1 Stunde Wahnsinn

«1 Stunde Wahnsinn»: Zwischen Voyeurismus und Haarphobie

von
Philipp Stendebach untersuchte am späten Abend das Programm auf Qualität. Am Ende half nur noch neutralisierendes Gegenprogramm und Alkohol.



In Zeiten, in denen über nichts heftiger und ausgiebiger diskutiert wird als über die Qualität des deutschen Fernsehens, ist der einzige Weg, bei diesen Wortgefechten teilhaben zu können, der Selbstversuch. Wer setzt sich schon eine gesamte Stunde vor die Kiste und bleibt auch mal wenigstens für ein paar Momente bei scheinbar minderwertigen Programmen hängen, um sich danach ein ganzheitliches Bild der aktuellen Fernsehsituation machen zu können? Sie raten richtig, ich habe es getan und präsentiere nun einen vollkommen subjektiven Text über die Zeit zwischen 23 und 0 Uhr.



Wo könnte man die Reise durch das TV-Wirrwarr besser starten als beim altbewährten RTL II-«Frauentausch»? Ich sehe, wie sich die heutige Ausstrahlung dem Ende zuneigt und ein Mann mit selbst diagnostizierter “Haarphobie” vor seiner Tauschfrau und einem Friseursalon flüchten will. Das wäre dann wohl ein klassischer Showdown im RTL II-Stil. Nach reichlicher Überlegung lässt er sich dennoch die Haare waschen (!) und schneiden (!), vor dem finalen Föhnen rennt er allerdings wutentbrannt aus dem Salon. Dennoch ist seine Tauschfrau “sehr stolz auf ihn”, schließlich habe das nun nervlich völlig am Ende seiende Opfer seine Angst überwunden. Ich kann selbst beim Einsetzen der Werbung immer noch nicht fassen, was ich gesehen habe. Reichlich verwirrt schalte ich um und lande bei ProSieben.



Dort befindet sich die Celebrity-Doku «Giovanni und Jana Ina - Wir sind schwanger» in der Endphase. Das Kind - Gabriel - ist da und die Familie sieht das Neugeborene zum ersten Mal. Dabei hält die “Baby-Cam” immer alles genau fest. Durchzogen wird die Sequenz - vermutlich auch die 30 Minuten davor - mit Giovannis neuestem “Hit” (ist ein Hit im musikalischen Sinne nicht ein überaus erfolgreich aufgenommenes Lied?!) ‘Wundervoll’, welcher in instrumentaler und gesungener Version (nicht zu empfehlen) daherkommt. Irgendwann wird die Kamera unfassbarerweise ausgeschaltet und ein paar Tage darauf verlässt das Elternpaar topgestylt das Krankenhaus. Ich frage mich derweil, was wohl ist, wenn ihr Sohn kein mediengeiler Mensch wird, verwerfe den Gedanken allerdings schnell, da es durch die Gene hundertprozentig ausgeschlossen ist.







Mein Weg führt mich zu Super RTL, wo die hitverdächtige Talkshow-Abklatsch-Sendung «Voll total» läuft. Werner, ein Gärtner aus Essen, möchte seine Frau in Dessous sehen. Ihm sei außerdem der Sex zu lasch und sitzt deshalb vor Oli Geissen auf der Besuchercouch. Warum nicht in den eigenen vier Wänden darum bitten, wenn man auch vor Kameras fast nackig herumlaufen kann? Das ist doch gleich viel … aufregender. Nachdem der lockere Moderator seinen Hang zum Voyeurismus dementiert hat, kann es losgehen. Werners (Haus)-Frau stöckelt mit plötzlich erlangtem Selbstbewusstsein in einem schlecht gebügelten Nachthemd über den roten Teppich. In diesem Moment wünsche ich mir, mich besser zum Schlafen hingelegt zu haben. Doch es kommt noch übler. Als Revanche kraxelt der Mann in einem durchsichtigen Slip über die Bühne. Keine Spur von Demütigung oder Scham. Fassungslos starre ich auf den Bildschirm und verfehle die Fernbedienung, um umzuschalten.



Nun wird eine «Bärbel Schäfer»-Folge aus den 90ern ausgekramt, die der kecke Moderator im beigen Anzug ankündigt. Frau sagt: “Mein Mann benimmt sich wie ein Schwein”, Mann sagt: “Alexandras Gequatsche geht mir am Arsch vorbei”. Das gleiche passiert bei mir mit der Talkshow. Endlich kann ich mich aus meiner Trance aufraffen und finde den Knopf der ARD, die ja wie kein anderer Sender für qualitativ hochwertiges Fernsehen stehen sollte.



Dort läuft im Moment «Schmidt & Pocher», die Sendung, die meiner Meinung nach in der letzten Zeit stark an Humorpotenzial verloren hat. Und was ist das Thema? Trommelwirbel… Reich Ranicki regt sich über die deutsche Fernsehkultur auf! Herrje, davon habe ich wahrlich lange nichts mehr gehört (Achtung: Ironie). Atze Schröder ist zu Gast und lacht über die Tatsache, dass er mit Helge Schneider verwechselt wurde. In diesem Zug hat Ranicki ihn ja auch eher gelobt als gedemütigt. Schmidt behauptet, Cindy aus Marzahn und Dirk Bach sähen sich ähnlich. Des Weiteren vermutet er, dass Schillers „Die Braut von Messina“ nach der Sendung weggehe wie warme Semmeln. Wohl eher nicht, den Quoten nach zu urteilen. Atze Schröder liest noch etwas aus dem Büchlein vor, worauf ich ohne einmal gelacht zu haben die Sendung verlasse.



Über RTL, wo «Im Namen des Gesetzes» läuft, gelange ich zum Sportsender DSF, auf dem gerade heftig gequizzt wird. Statt Bernhard Hoecker im goldenen Höschen und Sternchen auf den Brustwarzen sehe ich eine gut ausgestattete Frau im Netzhemd. In diesem Fall werden die Brustwarzen durch ihr güldenes Haar „verdeckt“, nur zur Information. Man soll Automarken ohne (Achtung!) B, C, D, E, F, G, H, J, I, M, N, O, P, Q, R, S, T, U, V, W, X, Y, Z finden. Kein Witz. Vielleicht haben Sie auch richtig gezählt: Man kommt auf 23 Buchstaben, die nicht Teil der Automarke sein dürfen. Was für ein Spaß. Erst kommt eine halbe Minute Stille, was die Moderatorin als unglaublich empfindet, doch dann - aufgepasst - rennt plötzlich die Zeit gegen aus. Auch das noch! Offenbar ruft jedoch keiner an, da die Stimme aus dem Lautsprecher behauptet, es wisse keiner eine Antwort. Gleich ist es halb zwölf, der Countdown läuft. Dann wieder Stille, die nicht oft durch die quäkende Stimme der Moderatorin unterbrochen wird - ihr fällt wohl auch nichts mehr ein. Ich verstumme ebenfalls, frage mich, was die Erotik-Hotlines rechts unten in der Ecke zu suchen haben, und schalte weiter.



Mein Bedarf an nackter Haut ist jedoch noch nicht gedeckt und so komme ich bei der «RTL II-Reportage» an, die heute seltsamen sexuellen Neigungen nachgeht. Nackte Haut suche ich hier allerdings vergebens. Ein rundlicher Mann liebt Lokomotiven mit großen Ohren. Er schwärmt von der Ausstrahlung einer bestimmten Lok, in die er sich verliebt hat. Deswegen trägt der Objektophile auch immer ein Foto von ihr bei sich. Er will die Nähe der Maschine fühlen, mit ihr sexuelle Handlungen austauschen. Eine Verschrottung käme einer Ermordung gleich. Zu einem Kommentar bin ich in diesem Fall nicht fähig. Danach wird ein Paar gezeigt, er 48, zweimal verheiratet, sie 18, sieht aus wie 14 - inklusive Zahnspange. Sie sind seit acht Monaten zusammen und denken über eine Hochzeit nach. Er will noch Bedenkzeit, sie rastet aus („Ich habe keine Lust mehr“) und flüchtet an Muttis Rockzipfel, bis er schließlich nachgibt. Bin ich besonders empfindlich oder meinen auch andere Zuschauer an dieser Stelle den Verstand zu verlieren?



Vorbei an 9Live (es werden männliche Vornamen mit dem A an der zweiten Stelle gesucht) und sonnenklar.tv (Michael Wendlers - übrigens der König des Pop-Schlagers - gesammelte Werke werden präsentiert) komme ich zu «TV Total». Rettung ist also doch in Sicht. Obama steht am Rednerpult und sagt „You don‘t have to bei rich to bei my girl - Yes we can!“. Im Gegensatz zu Stefan Raab und dem Publikum kann ich zum Glück endlich mal lachen. Im Anschluss fasst er Elke Heidenreichs Entlassung für alle Unwissenden zusammen, was nicht mit den nervenden Fernsehpreis-Bildern unterlegt ist, sondern mit wirklich sehr lustigen und kultigen Einspielern. Daraufhin unterstützt er das junge intellektuelle Bildungsfernsehen und zeigt die lustigsten Ausschnitte von «Popstars». Endlich kann ich mal unbeschwert entspannen und Stefan Raab zusehen, der sogar - und das kommt nicht oft vor - gut aufgelegt ist.



Ein letztes Mal schalte ich zu RTL II, wo die Heirat der beiden Turteltauben stattfindet. Gott sei Dank. Nach dieser Stunde TV bin ich geschafft wie nach einem Marathon-Lauf. Ich habe die Wahl: Der Versuch, zu schlafen oder das Verdrängen der Bilder mit ein paar alkoholhaltigen Getränken. Ich tendiere zum Ersten, liege eine halbe Stunde wach und greife doch zum Bier. Ich schiebe mir eine Videoaufnahme des «Literarischen Quartetts» rein und schlafe unter weisen Worten langsam ein. Die Debatte über Qualität im deutschen Fernsehen hat sich für mich endgültig erübrigt - Prost!

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