Der «Eurovision Song Contest» schreibt sich auf die Fahne ein unpolitisches, aber völkerverbindendes Großereignis zu sein, in dessen Vordergrund die Musik steht, die meist von jungen aufstrebenden Künstlern performt wird, für die das alljährliche Event ein Sprungbrett sein kann. Für den deutschen Teilnehmer Jendrik, der 2021 mit seinem Lied „I Don’t Feel Hate“ nur drei Punkte erzielte, ging dieser Plan nicht auf. Malik Harris mit „Rockstars“ war mit sechs Zählern nur wenig erfolgreicher, ist seither aber immer mal wieder präsent, wenn es um den ESC in der ARD geht. Mit der Metal-Band Lord of the Lost wählte der federführende NDR im Vorjahr einen anderen Weg, folgte dem allgemeinen Trend eines auffälligen und bunten Acts, den es in früheren Jahren so nicht gegeben hätte und vielmehr an den Überraschungserfolg Lordi (Finnland) aus dem Jahr 2006 erinnerte.
Mit dem Sänger Isaak und dessen Titel „Always On The Run“ hat sich das deutsche Vorentscheid-Publikum hingegen für herausragendes Stimm-Handwerk entschieden, ein feuriges Bühnenbild wird es aber auch in diesem Jahr geben. Die Buchmacher sehen den 28-jährigen aktuell aber nicht auf den vorderen Plätzen. Issak kommt in diesem Jahr ohnehin zugute, dass die „Big Five“, also Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien und Frankreich, sowie Gastgeber Schweden, die für das Finale gesetzt sind, auch in den Halbfinals auf der Bühne stehen werden. Sie stehen zwar nicht zur Abstimmung, aber sie dürfen ihre Songs dem Publikum präsentieren und verschaffen den Zuhörern somit schon vor dem Finale einen ersten Eindruck. Da manches Lied erst beim mehrfachen Hören im Kopf bleibt, könnte dies die Chance auf eine größere Punkteausbeute erhöhen.
Im heutigen ersten Halbfinale tritt Isaak für Deutschland sowie zwischen Island und Slowenien auf, Olly Alexander aus Großbritannien zwischen Irland und der Ukraine und Marcus & Martinus, die für Schweden starten, singen zwischen Moldau und Aserbaidschan. Während diese Regel zusammen mit den Abstimmungen im Finale leicht angepasst wurde, hatte Isaak nach seiner Nominierung mit einer anderen, altbewährten Regel zu kämpfen. Da in seinem Lied die Zeile „No one gives a shit about what’s soon to come” vorkam, musste diese geändert werden, da Schimpfwörter auf der ESC-Bühne traditionell verboten sind. Das stellte Isaak laut eigener Aussage aber vor keine Probleme.
Israels Teilnahme sorgt weiterhin für Proteste
Größere Probleme die Veranstaltung familienfreundlich und unpolitisch zu halten, hatten die Veranstalter dagegen mit dem israelischen Beitrag rund um Sängerin Eden Golan, die sich heftiger Kritik ausgesetzt sieht. Auch sie musste ihr Lied überarbeiten, aber nicht, weil es ein Schimpfwort enthielt, sondern weil sich der Beitrag „October Rain“ auf das Massaker der islamistischen Hamas in Israel am 7. Oktober bezogen haben soll. Im zweiten Halbfinale am Donnerstag tritt sie nun mit dem englisch-hebräischen Titel „Hurricane“ an, um sich für das Finale zu qualifizieren. Trotz der Überarbeitung ist die Kritik aber nicht abgeebbt.
Kritiker, die lautesten Stimmen stammten aus Skandinavien, werfen der Europäischen Rundfunkunion EBU vor, mit zweierlei Maß zu messen. Während der russische Partner nach dem Angriff auf die Ukraine vom ESC ausgeschlossen wurde, gilt dies für Israel trotz des Gaza-Krieges nicht. Offiziell heißt es in der Begründung, der russische Sender habe seit der Invasion wiederholt gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen. Beim israelischen öffentlich-rechtlichen Sender Kan seien dagegen keine Verstöße festgestellt worden. Zudem sei der Sender regierungsunabhängig. Wegen seiner kritischen Berichterstattung habe die israelische Regierung Kan in den vergangenen Jahren sogar mit der Schließung gedroht.
Die Buchmacher sehen Israel aktuell in den Top 10 vertreten, eine Finalteilnahme scheint Formsache. Deswegen sind für Samstag auch große Pro-Palästina-Veranstaltungen in Malmö, wo viele Menschen mit palästinensischen Wurzeln leben, angekündigt, bei denen bis zu 20.000 Menschen erwartet werden. Es wird mit teils gewalttätigen Ausschreitungen gerechnet, weswegen Häftlinge aus der Region verlegt worden seien, um Platz in den Gefängnissen zu schaffen.
Wie unpolitisch wird es wirklich?
Während vor der Halle Ausschreitungen drohen, soll es zumindest in der Halle zu einem friedlichen Fest kommen. Zeichen, die auf die Situation in Israel bzw. im Gaza-Streifen hindeuten, sind verbannt. Die Frage bleibt trotzdem, wie unpolitisch der ESC sein wird. Schon 2019 sorgte die isländische Band Hatari für Aufsehen, als sie in Tel-Aviv nicht nur den zehnten Platz belegten, sondern auch beim Televoting Palästina-Flaggen in die Kamera hielten. Damals sangen sie „Hatrið mun sigra“, zu Deutsch „Hass wird siegen“.
In diesem Jahr gilt der kroatische Künstler Marko Purišić alias Baby Lasagna mit seinem Beitrag „Rim Tim Tagi Dim“ als Favorit auf den Sieg. Der exzentrische Sänger nähert sich dem Auswandern vieler junger Kroaten mit einer schrillen Mischung aus Techno und Heavy Metal humorvoll an. Dass der Spaß und gute Laune im Vordergrund stehen, dürfte die Veranstalter nicht zuletzt wegen der Israel-Kontroverse freuen.
Lustig könnte es auch in Deutschland werden
Humor steht derweil auch in Österreich wieder im Vordergrund, denn der Radiosender FM4 hat erneut Jan Böhmermann und Olli Schulz für die Reportage aus Malmö verpflichtet. Obwohl sich gerade Schulz im vergangenen Jahr auf die Acts sehr gut vorbereitet präsentierte, blieben zahlreiche flotte Sprüche und improvisierte Analysen im Vordergrund der beiden Podcaster. Nichts anders sollte man auch in diesem Jahr erwarten.
Mit welchen Erwartungen das deutsche Publikum wiederum in den Abend geht, ist diesmal offen wie selten. Nach über einem Vierteljahrhundert müssen sich die ARD-Zuschauer an eine neue Stimme gewöhnen. Nicht mehr Peter Urban kommentiert die Showeinlagen, sondern Thorsten Schorn. Der Radio- und Fernsehmoderator ist zwar kein unbeschriebenes ESC-Blatt, doch ist nicht ganz klar welchen Ansatz er wählen wird: den sonoren und staatstragenden Ton von Peter Urban oder eine zuweilen mit humorvollen und sarkastischen Kommentaren angereicherte Reportage, für die er unter anderem aus dem VOX-Format «Shopping Queen» bekannt ist. In jedem Fall: Es wird spannend!
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