Interview

Matthias Lier: ‚Die Bedrohungen sind vielfältiger geworden‘

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Am Sonntag ist Lier im «Tatort» „Unsichtbar“ zu sehen. Quotenmeter spricht mit dem Schauspieler über seine Jugend in der DDR, die Sozialsysteme und sein Mitwirken bei «Lerchenberg».

Sie sind im kommenden «Tatort» als Professor Thomas Mühl zu sehen. Können Sie den Charakter beschreiben?
Professor Mühl ist ein Forscher mit Vision, der um alles in der Welt vorankommen will und der nur schwer verstehen kann, wenn jemand diesen Traum nicht teilt oder ihn gar noch boykottiert. Das macht ihn ungehalten im Umgang mit den Kollegen um nicht zu sagen cholerisch. Er ist unterversorgt mit den Dingen, die neben der Forschung stattfinden, wie der Liebe. Aber diese Mischung macht ihn ironischerweise liebenswürdig. Oder zumindest sehe ich das so, weil ich liebe Menschen kenne, die so ähnlich ticken. Und vielleicht auch, weil ich aus meiner Zeit als Ingenieur den Sog kenne, in eine Vision hineingezogen zu werden, wie es mir 2001 mit der Arbeit an einer künstlichen Intelligenz ging. Da verblasst dann alles andere für den Moment.

Worum dreht sich denn der Dresdner-«Tatort» „Unsichtbar“?
Zunächst mal freut es mich, dass der Ort des Geschehens meine alte Heimat Mitteldeutschland ist, in der der Hightech-Sektor Fuß gefasst hat. Ohne zu viel zu verraten dreht sich der «Tatort» „Unsichtbar“ um die Chancen und Risiken der schönen neuen Welt mit all ihren Errungenschaften. Zentral stellt sich mir die Frage: was passiert, wenn nicht „der richtige“ Mensch die technischen Möglichkeiten der Zeit in die Hand bekommt, sondern „der Falsche“. Ich habe noch gut im Ohr, wie mein Vater mir in den 90ern immer gesagt hat: „Hoffentlich kommt mal kein Hitler in Amerika an die Macht“. Damit meinte er damals noch das Atomwaffenarsenal und die militärische Power. Heute ist das Arsenal der Bedrohungen vielfältiger geworden und auch weniger mächtige Player haben Zugriff darauf. In unserem «Tatort» wird das im Kleinen verhandelt: im Fluch und Segen der Nanotechnologie. Mein aufbrausender Professor Mühl verkörpert die eine Seite der Medaille, jemand anderes im Film die andere.

Bereits Ende November sind Sie auch in dem Spielfilm «Endjährig» zu sehen. Was passiert in dem apokalyptischen Werk?
«Endjährig» skizziert ein Deutschland im Jahr 2050, in dem die Sozialsysteme aufgrund der auf dem Kopf stehenden Alterspyramide am Zusammenbrechen sind und Lösungen gesucht werden. Der Protagonist Carl ist Beamter und hat mit den staatlichen Maßnahmen, die er zu beschließen und umsetzten hat, seelisch zu kämpfen. Doch alles läuft auf die „Endjährigkeit“ hinaus, einem staatlich beschlossenen Verfallsdatum, ab dem der Bürger sein Recht zu Leben abgibt. Kaum ist die Maßnahme publik, wird mein Carl von seinem längst verschollenen Vater aufgesucht, der direkt von den Maßnahmen betroffen wäre. Er bittet ihn um Rettung und zur Flucht, aber wie? Züge fahren nicht mehr, die Grenzen sind abgeriegelt. Der integere Carl müsste sich das System zu Nutze machen, dem er lange diente, doch sein Dilemma könnte größer nicht sein. Ob das gelingt, kann nur der Film verraten.

Das Thema klingt spannend. In Deutschland bekommen ältere Menschen immer noch die beste medizinische Versorgung. Sollte man deshalb stolz auf unser Gesundheitssystem sein?
Das ist genau die Frage, die «Endjährig» aufwirft: die Triage. Ärzte müssen entscheiden, welches Leben lebenswerter ist: ein altes, glückliches oder ein junges, unglückliches. Im Film wird das Alter 80 als starre Maßgabe genommen. Als wir den Film im Oktober 2019 gedreht haben, hat niemand ernsthaft daran gedacht, dass es in naher Zukunft in Deutschland zur Triage kommen wird. Dass das Corona-Virus zu dieser Zeit wohl schon entstanden war, wirkt im Nachhinein wirklich spooky, und zum ersten Lockdown kannte ich bereits all die Gefühle aus dem Filmdreh. Mittlerweile ist die Frage nach der Triage für alle Realität geworden.

Wieder ein schöner Satz von meinem Vater: „Der Wert einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie sie mit den Ältesten und Schwächsten umgeht.“ Deswegen bin ich glücklich, in einem Land zu leben, was sich ein so starkes Sozial- und Gesundheitssystem leisten kann. Wir sollten alles in unserer Macht stehende tun, um es auch langfristig zu erhalten und nicht erst wie im Film «Endjährig» oder wie zum Corona-Lockdown aufzuwachen, wenn wir von den Ereignissen überrollt werden.

Apropos Deutschland: Wir feierten vor Kurzem das 31. Jubiläum der Wiedervereinigung. Sie wohnten damals in der DDR in der Rhön. Haben Sie die Teilung damals eigentlich richtig begriffen?
Oh ja, sehr gut. Ich habe nur zwei Kilometer von der Grenze zu Hessen weggewohnt. Hinter dem Berg Horbel, an dessen Fuße meine Schule lag, war die Welt zu Ende. Schon nur in die Richtung des Berggipfels zu schauen, habe ich als eine Tat wahrgenommen, die bestraft werden könnte. 20 Meter neben der Schule war der Schlagbaum. Das war gesetzt. Angst dominierte, zum Beispiel vom Direktor, der vor den Augen der Schüler auch mal dem Mathelehrer mit der Faust ins Gesicht schlug. Oder als am Schulappell, zu dem aus Metalllautsprechern zusammengerufen wurde, einzelne Schüler vor der ganzen versammelten Schule nach vorne gerufen wurden, und der Direktor kundtat, dass die Arbeitgeber der Väter über das Fehlverhalten der Kinder informiert werden. Das hat mir wahnsinnigen Respekt eingeflößt.

Aber das war das Setting, was ich als Kind nicht hinterfragt hatte, es war ja schon immer in meinem Leben so. Zum Glück hatte mein Opa sich damals um die Kühe im Sperrgebiet kümmern dürfen. Das war die Chance, mit einem so starken Mann auf dem Traktor bis zum Berggipfel hinter der Schule zu fahren. Als ich einmal mit ihm dort war sagte er, ich solle ein Stückchen weiter die Wiese hinaufgehen. Und plötzlich war ich auf dem Gipfel und da wo, die Welt eigentlich aufhören sollte, und habe weiße Häuser in der Ferne gesehen. Dazwischen die Zäune, rechts in 500 Meter Entfernung freier Blick zum Wachturm.

Mein Opa fuchtelte mit den Armen wie wild, ich solle wieder zurückkommen. Da habe ich die Teilung nicht nur begriffen, da habe ich gespürt, dass hier was nicht stimmt, dass es auch eine andere Wahrheit gibt. Vielleicht vier Jahre später, im November 1989 bin ich mit meinem Schild „Hopp hopp hopp, Stasi lauf Galopp“ und dem Montags-Demonstrationszug unseres Dorfes an die Grenze marschiert. Wie von Zauberhand haben sich die eisernen Tore auf einmal geöffnet, mir war nicht bewusst, dass das überhaupt möglich ist. Mit all den Erwachsenen konnte ich plötzlich zu den so weißen Häusern laufen. Ein Gefühl des absoluten Glücks und Freiheit. Es gab hessische Bratwurst, die Erwachsenen tanzten auf den Tischen. Um 21:30 Uhr bin ich wieder nach Hause gelaufen, ich musste ja am nächsten Morgen in die Schule. Was ich erst später verstanden habe war, warum die Lehrer plötzlich alle fehlten.

Als Sie elf Jahre alt waren fiel die Mauer, haben Ihre Eltern mit Ihnen dann große Reisen unternommen?
Die Ostsee, der Harz und das Elbsandsteingebirge waren mit der Wende auf einmal abgespielt, die hatten wir ja jedes Jahr gesehen. Zunächst ging es in die Alpen, die Wucht der Felsen hat mich schier erschlagen, ich kannte ja nur unser Mittelgebirge Rhön mit 800 Metern Höhe. Dann sind wir nach Frankreich, Paris, Bretagne, das erste Mal Menschen mit fremder Sprache, mit anderer Kleidung und überhaupt alles anders, wie aufregend, wie interessant.

Meine Lust, die Welt zu entdecken, die Menschen kennenzulernen, die so anders waren als wir aus Thüringen, war geweckt. Nur nochmal mit nach Tirol musste ich nicht. Mich hat es später nach Spanien gezogen, Marokko, Lateinamerika, Afrika. So abenteuerlustig sind meine Eltern bis heute nicht, sie sind Tirol treu geblieben und wollen auch mal wieder ins Elbsandsteingebirge, wo ich letztes Jahr das erste Mal wieder war, wie eine Zeitreise.

Blicken wir nach Mainz: Sie wirkten an der Serie «Lerchenberg» mit. Hat Ihnen die deutsche Version von «30 Rock» gefallen?
Ich fand das sehr mutig vom ZDF, und wir haben ja auch im originalen ZDF-Hochhaus auf dem Lerchenberg gedreht. Als Sportredakteur Phillip da wie selbstverständlich durch die Räumlichkeiten zu hüpfen und mit der Innovationsredakteurin anzubendeln, die das ZDF revolutionieren wollte, das war schon was Besonderes. Beim Drehen hat sich das wie ein Herzensprojekt der ZDF-Mitarbeiter angefühlt, die alle noch viele Ideen hatten, gerade Sascha Hehn!, der sich herrlich selbstironisch porträtiert, das war wirklich ein Highlight. Und ich denke, der Spaß kommt auch über die Rampe wie man so schön am Theater sagt, und bleibt nicht nur bei den Schauspielern und Machern Pssst! Film.

Die Entscheidung der «Lerchenberg»-Fortsetzung fiel erst elf Monate nach der Ausstrahlung. Brauchen wir bei solchen Projekten kürzere Entscheidungswege?
Ich schreibe gerade selbst ein Drehbuch über meine Heimat Thüringen, habe auch Förderungen dafür beantragt und bekommen, und merke, wie lang die Entscheidungswege sind und wieviel Zeit es braucht von der ersten Idee bis zum Drehstart. Da braucht man einen langen Atem.

Sie standen auch für die schweizerische Serie «Frieden» vor der Kamera, die hierzulande beim deutsch-französischen Kultursender arte ausgestrahlt wurde. Unterscheiden sich die Dreharbeiten bei den Eidgenossen und haben Sie von Freunden und Familie Feedback bekommen?
Es war sicherlich eine der größten Arbeiten des Schweizer Fernsehens bis dahin, doch alles lief wie ein Uhrwerk, was mir die Möglichkeit gegeben hat, mich voll und ganz auf meine Figur des „Rudolf Schneider“ einzulassen. Der kam als Chemiker mit einem milliardenschweren Patent 1945 über die Grenze, hat damit seine Nazivergangenheit übertüncht, und ein Schweizer Unternehmen vor dem Ruin bewahrt. Einen so selbstkritischen Film mit historischen Anlehnungen zu machen finde ich sehr mutig von den Schweizern.

Ich habe mich wie einen Teil einer kleinen Revolution am Set gefühlt. Überhaupt waren die Dreharbeiten von einer großen Leidenschaft und Präzession geprägt, und es war zu spüren, dass es allen eine Herzensangelegenheit war, dieses Kapitel zu erzählen. Das mochte ich sehr. Und das ist glaube ich auch rüber gekommen: meine Freunde und meine Familie hat die Serie sehr zum Nachdenken bewegt und alle haben sie begeistert bis zum Ende geschaut. Schließlich handelt sie von der Zeit des Umbruchs kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Nazis abgetaucht sind und das Nazigold verschwunden ist. Nur diesmal eben aus der Perspektive des selbstkritischen Nachbarn erzählt. Ich bin sehr stolz, darin ein Teil sein zu können.

Herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Drehbuch!

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