Die Kino-Kritiker

«Rebel Ridge» – wirklich der Actionfilm des Jahres?

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Terry befindet sich auf dem Weg in die kleine Stadt Shelby Springs, um eine Kaution für seinen Cousin zu hinterlegen. Der ist wegen eines kleinen Drogenvergehens verhaftet wurde. Auf dem Weg wird er von Polizisten angehalten, die kurzerhand sein Geld konfiszieren.

Rebel Ridge

  • REGIE, PRODUKTION, SCHNITT und DREHBUCH: Jeremy Saulnier
  • PRODUKTION: Neil Kopp, Anish Savjani, Vincent Savino
  • MUSIK: Brooke Blair, Will Blair
  • KAMERA: David Gallego
  • BESETZUNG: Aaron Pierre, Don Johnson, AnnaSophia Robb, David Denman, Emory Cohen, Steve Zissis, Daniel H. Chung, James Cromwell
Wann hat ein Actionfilm von Netflix zuletzt solche Kritiken erhalten? „«Rebel Ridge» ist ein packender Thriller“, lobt zum Beispiel der Hollywood Reporter, „der durch seine fesselnde Handlung und die beeindruckende schauspielerische Leistung von Aaron Pierre besticht. Jeremy Saulniers Regiearbeit ist meisterhaft und sorgt für eine durchgehend spannende Atmosphäre.“ „Mit «Rebel Ridge» liefert Jeremy Saulnier einen weiteren herausragenden Film ab,“ gibt sich Variety begeistert. „Die Mischung aus intensiver Action und tiefgründiger Charakterentwicklung macht diesen Film zu einem Muss. Besonders hervorzuheben ist die starke Performance von Aaron Pierre.” Und Indiwire.com schreibt: „«Rebel Ridge» ist nicht nur ein packender Thriller, sondern auch ein tiefgründiges soziales Drama, das die Zuschauer dazu zwingt, über die komplexen Themen von Gerechtigkeit und Macht nachzudenken.“

Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Netflix hat mit seinen amerikanischen Actionfilmproduktionen derzeit eigentlich nicht viel Glück. Zuletzt ist die Actionkomödie «The Union», mit Halle Berry und Mark Wahlberg nun wahrlich prominent besetzt, vom Publikum eher mäßig begeistert aufgenommen worden; im Frühsommer haute der Streaminggigant mit «Trigger Warning» gar einen Actionthriller raus, der beim Anschauen fast schon Fremdschämen hervorrief. Ausgerechnet das US-Actionkino, einst ein Exportmodell für den Rest der Welt, hat sich zu einem Krisengenre entwickelt. International wird Netflix am Ende einer Auswertung sicher unter jeden Film ein grünes Häkchen setzen können, das Fandom ist groß. Aber Begeisterung rufen die Filme schon lange nicht mehr hervor.

Und dann kommt «Rebel Ridge».


Sind die Kritiken gerechtfertigt? Oder ist das wieder so ein Kritiker-Hit, bei dem Kritiker-Meinung und Publikums-Meinung weit auseinanderliegen? Natürlich gehen Geschmäcker auseinander. Für den Autor dieser Zeilen ist «Rebel Ridge» die Actionfilm-Überraschung des Jahres. Als der erste Trailer im Internet auftauchte, schien klar zu sein: Ah, «Rambo» mit einem hübschen, muskelbepackten Kerl in der Hauptrolle. Da kommt also jemand in eine Stadt, wird mies behandelt und am Ende brennt die Stadt. Kennt man. Immerhin haben die Macher bei der Besetzung einen Coup gelandet: Don Johnson als fieser Kleinstadtsheriff? «Rambo» wäre ohne den großartigen Brian Dennehy in der Rolle des Sheriffs nur halb so gut gewesen – und Don Johnson ist einer der Guten (also Schauspieler). Mit anderen Worten: «Rebel Ridge» sollte wohl zumindest für einen netten Abend mit einem Kaltgetränk und Chips reichen.

Wenn dann am Ende des Abends noch Chips in der Tüte zu finden sind und das Getränk warm geworden ist, kann es dafür nur zwei Gründe geben:
1.) Man ist während des Films eingeschlafen.
2.) Der Film ist so packend, dass man schlicht vergisst, die Chips zu futtern und das Bierchen auszutrinken.
Im Fall von «Rebel Ridge» schläft definitiv niemand!

Die Handlung


Terry fährt auf dem Rad nach Shelby Springs. Da er auf dem Weg über seine Kopfhörer Iron Maiden hört, hört er nicht den Polizeiwagen hinter ihm. Kurzerhand holen ihn die Polizisten vom Rad und filzen ihn. Dabei finden sie 36.000 Dollar. Das Geld ist für den Kauf eines Trucks gedacht (26.000 Dollar). Die restlichen 10.000 Dollar sollen als Kaution für seinen Cousin hinterlegt werden, der mit Weed erwischt worden ist. Ah ja. Drogengeld. Das können die Polizisten zwar nicht beweisen, aber auf Grundlage einer sogenannten zivilrechtlichen Einziehung beschlagnahmen sie es trotzdem. Terry braucht das Geld jedoch dringend. Nicht nur, weil die Aktion eine Farce darstellt. Sein Cousin hat eine Vorgeschichte und darf einfach nicht im Gefängnis landen. Terry redet dessen Tun nicht schön. Als nächster Familienangehöriger fühlt er sich jedoch verantwortlich. In Shelby Springs angekommen, geht er zum Gericht und verlangt die Herausgabe des Geldes. Dort kann man ihm nicht helfen, denn diese zivilrechtliche Entziehung ist ein seltsames Konstrukt, bei dem das Geld erst einmal bei der Polizei verbleiben darf. Immerhin gibt es die Gerichtsangestellte Summer, die verspricht, Terry zu helfen. Summer hat ihre Gründe. Der jungen Frau ist nicht entgangen, dass beispielsweise Kautionen in Shelby Springs ungewöhnlich hoch angesetzt werden. Aber niemand interessiert sich für diese Geschehnisse.

Terry wagt sich schließlich in die Höhle des Löwen und zeigt bei der Polizei die Officer an, die ihn vom Rad geholt haben. Oder besser gesagt, er will sie anzeigen. Der Polizeichef macht Terry klar, dass er hier gar nichts anzuzeigen hat.

Die Zeit drängt. Terry braucht das Geld, um seinen Cousin vor der Überführung ins Staatsgefängnis zu bewahren. Geld, das er nicht mehr hat.

Eine der größten Stärken des Drehbuchs liegt darin, dass der vermeintlich simple Kampf des Protagonisten gegen die Polizei überraschend vielschichtige Hintergründe offenbart. Zu Beginn wird dem Zuschauer ein vertrautes Bild von polizeilicher Willkür und Machtmissbrauch gezeichnet: Terry, ein dunkelhäutiger Mann, wird von der Polizei angehalten und seines Geldes beraubt. Der Verdacht allein – seine Hautfarbe und die Tatsache, dass er mehrere Tausend Dollar bei sich trägt – reicht aus, um ihn als kriminell abzustempeln und ihn zu enteignen. Dass er eine blütenweiße Weste hat, ein ehrenhaft aus der Armee entlassener Veteran ist, wen interessiert das? Schnell scheint klar: Diese Polizisten sind korrupt, sie agieren wie selbsternannte Herrscher einer abgeschotteten Kleinstadt, in der sie Fremde ausnehmen und ihre Macht missbrauchen.

Doch so einfach ist das nicht. Vielmehr entwickelt sich die Geschichte zu einer Reflexion über das Leben in einer vergessenen Kleinstadt, die sich fernab der großen Wirtschaftszentren und jenseits des öffentlichen Interesses befindet. Diese Stadt, isoliert und ohne nennenswerte Infrastruktur, steht symbolisch für zahlreiche Gemeinden, die in den USA abseits des Scheinwerferlichts in Vergessenheit geraten sind. Der wirtschaftliche Niedergang hat Spuren hinterlassen, und das Drehbuch zeigt eindringlich, wie solche Orte zunehmend den Rückzug des Staates zu verkraften haben. Wir erleben, wie einst blühende Gemeinden gezwungen sind, sich zusammenzuschließen, um überhaupt noch bestehen zu können. Polizeieinheiten werden drastisch verkleinert oder ganz aufgelöst, weil die Finanzierung nicht mehr gesichert ist. Inmitten dieser Abwärtsspirale stehen die verbliebenen Institutionen, wie die Polizei, unter enormem Druck. Sie sehen sich gezwungen, kreative, aber moralisch bedenkliche Wege zu finden, um die Existenz ihres Gemeinwesens zu sichern. In Terrys Fall bedeutet das: Die Polizei agiert weniger aus individueller Habgier oder persönlicher Korruption, sondern eher aus einem verzweifelten Überlebensmodus heraus, um irgendwie die Kassen der Stadt zu füllen und den Rest staatlicher Ordnung aufrechtzuerhalten.

Diese ökonomische und moralische Notlage wirft die Frage auf, inwieweit der Rückzug des Staates – eine Forderung, die besonders von konservativen Kräften in den USA vehement vertreten wird – letztlich der Ausgangspunkt für genau diese Verhältnisse ist?! Die Gemeinde, in der Terry mit polizeilichem Missbrauch konfrontiert wird, zeigt, was passiert, wenn der Staat zunehmend seine Verantwortung für das Gemeinwohl aufgibt. Anstatt die Bürger zu schützen und zu unterstützen, verwandeln sich die Repräsentanten des Staates in Akteure, die selbst ums Überleben kämpfen – und dabei die Bürger zu ihrem Vorteil ausnutzen.

Der Film stellt somit einen kritischen Kommentar zur Vision eines minimalen Staates dar. Während die Befürworter dieser Ideologie davon ausgehen, dass weniger staatliche Einmischung zu mehr individueller Freiheit und wirtschaftlicher Blüte führen würde, zeigt der Film die Kehrseite: Wenn sich der Staat nämlich zu sehr zurückzieht, bleibt eine Leerstelle, die von denen gefüllt wird, die noch im Amt sind - oft mit fatalen Konsequenzen. Der Schutz der Bürger, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und die Sicherung des Gemeinwohls – all das wird zunehmend in Frage gestellt. Diese vielschichtige und tief verwurzelte Problematik macht den Film zu mehr als einer simplen Erzählung über Machtmissbrauch; er wird zu einer Parabel auf das fragile Gleichgewicht zwischen staatlicher Verantwortung und der Gefahr eines übertriebenen Rückzugs derselben.

Und dann ist da jemand wie Terry. Aaron Pierre heißt der britische Schauspieler, der diesen Veteranen darstellt und eben kein Rambo ist. Rambo drehte einst in einer besonderen Stresssituation durch und wähnte sich (von Polizisten gefoltert) zurückversetzt in den Dschungel Vietnams. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt. Terry ist das Gegenteil. Er ist ein ruhiger Mann, ein Beobachter, jemand, der an den Staat glaubt. Er kehrt nach seiner Zurückweisung eben nicht mit einem M-16 in die Stadt zurück und beschafft der Bauindustrie neue Aufbaujobs. Terry ist ein Mann, der innerhalb (und das ist der Punkt) der rechtlichen Rahmenbedingungen versucht, zumindest das Geld für die Kaution zurückzubekommen – ja, er ist ein Mann, der bereit ist, sich bestehlen zu lassen, wenn das Gesetz dies erlaubt. Er will nur seinen Cousin (aus Gründen, die bald offenbart werden) vor dem Gefängnis bewahren. Was ihm schlicht unmöglich gemacht wird.

Das bedeutet wiederum: Bei etwas über zwei Stunden Spielzeit gibt es gar nicht so viel Action zu sehen, wie der Trailer versprochen hat. Eigentlich wird die Action sogar sehr behutsam eingesetzt. Der Spannung tut das keinen Abbruch, denn Terrys bürgerrechtlicher Kampf, so kann man es wohl bezeichnen, gegen dieses System, mit der tickenden Uhr bezüglich der Kaution im Hintergrund, ist von sich aus unfassbar spannend. Es ist der Kampf gegen Windmühlen, den jemand wie Terry nicht gewinnen kann – zumindest nicht auf einem legalen Weg, denn so verwerflich das Tun der Polizei sein mag: Es ist ja nicht illegal.

Wer jetzt den Durchblick verloren hat: Herzlich Willkommen in der Welt des Jahres 2024. Don Johnson ist in der Rolle des Sheriffs genau das Gold, das den Film adelt, denn dieser Sheriff zeigt auf, wie ein solches System neue Könige hervorbringt. Dieser Chief Sandy Burnne hält das System „Kommune“ am Laufen, denn er trägt maßgeblich zu seiner Finanzierung bei. Er ist also für das System mehr als nur relevant, ohne ihn würde das System zusammenbrechen. Bricht dies zusammen, reißt es die Kommune auseinander. Dass er ein krummer Hund ist, wie man sagt, ist bekannt. Aber immerhin hält er das System zusammen.

Für die Handlung bedeutet das wiederum, dass die Polizisten eben auch nicht durchweg böse sind. Unter ihnen gibt es vielmehr Bücklinge, solche, die wegschauen – und, dies wird irgendwann angedeutet – offenbar auch noch welche mit Moral, die dem Treiben nicht nur zuschauen.



Mit der Schauspielerin AnnaSophia Robb etabliert der Film eine überraschende Figur. Die Angestellte im Gericht hat selbst ihre Geschichte zu tragen. Wird sie anfangs nur als eine Art Sidekick eingeführt, die ein paar für die Handlung relevante Informationen Terry in einem Gespräch erklärt, bekommt diese Figur eine überraschend packende Geschichte verpasst, die für sich schon eine eigene Filmstory ergäbe. AnnaSophia Robb stellte vor einigen Jahren übrigens die jugendliche Carrie Bradshaw im «Sex and the City»-Spin-off «The Carrie Diaries» dar.

Über allem aber steht Aaron Pierre, der den Film auf seinem erstaunlichen Kreuz sicher vom Start bis über die Ziellinie trägt. Der Brite verpasst diesem Terry vor allem eine Eigenschaft: Würde. Terry ist ein ruhiger Mann. Selbst in Momenten, in denen ihm Unrecht widerfährt, bleibt er die Ruhe selbst. Er ist keinesfalls lethargisch. Er weiß nur, was Heißsporn anzurichten vermag und vermeidet diesen. Als Zuschauer spürt man irgendwann, dass es ihm immer schwerer fällt, diese Ruhe zu bewahren. Aaron Pierre gelingt es, dass man den Vulkan, der in Terry irgendwann brodelt, vor dem Bildschirm als Betrachter regelrecht selbst spüren kann. Bis die Schutzschicht diesem Druck nicht mehr standhält.

«Rebel Ridge» zeigt eindrucksvoll, wie Action und eine intelligente Handlung harmonisch miteinander verwoben sein können und ist daher wirklich der Actionfilm 2024!

«Rebel Ridge» ist seit 6. September bei Netflix.

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