartungen an ihre Mitglieder stellt. Eine Gemeinschaft, die ihn bezahlt und auch dafür sorgt, dass er an sich ein recht gutes Leben als Restaurantbesitzer führen kann. Durch das Auftauchen von Pippo lässt er sich dazu hinreißen, die andere Seite seines Ichs, die Seite der Mafia, ergründen zu wollen. Was eine Tragödie in Gang setzt.

Die Figur der Juliane bleibt in diesem Reigen überraschend schwach gezeichnet. Zu sehr wird sie auf die Rolle der verzweifelten Ehefrau reduziert, die im ersten Moment, in dem sie eine „Freundin“ findet - dieser ihr gesamtes Leben ausbreitet. Diese schwache Zeichnung ist um so ärgerlicher als dass Juliane-Darstellerin Antje Traue 2013 immerhin sogar Superman in «Man of Steel» in den Hintern treten durfte. Antje Traue gehört vermutlich zu den charismatischsten deutschen Schauspielerinnen in Film und Fernsehen (und das über die deutschen Grenzen hinaus). Die Reduzierung auf die leidende Ehefrau jedoch gibt ihr wenig kreativen Raum für ein einnehmendes Spiel.

Ein Gegengewicht kann immerhin Aylin Tezel entwerfen. Mit Emotion und Sorge verkörpert sie die falsche Freundin, der erst im Moment der Kontaktaufnahme klar wird, in welche Gefahr sie die Frau des Mafia-Verwalters bringt. Faber indes verrennt sich einmal mehr in seiner mangelnden Teamfähigkeit, die ihn recht unleidlich wirken lässt. Was nun allerdings so neu nicht ist.

Kein echtes Crossover
Als richtiges Crossover funktioniert dieser Film leider nicht. Die beiden Münchener Ermittler bleiben Gaststars, die vergleichsweise wenig zu tun bekommen. Ein Crossover lebt normalerweise von der Augenhöhe, auf der die handelnden Figuren gleichberechtigt miteinander agieren. Dieser «Tatort» aber ist ein Dortmunder «Tatort» mit einem kleinen Münchener Farbtupferl.

Das größte Manko aber ist, dass es «In der Familie» schlichtweg an Spannung fehlt. Es wird viel geredet; das Drama um die Familie Modica ist nicht uninteressant. Doch «In der Familie» wirkt in vielen Momenten wie ein Bühnenspiel, in dem Schauspieler in wechselnden, unbeweglichen Kulissen ihre Dialoge sprechen. Gerade die recht starre Kamera, die Bilder aufnimmt, aber kaum Bilder kreiert, wirkt seltsam leblos. Das ist im Grunde Degeto-Massenware, jene Art von Filmen, in denen aus Budgetgründen eine übersichtliche Anzahl an Darstellern in einer übersichtlichen Anzahl an Kulissen Film arbeiten – ohne Extras an Statisten oder gar Effekten, die es auch mal krachen lassen. Dabei bietet der «Tatort» recht viele Außenaufnahmen, die tatsächlich zum größten Teil in Lütgendortmund rund um das „Restaurant“ entstanden sind und damit durchaus Authentizität transportieren. Sobald die Straße jedoch verlassen wird – kehrt das Bühnenspiel in die Inszenierung zurück.

Dass Dominik Graf ganz anders kann, belegen die letzten knapp 10 Minuten dieses Filmes, wenn sich die Ereignisse überschlagen und plötzlich die Spannungsschraube nicht einfach angedreht, sondern regelrecht ein auf Hochtouren laufender Elektrobohrer auf diese Spannungsschraube aufgesetzt wird. Mit der inszenatorischen Erfahrung aus 35 Jahren Polizeifilmen setzt Graf den Fuß aufs Gas (durchaus auch wörtlich) und erschafft Spannung, Tragik, Tempo – und das oft alles gleichzeitig. Auch die Bildgestaltung ist mit einem Mal von einer ganz anderen – dynamischen – Qualität. Graf zeigt, was er kann. Warum so spät?

Der Epilog führt schließlich zum zweiten Film, den kommenden Münchener «Tatort» über, obschon der Dortmunder «Tatort» seine ganz eigene Geschichte tatsächlich abschließt.

Das Erste strahlt den «Tatort» am Sonntag, den 29. November 2020, um 20.15 Uhr aus.

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