1 Stunde Wahnsinn

Eine Stunde Wahnsinn: Weihnachten - anders erlebt

von
Philipp Stendebach sah am 24. Dezember eine Stunde fern. Sein Erfahrungsbericht.

Ja, selbst am Heiligen Abend kann man eine gepflegte, wunderbare Stunde des Wahnsinns erleben. Und damit meine ich nicht die alljährlich wiederkehrende Jagd nach Last-Minute-Geschenken. Auch an diesem gesegneten Tag ist der ahnungslose Zuschauer vor nichts geschützt und dem TV-Programm Deutschlands erbarmungslos ausgesetzt. Die meisten Sender zeigen an diesem Tag geschätzte 30 Filme- von gut bis schlecht, von Pippi Langstrumpf zu den kleinen Gremlins-Monstern. Meine Intention war es jedoch herauszufinden, was eigentlich abseits von den altbewährten Weihnachts-Filmen läuft. Eine Sache schon einmal im Voraus: Es hat einen Grund, warum Menschen an Heilig Abend – wenn überhaupt – Filme im TV sehen.

Meine Fahrt durchs krude Weihnachts-Fernsehen beginnt um 12 Uhr beim NDR, wo die „Schönsten Weihnachtslieder des Nordens“ präsentiert werden. Eigentlich eine schöne Gelegenheit, um in Stimmung zu kommen. Doch weit gefehlt – Die Wildecker Herzbuben stehen unbeweglich auf einer mit Kunstschnee bedeckten Bühne und schmettern mit voller Hingabe ein Weihnachtslied. Dazu geben Promis – muss man sich denn auch die schlechteste Idee von RTL abgucken?! - 'lustige' und 'wissenswerte' Statements ab aus dem eigenen Erfahrungsbereich. Hinzu kommt, dass die Bübchen vollkommen offensichtlich Playback singen – was für ein Spaß! Es folgt eine „Alle Jahre wieder“-Version aus den 80ern, in der Promis zusammen musizieren. Nachdem ein Kinderchor „In Dulci Jubilo“ in der Kirche singt, kommen mir urplötzlich Gedanken an meinen späteren Kirchgang. Um mich noch irgendwie davon fernhalten zu können, schalte ich rasant zwei Sender weiter.

Beim DSF laufen derzeit Dauerwerbesendungen. Passend zur Vorweihnachtszeit, in der das Geld auch mal knapp wird, bekommt man hier einen wunderbaren Kredit ans Herz gelegt, der – oh Wunder – sofort alle Sorgen und Nöten verschwinden lässt. Dass diese dann nach Ablauf der Darlehensauszahlung mindestens doppelt so groß sind – daran mag man hier ganz gewiss nicht denken. Laut des Spots kann man sich wieder alles erdenkliche leisten, vom Laptop bis zum Hochklasse-Wagen. Und mit nur 8,9 Prozent Zinsen sei ein lockeres Geschäft garantiert. Die lächelnden Familien wurden mit Sicherheit extra bezahlt – ein Blick auf die tatsächlichen Kunden wäre für den Zuschauer ein unzumutbares Bild gewesen.

Mein Weg führt mich zu Pippi, die sich ganz bestimmt keine Geldsorgen machen muss (schließlich hat sie ja eine Kiste voller Gold in ihrer Villa Kunterbunt stehen). Es laufen gerade die letzten Minuten des Klassikers „Pippi geht von Bord“, in denen Pippi Geschenke in ihren Limonadenbaum hängt und Tomi und Annika währenddessen gut-bürgerlich und wohl behütet unterm Weihnachtsbaum sitzen. Ich frage mich, was wohl die Super-Nanny zu einem solch außergewöhnlichen Missverhalten sagen würde. Wie auch immer, Pippi sitzt alleine in ihrem Schaukelstuhl, brät sich Äpfel und spricht zu ihrer toten Mutter, als plötzlich alle Kinder der Stadt auftauchen und ihr eine Trompete schenken – was für ein schönes Bild. Doch bevor Michel aus Lönneberga seinen Schabernack treibt, muss ich erst einmal kontrollieren, was bei den anderen TV-Stationen los ist.



Da biete sich doch glatt die RTL-Chartshow an, in der Oliver Geissen die tollsten Weihnachts-Songs sucht. Erst einmal verbreiten die Promis ihre Meinungen zum Weihnachtsfest – warum RTL sie dazu gebeten hat, warum die Promis den Drang verspüren, das tun zu müssen und wer daran interessiert ist, erschließt sich mir nicht. Wie auch immer, unterlegt mit lustigen Animationen, die das Team von «Switch Reloaded» besser hinbekommen hätte, verraten Erkan und Stefan zum Beispiel, dass sie schon einmal eine Bleivergiftung vom geschmückten Weihnachtsbaum bekommen haben – wirklich sehr lohnenswert, die Sendung. Natürlich sind alle möglichen Comedy-Pappnasen in den Spots vertreten. Der „Jo, Tachchen-Oli“ begrüßt Andrea Kiwel, Thomas Stein und Bernd Stelter, die mit tosendem Applaus empfangen werden. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust auf diese Gäste und mache mich schnellstmöglich vom (imaginären) Acker.

Viel interessanter ist es doch, sich bei Home Shopping Europe 24 einen kuschligen Mikrofaser-Bademantel zu bestellen. Die Conny – der Artikel gehört einfach dazu – bewirbt also diesen genialen Bademantel und telefoniert mit einer Kundin, dich sich so freut, sich das Produkt zugelegt zu haben, dass sie es gleich Tag und Nacht trägt – ohne Unterbrechung. Gratis dazu gibt es einen Dusch-Turban (man lernt wirklich nie aus), den man sich nach dem Waschvorgang um die Haare wickeln kann – wirklich sensationell! Perfekt: Nach jedem Waschvorgang sind die Handtücher und der Mantel wie NEU! Das freut die Conny so, dass sie sich nicht mehr halten kann und im Dreieck im Studio herumhüpft – natürlich im schicken Bademantel für nur 39, 90 Euro. Irgendwann geht mir das ekelhaft aufgesetzte Benehmen und die „goldig, goldig“-Ausrufe so gegen den Strich, dass ich – nachdem ich noch Bekanntschaft mit einem Verwandlungs-Kissen machen durfte, dem Drang nicht entgegenstreben kann, umzuschalten.

Die «RTL Chartshow» kann sich derweil eigentlich nur zum Positiven entwickelt haben, denke ich mir. Doch nichts da: Das Trio betrinkt sich erheitert auf der Couch mit Glühwein, während sie über olle Weihnachts-Kamellen philosophieren. „Rudolph the rednosed Reindeer“, „Ave Maria“ von Nina Hagen gesungen oder „Silent Night“ von irgendwelchen Stars... Dieses wilde Potpourri erinnert mich an das NDR-Ranking der besten Weihnachtslieder des Nordens. Dort singt eine mir unbekannte Frau im weißen Strickgewand „Herbei O Ihr Gläubigen“, worauf „We wish you a Merry Christmas“ von einem sehr steifen und unbeweglichen Helmut Lotti interpretiert wird.

Meine letzte Station – ausnahmsweise etwas Nicht-Weihnachtliches – bildet die SWR-Sendung „Elephant & Co.“. Der Sprecher erzählt von einem 37-jährigen Eisbär, wobei ich das Alter des Erzählers auf mindestens das dreifache schätzen würde. Meine Vermutung, an Heilig Abend alles außer Loriot und Familie Heinz Becker verpassen zu können, hat sich nur bestätigt. Ich habe mir also in dieser Stunde einen kuschligen Mikrofaser-Bademantel, eine CD mit den besten Songs aus der „RTL-Weihnachts-Chartshow“ zugelegt und mich zudem mit einem unfassbar zinsgünstigen Darlehen bestückt, an dem ich wohl noch einige Weihnachten meine Freude haben werde. Na dann: Fröhliche Weihnachten!

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