Die Kritiker

«Die hielten uns für Spinner»

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Inhalt
Die Dokumentation «Die hielten uns für Spinner ... Als Eltern Erziehung neu erfanden» beginnt mit einem Streitgespräch zwischen Senta Berger und ihrem Sohn Simon – zwei Generationen, die exemplarisch für eine neue Art der Erziehung standen: Nämlich die antiautoritäre. Die 68er-Generation revolutionierte die Erziehung der Kinder: Die meist sehr jungen Eltern wollten ihren Nachwuchs nicht mit den Zwängen, Traditionen und Verboten aufwachsen lassen, wie sie es selber in der 50er Jahren mussten. So wurden sie ohne starre Regeln erwachsen – konnte diese neue Art der Erziehung funktionieren? Die Gesellschaft war damals überzeugt: Die „Unerzogenen“ müssen scheitern. Doch sie taten dies eben nicht. Vertrauen, Zuwendung und Liebe waren die Zutaten für das neue pädagogische Rezept. Und so durfte ein Kind mit sieben oder acht Jahren auch bis nachts um elf draußen sein, ohne dass die Eltern sich Sorgen machten.

Einige Eltern und Kinder, die durch das antiautoritäre Erziehen geprägt waren, kommen in diversen Interviews im Dialog mit ihren Eltern zu Wort und erzählen ihre kleinen Geschichten, wie sie merkten, dass sie anders aufwuchsen. Neben der Freiheit, die als größter Vorteil dieser neuen Pädagogik galt, war die gesellschaftliche Inakzeptanz ein Nachteil, den die Kinder spüren mussten: So wurden sie nicht selten über die Erziehungsmethoden ihrer Eltern ausgefragt und mussten sich selber rechtfertigen oder wurden von Mitschülern angestarrt. Denn in einer von Ordnung geprägten Welt galten die Kinder der 68er-Revolution auch als Sonderlinge. Geschadet haben die Methoden allerdings nicht – im Gegenteil: Heute sind die Kinder erfolgreiche Filmproduzenten, Schauspieler und Bankkaufmänner.

Aber auch negative Seiten hat die damalige Erziehungsrevolution: Es gab extreme Organisationen wie die vom Aktionskünstler Otto Muehl gegründete „Aktionsanalytische Kommune“, die freie Sexualität ohne feste Partnerschaften, keinen Privatbesitz und die strikte Trennung von Kindern und Eltern predigte. Später wurde Muehl wegen der Vergewaltigung von Minderjährigen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Die Kinder der 68er eint insgesamt aber eines: Dass sie dankbar sind für ihre völlig antiautoritäre Erziehung. Dass diese aber ziemlich schwer ist, merken die damaligen Kinder heute. Denn sie selber erziehen ihren eigenen Nachwuchs wieder strenger, als sie es selber kennen.

Kritik
Die Dokumentation ist handwerklich einwandfrei produziert worden: Viele Interviews mit „Betroffenen“ und besonders das ausführliche Streitgespräch zwischen Senta Berger und ihrem Sohn, das sich wie ein roter Faden durch die Sendung zieht, vermitteln die nötige Authentizität, um exemplarisch Nähe zu den damaligen Situationen zu gewinnen. So erfährt der Zuschauer auch die eine oder andere unterhaltsame Detailgeschichte, die diese Produktion deutlich aufwertet.

Ein einziger großer Negativpunkt ist allerdings, dass das Thema „antiautoritäre Erziehung“ nahezu gar nicht kontextsensitiv erzählt wird. Zwar wird anfangs erwähnt, dass die neue Art der Pädagogik völlig anders war als das Etablierte (dass sie ohne strenge Regeln und Vorschriften auskam), aber es wird nicht genug darauf eingegangen, wie diese Art der Erziehung im Gegensatz zur bisherigen war. Hier hätte man beispielsweise die Eltern in den Interviews fragen können, wie sie doch selber erzogen wurden.

Ebenso verhält es sich mit den Generationen, die nach den 68ern kamen. Es wird gar nicht darauf eingegangen, wie sich die Erziehung nach diesen neuen Methoden erneut veränderte und wie diese möglicherweise auch die heutige Pädagogik noch nachhaltig prägt. So bleibt unter dem Strich eine unterhaltsame Dokumentation, die allerdings viel zu sehr auf die Erziehungsmethoden der 68er fokussiert ist und leider den Kontext unberührt lässt. So haben die letzten Minuten dieser Produktion auch deutliche Längen, die viel wertvoller hätten genutzt werden können.

Das NDR Fernsehen zeigt «Die hielten uns für Spinner ... Als Eltern Erziehung neu erfanden» am Montag, 8. September 2008, um 23:00 Uhr.

Kurz-URL: qmde.de/29614
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