Serientäter

«Anna»: Zunächst eine narrative Wucht

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Eine Welt ohne Erwachsene. Die sechsteilige italienische Serie Anna lässt so manch eine Zombie-Serie wie ein laues Lüftchen wirken, denn der Schrecken, den sie geschehen lässt, wirkt so viel realer und bedrückender. Dass ausgerechnet Disney+ die große Apokalypse geschehen lässt, überrascht.

«Anna»

Italien/Frankreich 2021
6 Episoden (je etwa 52 Minuten)
Darsteller: Guilia Dragotto, Clara Tramontano, Viviana Mocciaro, Giovanni Mavilla, Alessandri Pecorella, Elena Lietti, Matilde Sofia Fazio
Showrunner/Regie/Drehbuch/Produktion: Niccolò Ammaniti
Kamera: Gian Enrico Biancho
Schnitt: Clelio Benevento
Musik: Fabio Pagotto Vessel
Zumindest überrascht dies auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick wird das Staunen schnell entzaubert, denn «Anna» entstammt einem Deal, den Disney+ mit der Produktionsschmiede Fremantle geschlossen hat. Einen Deal, der für Länder wie Deutschland, Spanien oder den Niederlanden gilt, um die digitalen Serienregale zu füllen, nicht aber beispielsweise für Italien, wo «Anna» entstanden ist – und zwar für Sky Italia. Sky Italia aber hat nur einen Teil der Produktion gestemmt, mit im Boot saß, neben Fremantle, auch arte France. Und so lief «Anna» im Herbst 2021 sogar schon im deutschen Free-TV bei arte Deutschland. Aber Hand aufs Herz: Wer hat die Serie dort oder im Stream des Kultursenders gesehen?

«Anna» beginnt an einem Punkt der Katastrophe, an dem diese bereits über die Welt gefegt ist. La Rossa – die Rote – wird die Krankheit genannt, die die Erwachsenen dahingerafft hat. Titelheldin Anna ist etwa 13 Jahre alt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie in die Pubertät kommt. Es ist die Krux der Seuche. Kinder sind für sie unempfänglich. So sind die Erwachsenen gestorben. Die Kinder aber haben überlebt. Doch das Virus kann warten. Sobald die Pubertät beginnt, findet das Virus Verknüpfungspunkte, die ohne jede Hoffnung die Krankheit ausbrechen lassen. Es gibt keine Rettung, kein Heilmittel. Trotz dieses Wissens bemüht sich Anna ihren kleinen Bruder Astor zu beschützen. Ist es ein natürlicher Instinkt, der sie dazu treibt? Ist es die kindliche Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut wird?

Anna bewohnt mit Astor eine Villa in Sizilien. Sie bindet Astor ans Haus durch eine Grenze, die sie gezogen hat. Hinter dieser Grenze, erzählt sie ihrem kleinen Bruder, leben Monster, die nur darauf warten, dass kleine Kinder diese Grenze überschreiten. Sie, Anna, kann raus, weil sie zu groß für diese Monster ist. Aber kleine Kinder entkommen ihnen nicht. So schützt sie Astor vor einer aus den Fugen geratenen Welt. Sicher ist sie möglicherweise etwas übervorsichtig, aber Anna ist schließlich selbst noch ein Kind. Und so ist es um so bemerkenswerter, wie sie diese Situation handhabt.

Was aber ist genau geschehen?


In Rückblicken erzählt die erste Episode davon, wie Anna und Astor mit ihrer Mutter im Süden gelebt haben. Sie waren nicht unbedingt beliebt, was an der norditalienischen Herkunft ihrer Mutter lag. Norditalienerin? Wohlhabend? Das reichte aus, um eine gewisse Unbill zu erzeugen. Anfangs ist die Seuche in diesen Rückblicken etwas, das im Norden stattfindet. In Mitteleuropa. Belgien, Deutschland. Es sind Fernsehberichte, die immer wieder im Hintergrund laufen und von der Ausbreitung berichten, die nach und nach auch das Leben in Italien bestimmen. Bis die Berichte enden, weil es niemanden mehr gibt, der noch berichten kann.

In einer Welt der Kinder – leben diese von dem, was „da“ ist. Ackerbau? Viehzucht? Sie leben von dem, was die Welt der Erwachsenen ihnen überlassen hat. Konservendosen. Getränkeflaschen. Diese Kinder sind keine Jäger und Sammler. Während Kinder wie Anna die Welt und die Hoffnungslosigkeit verstehen, die um sie herum herrscht, verstehen die Kleinen diese Welt nicht. Dies alles ist erdrücken inszeniert, da sich Regisseur und Autor Niccolò Ammaniti nicht scheut, auch kontroverse, fast unerträgliche Momente zu konzipieren, die einem beim Betrachten seiner Serie nahezu die Luft abschnüren – wie etwa den Moment, in dem Anna in der nahegelegenen Stadt (Palermo?) bei der Suche nach Lebensmitteln Pietro kennenlernt. Der ist älter als sie und, wie sich herausstellt, hat er schon von Anna gehört. Die meisten Kinder und Jugendlichen schließen sich in Gruppen zusammen. Da fällt jemand wie Anna auf, die sich solch einem Zwang verschließt. Anna findet Pietro sichtlich sympathisch. Viele Jungs gibt es in seinem Alter nicht mehr. Kaum haben sie sich kennengelernt – müssen sie auch schon gemeinsam vor den Blues flüchten, der größten und bestorganisierten Kinderbande. Inszeniert Ammaniti diese Flucht zunächst konventionell (er setzt einen Spannungsmoment hier, er lässt dort seine Protagonisten einen Haken schlagen), verdichtet sich diese Jagd jedoch mit zunehmender Dauer, da klar wird: Die kleinen Kinder, die Anna und Pietro verfolgen, werden sie töten. Es ist kein Spiel. Auch geht es nicht nur darum, Anna und Pietro abzujagen, was sie zu Essen gefunden haben. Diese Kinder sind von den Älteren darauf konditioniert, Eindringlinge zu vernichten.



Während sich die erste Episode primär dem Leben von Anna und Astor widmet, beginnt die „Spannungshandlung“ mit der zweiten Episode und der Entführung Astors. Angehörige der Blauen dringen in ihr Haus ein und nehmen Astor mit, während Anna draußen ist – bei Pietro, der sich ein kleines Paradies an einem etwas außerhalb gelegenen Baggersee geschaffen hat. Ein Paradies, das Anna hinter sich lässt, um Astor aus den Händen der Blauen zu befreien.

Und vor allem aus den Klauen von Angelica, der Anführerin.
Angelica ist eine Figur, die vom ersten Moment an hassenswert erscheint. Doch immer wieder blitzen da Momente auf, in denen sie fast schon Mitleid erzeugt, aller Arroganz und Gewalt zum Trotz. Sie ist Caligula und Nero. Sie lebt eine irritierende Dekadenz und zelebriert Zerstörung. Aber sie ist auch eine Heilige, die ihren Stamm, nichts anderes ist ihre Gemeinschaft, zusammenhält und führt: Und die Zuneigung für die neue empfindet, die in ihr Reich eingedrungen ist, Anna. Ihre Zuneigung führt sogar so weit, dass sie Anna an ihrer Hoffnung teilhaben lässt. Inmitten der Welt ohne Erwachsene gibt es einen Erwachsenen, der überlebt hat. Ist er der Schlüssel zur Heilung?

Die ersten vier Episoden von «Anna» sind von einer narrativen Wucht, wie man sie selten zu sehen bekommt. Die vorzügliche Kamera, deren wunderschöne Bilder immer wieder in einem irritierenden Kontrast zum Geschehen stehen, ist ebenso bemerkenswert wie die Musik, die immer wieder bekannte Stücke aufgreift und in die Handlung integriert. Auch die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler bieten bemerkenswerte Leistungen. Leider ist aber auch der Absturz, den die Serie ab Episode 5 erlebt, nicht minder bemerkenswert.

Ohne allzu viel zu spoilern, sei gesagt, dass mit der fünften Episode Pietro in den Fokus rückt und – ohne dramaturgische Notwendigkeit – seine Geschichte erzählt wird. Eine Geschichte, die die Serie narrativ überhaupt nicht voranbringt, sondern gnadenlos ausbremst, ja im Grunde zurück auf ihren Anfang rückt. Die Rückblicke geschehen ihrer selbst willen, während sie in eine vollkommen absurde, inkohärente Gegenwartsgeschichte rund u den Ätna eingebunden werden, in der sich Anna und Pietro vor allem viel unterhalten, schweigen, und unterhalten. Die gesamte Inszenierung, die vier Episoden lang eine brutalistisch-reale Welt im Untergang dargestellt hat, verliert sich in vollkommener Orientierungslosigkeit, die in der letzten Episode ihren traurigen Höhepunkt findet, wenn eine Handlung, die etwa fünf Minuten Film füllt, auf über 50 Minuten in die Länge gezogen wird. 50 Minuten totales Nichtgeschehen, dessen konstruierte Spannungsmomente über das Nichtvorhandensein einer weiterführenden Geschichte nicht hinwegtäuschen können.



Der rührige kleine DVD-Verleiher Pidax lässt gerade die thematisch ähnliche neuseeländische Serie «The Tribe», die um die Jahrtausendwende herum entstand, neu aufleben und veröffentlicht nach und nach die insgesamt 260 Episoden. «The Tribe» ist sicher keine perfekte Serie. Die Kulissen sind billig, die Kamera kann die kaum vorhandenen Produktionsmittel nicht immer kaschieren, manch ein Handlungsstrang ist trashig. Doch die Serie, die gleichfalls von einer Welt ohne Erwachsene berichtet, baut einen in sich geschlossenen Handlungskosmos auf, der sich keine nennenswerten Brüche erlaubt. Natürlich gibt es einen gewaltigen Unterschied: «Anna» ist eine Serie für ein erwachsenes Publikum, «The Tribe» wurde für eine jugendliche Zielgruppe umgesetzt, daher lief sie in Deutschland auch auf Kika. Dennoch darf «The Tribe», allen Unzulänglichkeiten zum Trotz, gerne eine Neu-Entdeckung erleben, denn der Grund für ihre Absetzung nach den erstaunlichen 260 Episoden, dürfte in der Welt langlebiger TV-Shows ziemlich einmalig sein: Den britischen Co-Produzenten von Channel 5 ist die Serie, mit fortlaufender Spielzeit – zu erwachsen geworden!

«Anna» kann bei Disney+ gestreamt werden.

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