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SHOWRUNNER: Asley Lyle, Bart NickersonSTORY EDITOR: Katherine Kearns
DARSTELLER: Melanie Lynskey, Tawny Cypress, Ella Purnell, Christina Ricci, Juliette Lewis, Sophie Thatcher, Keeya King, Brham Taylor
EXECUTIVE PRODUCER: Ashley Lyle, Bart Nickerson, Jonathan Lisco, Drew Comins
MUSIK: Anna Waronker, Craig Wedren
KAMERA: C. Kim Miles, Trevor Forrest, Julie Kirkwood
Der Besuch dieser Journalistin aber ist anders als die ihrer Vorgängerinnen und Vorgängern. Diese nehmen stets direkt mit Shauna Kontakt auf. Sie sind aufdringlich, sie sind Verkäufer, die ein Geschäft wittern. Diese Journalistin aber ist vorbereitet, sie hat bereits Menschen aus Shaunas Umfeld (des Jahres 1996) gesprochen, sie hat ordentlich recherchiert und sie weiß auch, welche Rädchen die drehen muss, um Shauna emotional so zu fassen, dass diese ihre Freundlichkeit verliert. Shauna schmeißt sie raus. Ihre Visitenkarte aber behält sie.
Zu diesem Zeitpunkt erlaubt die Inszenierung seiner Zuschauerschaft einen vermeintlichen Wissensvorsprung, denn vor Shaunas Zusammentreffen mit der Journalistin steht der Prolog, der ein leicht bekleidetes Mädchen in einer Schneelandschaft zeigt. Ein Mädchen, das um ihr Leben rennt und diesen Wettlauf verliert. Es stürzt in eine Grube, in der es aufgespießt wird. Es lebt noch als es von Personen aus der Grube gezogen wird, die in Tierfelle gekleidet sind und ihre Gesichter vor der Welt verbergen. Sie schlitzen dem Mädchen die Kehle auf, lassen es ausbluten und dann beginnen sie es auszuweiden.
Es ist 1996 und an der New Jersey High gehen die Uhren anders als an anderen Schulen. Wenn die Baseballspieler der Schule in eine neue Saison starten, dann bekommen diese höflichen Applaus. Cheerleaderinnen sucht man hier vergeblich und American Football scheint gar ein Fremdwort zu sein. Wenn aber die Yellow Jackets in eine neue Saison starten, dann bebt die Schule, dann brennt die Luft. Yellow Jackets, dass ist die Mädchenfußballmannschaft der Schule und diese Mannschaft spielt auf Erstliganiveau. Selbst die Jungs der Schule müssen diesem Team zugestehen: Sie sind einfach die Stars! Die Stars, denen Jackie vorsteht. Jackie, das sagt ihr auch der Trainer offen, ist keinesfalls die beste Spielerin der Mannschaft. Da gibt es bessere. Aber Jackie besitzt das Talent, Menschen zusammenführen zu können. Wenn es ein Gesicht des Erfolges gibt, dann ist das Jackie: denn sie hat es geschafft, so unterschiedliche Typen wie Natalie und Shauna zu einem Team zusammenzuschweißen. Natalie hängt mit Jungs ab, die Drogen einwerfen (von denen sie nicht nur nascht); sie ist im besten Fall das, was man eine Nonkonformistin nennt, tatsächlich genießt sie ihre Außenseiterstellung und will mit den Mädchen aus „gutem“ Hause eigentlich nichts zu tun haben. Dennoch ist sie ebenso Teil der Yellow Jackets wie Shauna, die aus einem Mittelklassehaushalt der Mittelklasse stammt. Mehr Mittelklasse als Shauna geht nicht. Oder da ist Taissa, eine junge (lesbische) Afro-Amerikanerin in. Jackie sorgt dafür, dass jedes Mädchen ein gleichberechtigte Teil dieser Mannschaft ist. Selbst wenn sie sich manchmal wie eine Pfadfinderin verhält – es funktioniert. Dafür wird sie als Captain akzeptiert.
Die Natalie der Gegenwart ist eine Frau, die offenbar ihren Drogenkonsum nie wirklich aufgegeben hat. Bis jetzt. Jetzt scheint sie tatsächlich über ihre Sucht hinweggekommen zu sein und am Ende ihrer letzten Therapiesitzung ist sie es, die den anderen, die mit ihr in der Runde sitzen, Mut macht. Sie hat die Drogen hinter sich gelassen: Dann werden es die anderen auch schaffen.
Was immer in Ontario passiert ist, auch Taissa ist darüber hinweggekommen. Oder sie hat es zumindest verarbeitet, denn Taissa lebt nicht nur in einer offenen lesbischen Ehe samt Kind, Taissa will in den Senat des Staates gewählt werden. Aus ihrer Vergangenheit macht sie kein Geheimnis. Ja, sie war in Ontario. Es war schlimm. Aber sie ist gestärkt aus dem, was geschehen ist, hervorgegangen und diese Stärke will sie nun für die Menschen einsetzen, die sie wählen werden.
Was damals geschehen ist?
Die Yellow Jackets haben sich für die Meisterschaftsendrunde auf nationaler Ebene qualifiziert und in ihrer Form sind sie kaum besiegbar. Der schwerreiche Vater eines Mädchens spendiert dem Team eine private Maschine, um sie zum Austragungsort der Endrunde zu fliegen. Es ist ein wunderschöner Tag in New Jersey. Doch die Yellow Jackets erreichen ihren Zielort nicht. Das Flugzeug hat technische Probleme und dann stürzt es ab. Aufgrund eines Unwetters in der Mitte der Route musste der Pilot darüber hinaus den Kurs ändern. Was dieser Katastrophe eine besondere Note aufdrückt: Niemand weiß, wo das Flugzeug abgestürzt ist, denn – es befand sich im Moment ihres Absturzes nicht mehr auf seiner ursprünglichen Route. Nur dort, wo es vom Radar verschwunden ist, ist es nicht abgestürzt. Daher kommt für die überlebenden Mädchen des Fluges – keine Hilfe.
Das aber ist nur ein Teil der Geschichte, die sich 1996 abgespielt hat. Im Gegensatz zur Handlungsebene der Gegenwart, in der die Geschehnisse stringent ablaufen und die Handlung der Reihenfolge der Geschehnisse entsprechend erzählt wird, gilt dies nicht für die Vergangenheit. So erzählt der Prolog eine Geschichte, die (offenbar) nach Monaten ihres Überlebenskampfes stattgefunden hat. Dann geht es zurück an die High School. Und so erschafft die Erzählung ein Puzzle, das sich erst sehr langsam zusammensetzt.
Die Geschichte lebt von Anfang an maßgeblich nicht nur von der Handlung, sondern vor allem auch von ihren grandiosen Hauptdarstellerinnen. An erster Stelle steht da die Neuseeländerin Melanie Lynskey in der Rolle der erwachsenen Shauna. Shauna ist die Ausgeburt der Normalität, sie ist die Frau, die in der Kasse vor einem steht und durch die man hindurchschaut. Gäbe es so etwas wie die All-American-Hausfrau, dann wäre sie das. So zumindest legt sie ihre Rolle an. Doch alles, was wir, die Zuschauer, glauben über Shauna zu wissen: nein, wir wissen gar nichts. Was auch für Juliette Lewis gilt, die die erwachsene Natalie darstellt. Da ist diese in die Jahre gekommene, von Drogen gezeichnete Frau, die doch ihren Frieden gefunden hat. Was von diesem Eindruck aber entspricht der Wahrheit, was ist eine Lüge? Spätestens, wenn sie eine ihrer alten Freundinnen beobachtet und dabei eine Waffe im Auto bei sich führt, ist klar: Da gibt es noch offene Rechnungen zu begleichen.
Der heimliche Star der Serie ist allerdings Christina Ricci. Der ehemalige Kinderstar ist Missy. Missy gehörte einst gar nicht wirklich zur Mannschaft. Missy war ein unscheinbares Mädchen, eine Außenseiterin, die sich etwas Aufmerksamkeit dadurch verschaffte, dass sie größter Fan und Best Girl der Mannschaft gewesen ist. Damit war sie so etwas wie das Maskottchen und gehörte dazu. Nicht als Spielerein. Aber doch – „irgendwie“, denn „irgendwie“ mochten sie die anderen Spielerinnen auch für ihr nettes Wesen. Wenn die Missy der Gegenwart als Altenpflegerin arbeitet, scheint dies auf den ersten Blick dem Wesen der Missy der Vergangenheit zu entsprechen. Spoiler: Von dieser Altenpflegerin möchte niemand gepflegt werden.
Der Kracher-Moment der ersten Episode ist die Auflösung der – vermeintlichen – Pointe der Serie. Die gesamte erste Episoden scheint darauf hinauszulaufen den Konflikt zwischen den Mädchen im Jahre 1996 und einer Gruppe von Almöhis in den dunklen Tannenwäldern Ontarios als Handlung etablieren zu wollen. Die gesamte Inszenierung orientiert sich in der Darstellung der fellbewandeten (wahrscheinlichen Kannibalen) an bekannten Maskenträgern aus Slasherfilm-Vorbildern wie «Texas Chainsaw Massacre». Da gibt es also diese Mädchen, die offenbar an eine Horde von Waldbewohnern geraten sind, die garantiert auch noch in ungesunden verwandtschaftlichen Verhältnissen zueinander stehen. Na gut. Allerdings kommt sehr schnell der Verdacht auf, dass da gar keine Wilden im Wald hausen, sondern dass die Mädchen selbst verschiedenen Stämme gegründet haben und sich nun gegenseitig bekriegen. «Der Herr der Fliegen» lässt grüßen.
Wer nun allerdings glaubt, dass dies die große Pointe der Serienhandlung darstellt, der „Oh mein Gott“-Moment, sitzt am Ende der ersten Episode mit offenen Mund vor dem Bildschirm, denn: Ja, genau so ist es. Die Mädchen haben irgendwann angefangen Menschenfleisch zu essen. Und in Ermangelung an genügend Leichen, die sie hätten konservieren und bei Bedarf auftauen können, haben sie eben → etwas nachgeholfen. Ja, genau so ist es gewesen und dieses Geheimnis wird am Ende der ersten Episode offenbart.
Und genau das ist der Augenblick, in dem man nicht von dieser Serie lassen kann, denn ab diesem Moment ist schlicht und ergreifend überhaupt nicht vorherzusehen, in welche Richtung sich «Yellowjackets» bewegen wird. Auffällig ist, dass es von der großen Sympathieträgin der Serie, Jackie, kein erwachsenes Ebenbild gibt. Warum ausgerechnet nicht von Jackie? Man ahnt warum, aber was ist geschehen, dass sie ihre Führungsrolle verloren hat? Dann ist da die Geschichte der Journalistin, die, wie sich ebenfalls bereits in der ersten Episode herausstellt, nicht ist, was sie vorgibt zu sein. Wer aber ist sie? Was verbindet sie mit den Geschehnissen in Ontario? Oder warum hat Taissa den Schwur gebrochen, ein unauffälliges Leben nach der Rettung führen zu wollen? Und was ist im Fall von Natalie anders verlaufen als bei den anderen Frauen, die oberflächlich betrachtet offenbar ins Leben zurückgefunden haben? Ihr Hass auf die anderen Überlebenden – er ist differenziert. Es ist eben nicht nur der Hass auf die anderen, die sie möglicherweise mitgerissen haben. Es ist mehr geschehen!
Wie sich in den nächsten Episoden all diese Figuren treffen, wie Vermutungen aufgebaut und Verdachtsmomente kreiert werden, um doch wenig später wieder zu verpuffen, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinträchtigt, all das ist grandios orchestriert. «Yellowjackets» ist eine Serie, die verschiedene Genre virtuos zu einer Einheit verbindet. Es ist ein Coming-of-Age-Drama, ein Kannibalismusschocker, eine Charakterstory und sogar ein Whodunnit, denn die Frage, die im Raume steht, wer was wann begonnen hat, ist eine Frage, die über allem kkreist. Welcher Funken hat aus All-American-Girls mordende Kannibalinnen werden lassen? Wer hat welche Grenzen zuerst überschritten? Warum sind die anderen gefolgt? Wann hat sich der Zustand, den wir Zivilisation nennen, verflüchtigt, denn – dieser Spoiler darf sein – nach dem Absturz gehen die Mädchen nicht direkt aufeinander los ...
Ungewöhnlich in diesen Serienzeiten ist die Tatsache, dass die Showrunner der Serie, Ashley Lyle und Bart Nickerson, bei gerade einmal rund der Hälfte der Episoden in den Autorencredits geführt werden. Eine Serie zu schreiben ist heute eine Gemeinschaftsarbeit (Writer's Room). Im Fall von «Yellowjackets» ist es jedoch offensichtlich, dass narrative Brüche gewollt sind. Auch auf Seiten der Regisseuren ist dieses Prinzip nicht zu übersehen. Abgesehen von der norwegischen Regisseurin Eva Sørhaug («Occupation»), die drei Episoden inszeniert hat, gibt es keinen anderen Regisseur, keine andere Regisseurin, der oder die mehr als eine Folge in Szene gesetzt hätte. Auch das ist im Rahmen einer solchen Serie ungewöhnlich. So aber bekommt jede Episode eine eigene Handschrift. Was heute schon wieder faszinierend ist.
Überraschend kommt die Ankündigung einer zweiten Staffel. Die hat der produzierende US-Sender Showtime bereits in Auftrag gegeben. Überraschend ist dies, da zumindest die Geschichte der Journalistin, die unangenehme Fragen stellt, zumindest andeutet, dass am Ende auch Antworten auf diese Fragen stehen werden. Bleibt zu hoffen, dass die Macher der Serie wissen, wann es Zeit ist, den Stecker zu ziehen und die Geschichte zu beenden. Irgendwann möchte man als Zuschauer schließlich auch einmal auf all die Fragen, die gestellt werden, Antworten bekommen. Und der größte Feind aller Antworten ist in diesen Zeiten die vorläufige Absetzung einer Serie …
Ab 28. Dezember 2021 auf Sky
Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
27.12.2021 14:31 Uhr 1
27.12.2021 15:12 Uhr 2
glaube mir, wenn ich dir versichere, dass die einzigen Spoiler in der oben stehenden Kritik ausschließlich die erste Episode betreffen. Und solltest du dich daran stören, dass der Kannibalismus gespoilert wird - mit dem hat sogar Showtime für die Serie geworben, es ist also gar kein Geheimnis, sondern im Gegenteil, es ist ein - nun ja - Appetitanreger, mit dem Lust auf die Serie gemacht werden soll. Auch die Charakterbeschreibungen gehen primär auf die Geschehnisse der ersten Episode ein. In der Geschichte steckt so eine Dynamik, darin stecken so viele (niemals willkürlich erdachte) Wendungen: Ich fand es bislang richtig klasse und dieser Text gibt wirklich nur die Geschehnisse aus vielleicht 30 Minuten Spielzeit wieder.
27.12.2021 23:30 Uhr 3