Serientäter

«Der Greif» kann seine Schwächen nicht verbergen

von

1984 muss der sechsjährige Mark mit ansehen, wie sein Vater in seinem Atelier in einer Kirche verbrennt. Wollte der Vater seine Söhne Mark und den älteren Thomas mit in den Tod reißen? Zehn Jahre später erfährt Mark, dass seine Familie seit Jahrhunderten eine Pforte in eine andere Welt bewacht und der Tod seines Vaters damit in Zusammenhang steht.

Stab

Deutschland 2022/2023
6 Episoden à ca. 57 min
Darsteller: Jeremias Meyer, Lea Drinda, Zoran Pingel, Theo Trebs, Armin Rohde, Sabine Timoteo, Samirah Breuer, Thorsten Merten. Yuri Völsch
Showrunner: Sebastian Marka, Erol Yesilkaya
Autoren: Sebastian Marka, Erol Yesilkaya, Boris Dennulat, Senad Halibasic, Stefanie Veith
Regie: Sebastian Marka, Max Zähle
Executive Producers: Max Wiedemann, Quirin Berg, André Zoch
Schnitt: Andreas Baltschun, Lucas Seeberger
Pruduktionsdesign: Sebastian T. Krawinkel
Kamera: Willy Dettmeyer
Amazon Prime hat eine Wolfgang Hohlbein-Verfilmung in Auftrag gegeben. Und das in Serie. Über 200 Romane hat Wolfgang Hohlbein geschrieben, wahrscheinlich mehr, wenn man alle Gruppenpseudonyme von Heftromanserien mit einrechnet, für die er geschrieben hat. 43 Millionen Bücher hat er verkauft, in 30 Sprachen wurden diese übersetzt. Fans des Erfolgsautors werden nun entzückt sein, denn trotz seiner großen Popularität und den vielen Millionen Gründen, seine Werke zu verfilmen, sieht seine Filmografie bislang mager aus. 2020 kam «Die Wolf-Gäng» in die Kinos, ein Fantasyfilm für Kinder, der eher unter dem Radar lief. Für «Das Schicksal von Cysalion», eine Bühnenshow mit Spielfilmeinspielern (man findet die Produktion bei Prime) hat er narrativen Input beigesteuert; doch damit endet seine Filmografie auch schon. Bis jetzt, denn mit «Der Greif» hat Amazon Prime nun eines der bekanntesten und erfolgreichsten Bücher des vom Niederrhein stammenden Autor in bewegte Bilder umgesetzt.

«Der Greif» beginnt mit einer Tragödie. Es ist 1984 und Karl Zimmermann wirkt aufgeregt. Der Familienvater scheint einem Wahn verfallen zu sein. Mit seinen Söhnen Mark, 6 Jahre, und Thomas, 16, ist er auf dem Weg zu einer Kirche. Seine Frau Petra will ihn aufhalten. Aber es gelingt ihr nicht. Am Ende dieses Tages ist Karl Zimmermann tot. Er ist vor den Augen seiner Söhne in der Kirche, in der er als Steinmetz eine Werkstatt unterhalten hat, verbrannt. Wollte er, wie Petra vermutet, seine Söhne mitnehmen? Niemand weiß, was Karl getrieben hat. Der Fall bleibt ungelöst.

Zehn Jahre später. Mark ist inzwischen 16 Jahre alt. Er lebt bei seiner Mutter. In der Schule gilt er als Außenseiter. Einerseits ist er der Typ, der die coolen Mixtapes unter der Hand verkauft – sein Bruder Thomas hat einen Plattenladen, daher kommt Mark stets an die neuesten Sachen. Auf der anderen Seite ist Mark dieser Außenseiter – eben wegen Thomas. Marks Klassenlehrer war auch Thomas' Klassenlehrer. Und Thomas hat diesen Klassenlehrer vor rund zehn Jahren aus verschiedenen Gründen zusammengeprügelt. Seither hat die Familie Zimmermann einen zweifelhaften Ruf. Der Vater verbrannt und der ältere Sohn ein Schläger, der nach dem Tod des Vaters auch noch in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wurde, weil er unter Wahnvorstellungen litt. Thomas hat sich jedoch, wie man sagt, gefangen. Er hat den Plattenladen (auch wenn die Idee eigentlich von Mark stammte) und er lebt sein Leben. Allerdings ist sein Verhältnis zu seiner Mutter zerrüttet, hat sie ihn doch in die Anstalt zwangseinweisen lassen. Zwar kommt Thomas am 16. Geburtstag von Mark in elterliche Haus zum Abendessen, der Abend endet jedoch im Eklat.

Es ist nun an Thomas Mark zu erklären, was vor zehn Jahren geschehen ist. Und dafür übergibt er ihm die Chronik der Familie Zimmermann, die seit mehreren Hundert Jahren in der Stadt Krefelden (so heißt sie tatsächlich) ansässig ist. Der Name Zimmermann stammt daher, dass ihr Urahn eben genau das gewesen ist – ein Zimmermann, der am Bau der bereits bekannten Kirche maßgeblich beteiligt war. Seither ist es die Familie Zimmermann, die ein Portal beschützt, das unsere Welt mit der Welt des Greifs verbindet. Der Greif ist gefangen in einem Schwarzen Turm, was nicht bedeutet, dass er keine Macht besäße. Allerdings ist diese Macht beschränkt, auch dank ihrer Vorfahren. Jeder Mann der Familie hat in einer Chronik unterschrieben, unsere Welt zu beschützen. Ihr Vater Karl hat dies ebenso getan wie Thomas. Jetzt, da Mark 16 ist, ist es auch für ihn an Zeit.

Natürlich denkt sich der junge Mann, dass sein Bruder offenbar doch nicht ganz so stabil ist, wie gedacht; er tut ihm jedoch den Gefallen, die Chronik zu unterschreiben und folgt ihm zur Kirche, wo er nicht nur mit Erstaunen feststellt, dass er keine Höhenangst mehr hat (unter der er vorher litt). Irgendwann muss er leider auch feststellen, dass ihnen auf dem Rückweg eine Steinfigur gegenübersteht, die auf dem Hinweg nicht an der Stelle gestanden hat. Und nun muss er wohl davon ausgehen, dass sein Bruder ihm keinen Bären aufgebunden hat und die Familie Zimmermann tatsächlich ein Geheimnis bewahrt.

Bedauerlicherweise ist «Der Greif» in dem Moment, in dem es zur Konfrontation kommt, bereits eine Stunde alt, sprich, die Begegnung mit der steinernen, aber beweglichen Statue stellt den Cliffhanger von der ersten zur zweiten Episode dar. Es passiert bis dahin einfach nicht viel. Man kann sicher wohlwollend anmerken, dass sich die Serie sehr viel Zeit für ihre Figuren nimmt. Nur wo bleibt die Spannung? Oder ein Momentum, das wirklich packen würde? Ja, der Tod des Vaters ist tragisch, aber der Schrecken vergeht im Laufe der ersten Episode, weil sich diese erste Episode in vielen Details verfängt, aber das Gefühl vermittelt, nicht wirklich voranzukommen.

Erst mit der zweiten Episode kommt es dann zu einer Reise in die Welt des Greifs, die jetzt allerdings nicht nach Mordor aussieht, sondern ein deutsches Mittelgebirge sein könnte (gedreht wurde übrigens ins Spanien). Hier begegnen Thomas und Mark der wenig friedliebenden, dominanten Rasse dieser Welt, und prompt gerät Thomas in deren Gefangenschaft. Die steinernen Griesgrame halten Menschen als Sklaven für niedere Arbeiten. Aus welchem Grund eigentlich der Greif im Turm festsitzt, seine Kinder aber (sie nennen den Greif Vater) sich frei bewegen können, wird übrigens nie so wirklich erklärt. Man muss einfach hinnehmen, dass der Greif halt ein paar Problemchen hat. Auf seiner Flucht (Mark wird von Thomas explizit aufgefordert, davonzulaufen), erkennt Mark, dass er die Fähigkeit besitzt, sich zwischen den Welten teleportieren zu können. Er ist ein Weltenwanderer. Es ist eine Fähigkeit, die Thomas nicht besitzt und die, wie sich noch zeigen wird, etwas Besonderes darstellt. Auf jeden Fall findet sich Mark bald wieder im Jahr 1994 in Krefelden ein, von wo aus er eine Rettungsmission für seinen Bruder zu starten gedenkt. Alleine schafft er das nicht, also offenbart er sich Memo, dem heimlichen Sympathieträger der Serie. Memo arbeitet im Plattenladen. Der Metal-Fan hat eine leichte, körperliche Behinderung, weshalb er sich oft in den Laden flüchtet, denn daheim wird er von seinem Vater nicht als „echter Mann“ akzeptiert. Memo ist der Freund, der einem folgt, selbst wenn er glaubt, dass man nicht ganz zurechnungsfähig ist. Daher folgt er Mark – und findet sich stante pede in der Welt des Greifs wieder und es beginnt auch schon die dritte Episode.

«Der Greif» kommt in der ersten Hälfte seiner Spielzeit einfach nicht richtig in Fahrt. Die Welt des Greifs bleibt eine nette Mittelgebirgslandschaft ohne echtes, fantastisches Flair, Spannung wird auf einer sehr kleinen Flamme gekocht. Erst mit der vierten Episode und damit der zweiten Hälfte dieser ersten Staffel nimmt die Serie mit einem Mal ordentlich Fahrt auf. Bleiben die Kinder des Greifs zwar weitestgehend namenlose Hornträger, lässt die Inszenierung durchblicken, dass diese Wesen keine dummen Orks sind, sondern dass sie durchaus zu Gefühlen neigen – und sei es nur die Angst vorm Greif, der erstmals partiell in Erscheinung tritt und sich als wirklich hässlicher Vogel entpuppt (was übrigens wörtlich zu verstehen ist). Die Spielorte wechseln mit einem Mal relativ schnell; die Montage bekommt eine sehr eigene Dynamik und hebt die Serie endlich auf ein Niveau jenseits öffentlich-rechtlicher Bildgestaltung, die anfangs dominiert. Den Höhepunkt dieses nun temporeichen Fantasy-Telespiels stellt ein Gewaltausbruch am Ende der fünften Episode dar, in der etwas aus der fremden Welt in die unsere gerät. Mit diesem Ende, das die Grenzen zum Horrorfilm überschreitet, scheint der schwache Einstieg in die Serie vergessen. Doch leider...

Die Nebenfiguren


Vier Namen sind in dieser Besprechung noch überhaupt nicht genannt worden: Sara, Ben, Maya und Becky. Sara ist die blonde Bitch der Schule. Das Mädchen aus reichem Hause. Sie ist arrogant, überheblich, das Gegenteil von der netten Becky, einem Mädchen, das neu an der Schule ist und auf die Mark ein Auge geworfen hat. Vor allem treibt es Sara gerne mit Ben. Ben ist 18, geht aber noch in ihre Klasse. Er ist vorbestraft, er ist der Bad Boy und nicht unbedingt das, was man eine Intelligenzbestie nennen würde. Über weite Strecken der Inszenierung sind Ben und Sara Sidekicks, die es braucht, um die Hauptfiguren etwas umfassender zu definieren. So entwickeln Becky (deren Rolle sehr wichtig ist) und Sara eine überraschende Sympathie füreinander, was so gar nicht zu den Figuren der Außenseiterin, eine solche ist Becky, und der blonden Bitch passen mag. Das ist gut, denn so werden einige Klischees durchbrochen. Maya ist derweil das Mädchen, das irgendwie in den (vermeintlich) bösen Buben Ben verschossen ist, während der halt etwas zu dumm ist, um zu kapieren, dass sie nicht nur ein Kumpel sein möchte. Die Ben/Maya-Story ist auf ihre Art und Weise sogar entzückend, da Maya in Ben tatsächlich etwas sieht, was anderen verborgen bleibt (eine durchaus verletzliche Seele). Lange Zeit aber steht die Frage im Raum, warum sich die Inszenierung immer wieder doch sehr viel, um nicht zu sagen, zu viel Zeit nimmt, Ben, Maya und Sara recht ausführlicher zu definieren? Becky ist eine Hauptfigur, Ben, Maya und Sara sind dies nicht. Warum ist es wichtig, dass wir zum Beispiel erfahren, dass Ben einen versoffenen, zur Gewalt neigenden Vater hat? Das alles ist für die Handlung eigentlich unwichtig.

Allerdings...


Sind wir damit auch schon in der sechsten und letzten Episode, in der sich die Ereignisse überschlagen und diese Nebenfiguren plötzlich massiv in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt werden und … die Serie auch schon vorbei ist. «Der Greif» endet nicht einfach mit einem Cliffhanger epischen Ausmaßes, im Grunde ist diese erste Staffel strukturell nicht mehr als ein Prolog, der die nun kommende (tatsächlich große?) Geschichte einleitet.



Was geschieht aber, wenn es gar keine zweite Staffel gibt?


«Der Greif» ist eine Serie, die ihre Schwächen nicht verbergen kann. Sie ist zu lang. Es fehlt ihr über weite Strecken an Tempo. Und ohne zu viel zu spoilern: warum der Greif eigentlich so ein mächtiges Wesen ist, wird auch nicht wirklich beantwortet. Er ist halt ein großer, hässlicher Vogel, der über ein paar fiese Skills verfügt, aber beispielsweise nicht die Macht besitzt, Ringe zu schmieden, um sie (wer immer „sie“ sein mögen) zu knechten. Vor allem verfügt er nicht gerade über große Ork-Armeen, die losgelassen unseren schönen blauen Planeten überrennen könnten. Es gibt Dorffeste im Sauerland, die zur großen Schlussprügelei, auf die man sich schon das ganze Jahr freut, mehr Teilnehmer zusammenbringen als das Reich des Greifs Finsterlinge vorweisen kann.

Es ist keine Frage: Der Cliffhanger weckt tatsächlich eine große Neugierde auf die zweite Staffel. Das, was er andeutet, verspricht großen Serienfernsehen. Aber wird es das auch, noch einmal gefragt, zu sehen geben? Wer heute eine Serie über die erste Episode hinaus schaut, jedoch nicht sofort begeistert ist, entscheidet sich meist spätestens nach der dritten Episodn, ob man die Serie jetzt durchschaut – oder abbricht. Es sind bedauerlicherweise genau diese ersten drei Episoden, die den Funken so gar nicht zünden lassen wollen.

«Der Greif ist seit 26. Mai 2023 im Stream auf Amazon Prime verfügbar.

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