Hingeschaut

«Calvin am Goldstrand»: Der Kindskopf mogelt sich durch

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ProSieben möchte seinem Streamingdienst Joyn eine größere Präsenz bieten. Spät am Abend strahlt man deshalb «Calvin am Goldstrand aus». Lohnt es sich so lange wach zu bleiben?

An Realityformaten mangelt es bei deutschen (und auch internationalen) Streamingdiensten gewiss nicht. Joyn hat seinen Output in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich erhöht, sodass unter anderem die Reality-Soap «Calvin am Goldstrand» das Licht der Welt erblickte. Im Mittelpunkt steht der 31-jährige Kindskopf Calvin Kleinen, der das gemachte Nest bei der eigenen Mutter verlassen möchte, um am Goldstrand, dem bulgarischen Pendant zur Partyhochburg Ballermann, ein Promoter-Geschäft aufzubauen – oder wie er sagt: „den Goldstrand rasieren“.

Kleinen, Teilnehmer der Reality «Temptation Island», die selbst den Trash-Königen von RTL so niveaulos ist, dass sie nicht mehr im Fernsehen ausgestrahlt wird. Außerdem machte er bei «Are You The One?» (ebenfalls nur bei RTL+), «Promis unter Palmen» und «Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!» mit. Zudem war er Gast bei ProSiebens «Das große Promi-Büßen», zu dem er eigentlich direkt zurückkehren sollte, angesichts dieser Schandtat, die er mit dem aktuellen Joyn-Format produzierte.

Noch in Deutschland versucht der muskelbepackte Blondschopf Freunde und Bekannte zusammenzutrommeln, die ihn äußerst kurzfristig an die Schwarzmeerküste begleiten sollen. Natürlich versucht es der stets in viel zu kurzen und engen Badehosen bekleidete Möchtegern-Promoter bei weiblichen Begleiterinnen zu landen, mit denen er mehr als nur Geschäfte im Sinn hat. Der Grundton ist somit bereits nach wenigen Szenen gesetzt. Für Calvin, der eigenen Angaben zufolge zwei Jahre selbst als Promoter am Sonnenstrand, ebenfalls in Bulgarien, gearbeitet hat, geht es weniger um das Geschäft, sondern ums Partymachen und Frauen-Abschleppen. Warum auch nicht, schließlich gibt es genug Reality-Shows, in denen er ein gern gecasteter Teilnehmer ist.

Das, was Calvin seinem zusammengewürfelten Team dann aber zumutet, ist aus menschlicher Sicht mehr als verachtenswert. Das Team besteht zu Beginn aus seinem Bruder Marvin, dessen «Are You The One?»-Flamme Jenny und der mehr oder minder erfolgreichen Mallorca-Sängerin Chiara Gianti. Vor allem das Casting von Marvin war geradezu eine Farce. Laut Off-Stimme sprach ihn Calvin nach Feierabend an. Während des Gesprächs selbst – logisch wurde es im aufblasbaren Pool in Hotel Mama geführt – konnte sich Calvin kaum zusammenreißen, um dem offenbar vom Redakteur soufflierten Gesprächsfaden zu folgen. Immer wieder blickte Calvin lachend an der Kamera vorbei. Er wolle nun seinem berufstätigen Bruder karrieretechnisch unter die Arme greifen, schließlich sei dessen berufliche Karriere ziemlich aussichtslos. Humor hat sie, die Familie Kleinen. „Wer ist in dem Promoter-Team der Chef?“, fragt Marvin. „Ja, ich“, antwortet der große Bruder, woraufhin der Jüngere antwortet: „Also keiner.“ Das mit der Wahrheit hat zumindest einer der beiden Brüder also verstanden.

Calvin dagegen nimmt es nicht nur mit der Wahrheit nicht ganz so genau – dazu später mehr –, er ist noch dazu völlig unvorbereitet. Die Pläne wurden offenbar Hals über Kopf geschmiedet, Calvin und sein Bruder buchen die Flüge erst wenige Tage vor Abflug und bezahlen somit einen hohen Preis, auch die für Promoter vorgesehen Unterkunft vor Ort unterbietet jeden Lebensstandard. Völlig eingestaubt stehen in zwei Räumen vier Betten, ein verschimmelter Kühlschrank und ein Sofa, das aus einem Strip-Club zu stammen scheint. Calvin zeigt sich darüber trotzdem begeistert, er lebt schließlich in einer Welt, in der für ihn geputzt, gekocht, Wäsche gewaschen und vor Abreise sogar noch die Klamotten sorgfältig in den Koffer zusammengelegt werden. Die weiblichen Begleiterinnen sind aber eben keine Angestellten in „Hotel Mama“, sodass Kleinen selbst Hand anlegen musste, um unter anderem ein benutztes Kondom aus der Wohnung zu entfernen.

Das Abenteuer Goldstrand beginnt nach einer mehr schlecht als rechten Grundreinigung und einem Eimer Sangria. Der „Plan“ sah vor, angesoffen an der Türschwelle bekannter Nachtclubs zu erscheinen, um dort für das Verkaufen von Partytickets engagiert zu werden. Allerdings machte Calvin die Rechnung ohne den gesunden Menschenverstand der Klubbetreiber, die die Bande halbnackter, halbbesoffener Party-Wütigen nicht ernst nimmt und für die Verhältnisse sehr freundlich zurückweist. Am Goldstrand arbeitet man ohnehin mit Agenturen zusammen, es besteht kein Bedarf an Calvin und Co. Am besten wäre es gewesen, Cheerio Entertainment hätte die Kameras an dieser Stelle ausgeschaltet und die Heimreise angetreten. Doch so funktioniert Fernsehen bekanntlich nicht.

Über einen Promoter bekam die Gruppe eine Kontaktperson vermittelt, die für die Galionsfigur des Goldstrandes arbeitet. Es kam zu einem „Bewerbungsgespräch“, zu dem man mit Alkopops bewaffnet und in Badehose bekleidet erschien. Sofort war Calvin auf der Abschussliste, durfte sein Glück aber dennoch beweisen. Zu viert sollte man innerhalb weniger Stunden 80 Tickets verkaufen, was zwar fast gelang, doch das eingenommene Geld verprasste man gleich wieder, sodass Calvin bei der Abrechnung das Geld vorstrecken musste. Wohl dem, der zuletzt über 80.000 in einem RTL-Realityformat eingenommen hatte.

Die Zuschauer begleiten Calvin und sein sich stetig veränderndes Team in den insgesamt sechs Episoden beim Jonglieren zwischen Party, Arbeit und Dates. Das Format ist eine große Enttäuschung. Nichts wirkt authentisch, der wechselnde Cast und die ständigen Bettgeschichten Calvins sorgen für einen zunehmenden Gefühlsverlust für Zeit und Raum. Mitte der Staffel kommt es zum Bruch, der die Produzenten offenbar in die Bredouille brachte und zum Telefon greifen ließ. Mehrere prominente Reality-Gesichter gaben sich die Klinke in die Hand, mal als Teil des Promoter-Teams und mal als körperliche Ablenkung für Calvin.

Eines der wenigen Highlights ist der Goldstrand-König Martin, der Calvin mehrfach die Leviten liest und mit eiserner Faust sein Business durchzieht, am Ende aber doch nahbar und wohlwollend daherkommt. Auch die in Folge sechs eingeführte Nora sorgt für richtig Stimmung, nachdem Calvin ihr offenbar Gefühle vorlog und sie in einer Beziehung mit ihm wägte. Es folgt ein großer Knall, der den sonst so vorlauten Muskelprotz so klein mit Hut zurückließ. Ein Wutausbruch, den man auf dem heimischen Sofa ob der gnadenlosen Stümperhaftigkeit und Trotteligkeit, mit der Calvin sein Team und sein Leben führt, schon vorher dem Fernseher entgegenbrüllte. Statt die Flinte danach aber ins Korn zu werfen und Bulgarien zu verlassen, blieb Nora standhaft und zeigte wahren Ehrgeiz und Professionalität.

«Calvin am Goldstrand» ist ein Trauerspiel. Die Produktionsfirma hatte offensichtlich kaum Budget zur Verfügung, denn die viele Schnitte wurden von den immer gleichen Drohnenflügen über die Strandpromenade gefüllt. Die Folgen werden zudem zu Beginn und zum Ende mit ausschweifenden Rückblicken und Foreshadowing-Sequenzen in die Länge gezogen – ein unnötiges Stilmittel, denn im Streamingbereich steht das Binge-Watching an der Tagesordnung.

Calvin Kleinen, dem man sicherlich ein gewisses Maß an Selbstironie nicht absprechen kann, mag durch seine Berühmtheit zwar erfolgreich Party-Tickets verkaufen können, doch mit professionellem Arbeiten hat dies wenig zu tun. Auch als Soap-Star, der eine gewisse Handlung am Laufen halten soll, eignet er sich nicht. Einstudierte Sätze wirken wie abgelesen, eigentlich will er lieber feiern, saufen und Frauen rumkriegen. Auch die Stimme aus dem Off, die im Abspann noch nicht mal benannt wird, schafft es nicht das Geschehen vernünftig einzuordnen. Zwar versucht sie es immer wieder mit einem ironischen Unterton, doch der Dilettantismus ist teilweise so haarsträubend, dass man in dieser Hinsicht viel zu vorsichtig agiert. Statt das menschenverachtende Verhalten von Calvin Kleinen klar zu benennen, wird es durch die zu zaghafte Herangehensweise eher relativiert. Im Finale bekommt «Calvin am Goldstrand» zu allem Überfluss noch ein Happy End, was keiner der Protagonisten verdient hat.

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