First Look

«Boss»

von
Seit April blicken wir noch intensiver auf den US-Fernsehmarkt: Unser US-Korrespondent Christian Wischofsky präsentiert den deutschen Fernseh-Fans den "First Look" - bei fiktionalen Programmen übrigens komplett Spoiler-frei. Diesmal: Die neue Serie «Boss» mit Kelsey Grammer.

Die neue Starz-Serie startet schleppend, birgt aber ungeheures Potential.

Der US-Premiumsender Starz entwickelt sich zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für HBO und Showtime. Vor drei Jahren versuchte der Kanal sich zum ersten Mal an einer ernstzunehmenden Dramaserie und adaptierte das vielschichtige Rassismusdrama «L.A. Crash» für‘s Fernsehen. Mit dem stylisch brutalen «Spartacus»-Franchise hat man sich in die oberste TV-Liga gespielt, während im April mit «Camelot» die dritte Adaption an den Start ging, jedoch nach einer Episode abgesetzt wurde. Das neue Drama «Boss» ist in dieser Hinsicht ein Novum für Starz: Zum ersten Mal bietet man den zahlenden Kunden ein buchstäblich originales TV-Drama an, welches keiner literarischen und/oder filmischen Vorlage zugrunde liegt. Dafür bietet es mit Kelsey Grammer einen alternden TV-Star, der nach 18 Jahren Frasier Crane und zwei floppenden Sitcoms auf FOX und ABC nach einer neuen Serie sucht. Und eine Kabelserie scheint wieder einmal in die qualitativ richtige Richtung zu gehen.

«Boss» eröffnet sein Serienuniversum mit einer langen, wackligen Einstellung, in welcher der Chicagoer Bürgermeister Tom Kane (Grammer) von seiner Ärztin Dr. Ella Harris (Karen Altridge) in einem leerstehenden Schlachthaus erfährt, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet. Um weiterhin im Amt zu bleiben, entscheidet Kane, niemandem von der Krankheit zu erzählen – weder seiner Alibifrau Meredith (Connie Nielsen) und seiner entfremdeten Tochter Emma (Hannah Ware), noch seinem Stab um den politischen Berater Ezra Stone (Martin Donovan) und Assistentin Kitty O'Neill (Kathleen Robertson). Zusätzlich befindet Kane sich auch noch in einem privaten Konflikt mit Governor McCall Cullen (Francis Guinan) befindet, dessen Wiederwahl in drei Wochen er verhindern will. Dazu holt er sich Staatskämmerer Ben Zajak (Jeff Hephner) an Bord, der als Cullens Gegner in der Wahl antreten soll.

Korrupte Politik in einer korrupten Stadt – Chicago und Starz scheinen wie geschaffen für diesen Mix, und mit Kelsey Grammer gibt es einen Schauspieler, der nicht nur die junge Zuschauergeneration überzeugen kann, die «Cheers» und «Frasier» für zu altmodisch halten, und den zurückgelassenen «The West Wing»-Fans ein neues politisches Drama gibt, welches in alle möglichen Richtungen schlagen kann. Die Premiere von «Boss» bietet zwar allerhand starkes Drama und beweist in jeder Minute, dass es ein dunkles und dreckiges Charakterstück in der US-Administration sein will, doch die erste Stunde bietet nicht unbedingt die Geschichten, welche die Serie definieren und Starz unter seiner neuen Führung auf die Bildschirme der Amerikaner bringen soll. Die online aufzufindenden Inhaltsangaben und Kritiken der Serie spiegeln nämlich das wieder, was in der Pilotfolge höchstwahrscheinlich nur zu 60 Prozent stattfindet.

Die Pilotfolge ist deshalb eine aufgeblasene Exposition der Saga um einen offenbar korrupten Bürgermeister, der unter seiner medizinischen Diagnose den Boden unter den Füßen verliert. Es gibt viele Krisen zu meistern für die Charaktere, und damit die Autoren diese während der acht Folgen umfassenden ersten Staffel im Blick behalten, wird jede erdenkliche Story vorbereitet, ohne diese wirklich auf einen Höhepunkt zu steuern. Als einzelne Folge betrachtet ist der Pilot deshalb etwas langweilig geraten und es liegt an den charakterlichen Zeichnungen, die Serie den Zuschauern schmackhaft zu machen.

Während die Geschichten der ersten Stunde also vor sich hinwälzen und den einen oder anderen Spannungsbogen für die nächste(n) Episode(n) hochschrauben, können die Charaktere und die Darstellungen der Schauspieler die Nachteile der langsamen Exposition vergessen machen. Kelsey Grammer gibt die Darstellung seines Lebens und kann heute schon die Dankesreden für seinen Golden Globe und den Emmy Award schreiben, während Martin Donovan den perfekten Verbündeten für seinen Bürgermeister gibt, der genauso korrupt und bösartig wirkt wie hilfsbereit und mitfühlend. Kathleen Robertson und Jeff Hephner wissen dagegen noch nicht, in welche Richtung ihre Charaktere gehen werden, doch sind sie genauso faszinierend, wie Charaktere in einer dramatischen und kantigen Kabelserie sein sollen. «Boss» ist dadurch ein starkes Charakterdrama, welches jetzt noch nicht unbedingt eine hundertprozentig starke Geschichte aufbietet, doch «The Wire» hatte in der Anfangsphase der ersten Staffel dasselbe Problem und gilt heutzutage als die beste Serie aller Zeiten.

Nichtsdestotrotz hätte «Boss» in seiner Premiere ein wenig mutiger sein können, um dem Publikum gleich von Anfang an zu zeigen, dass Tom Kane kein Bürgermeister ist, mit dem man in lockerer Runde mal ein kaltes Bier trinken kann, oder dessen zerrüttetes Ehe- und Familienleben noch zu retten ist. Der Pilot macht nämlich Hoffnung, dass die Korruption in seinem Leben, ausgelöst durch den Machthunger, welcher die Position mit sich bringt, an einem Wendepunkt angelangt ist. Die Episode macht Hoffnung, dass Kane durch seinen Krankheitsstatus den umgekehrten Weg einschlägt, welcher von Walter White in «Breaking Bad» beschritten wurde. «Boss» macht quasi nicht klar, ob es in seiner Lebenszeit ein dunkles politisches Drama sein, oder Lichtblicke in Kanes restliches Leben geben will. Hier kommt es darauf an, was die Autoren für die Zukunft geplant haben, und ob «Boss» wirklich das «The Wire» für Starz sein soll.

Die Qualitäten sind definitiv vorhanden und sollte die Geschichte der kompletten Staffel genauso episch werden, wie es die schon in ihrem Ausmaß epische Exposition ist, wird «Boss» spätestens in seiner zweiten Staffel ein unvergessliches TV-Highlight. Der Geschäftsführer Chris Albrecht hat die Qualitäten der Serie offenbar schon erkannt und nicht umsonst «Boss» schon frühzeitig für eine weitere Staffel verlängert. Und nach «Crash» gibt es endlich auch ein Drama für Starz, welches nicht nur nach Erfolg aussieht, sondern auch eines sein kann, wenn die Produzenten es denn wollen.

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