David Finchers Verfilmung des Bestsellers «Verblendung» bietet dank seiner beklemmenden audiovisuellen Note auch Fans der schwedischen Verfilmungen viel Neues.
Der erste Teil von Stieg Larssons posthum veröffentlichter «Millennium»-Trilogie verkaufte sich weltweit über 30 Millionen Mal. Mit seiner kaum einen Hoffnungsschimmer zulassenden Weltsicht war dieser Roman im Grunde von Anfang an für eine Verfilmung durch David Fincher prädestiniert. Der Thriller über Korruption, Vergewaltigung, kaltblütige Morde und einer Gesellschaft, der es an Menschlichkeit mangelt, passt nahtlos ins Oeuvre des Regisseurs von «Sieben», «Fight Club» und «Zodiac». Wohl auch deswegen hielten sich die sonst unvermeidlichen, wütenden Aufschreie von Filmfans aus aller Welt in Grenzen, als Fincher ankündigte, den bereits verfilmten Roman erneut ins Kino bringen zu wollen.
Anders, als die meisten Hollywood-Remakes entstand die US-Kinoauflage von «Verblendung» nicht aus rein kommerziellem Kalkül. In diesem Fall wollte sich ein angesehener Regisseur mit einer cineastischen Vision eines Stoffs annehmen, der ihn fasziniert und der zu seinem Stil passt. Es stand also zu erwarten, dass das Kinopublikum keinen lauen Neuaufguss serviert bekommt, sondern die Chance erhält, eine unter die Haut gehende Geschichte durch neue Augen zu sehen.
Die eigentliche Handlung hat sich, von manchen Details abgesehen, nicht geändert: Selbst vierzig Jahre nachdem seine Lieblingsnichte mutmaßlich ermordet wurde, quälen den Industriemagnaten und Familienpatriarchen Henrik Vanger (Christopher Plummer) die Gedanken an den unabgeschlossenen Fall. Deshalb setzt er den den Enthüllungsjournalisten Mikael Blomkvist (Daniel Craig) an die Sache an. Nicht aber, ohne ihn zuvor durch die ausgebuffte Computerhackerin Lisbeth Salander (Ronney Mara) überprüft zu haben. Blomkvist nimmt den Fall an und stößt auf Parallelen zu einer Serie ungeklärter Frauenmorde, die sich während der 60er-Jahre ereignete. Bei der weiteren Recherche holt er sich Hilfe von Salander, welche wegen eines psychiatrischen Gutachtens unter Vormundschaft steht und zudem ihre ganz eigene Erfahrungen mit Frauenschändern durchmachen musste ...
Schon wenige Sekunden genügen David Fincher, um klarzumachen, dass er nicht vorhat, die schwedischen Verfilmung von 2009 einfach bloß zu kopieren. Der Däne Niels Arden Oplev drehte seine «Verblendung»-Adaption fürs Fernsehen, was sich, ohne damit ein negatives Werturteil zu tätigen, auch am fertigen Film zeigt (mehr dazu auch in unserer Kritik). Der schwedische Thriller sah schlicht, aber effizient aus und lenkte kaum von seiner packenden, gesellschaftlich pessimistisch eingestellten Krimihandlung ab.
David Fincher wählt einen gänzlich anderen Ansatz. Er und sein Stamm-Kameramann Jeff Cronenweth erzählen «Verblendung» mittels ausgebleichten, kargen Bildern. Die Kamera schwebt mehrmals in langen Aufnahmen aus großer Distanz auf die Orte des Geschehens zu, in anderen Szenen schreitet sie von den gezeigten Ereignissen geradezu beschämt zurück. Die Bildsprache von David Finchers «Verblendung» drückt, in unterkühlte Farben gehüllt, schiere Trostlosigkeit aus. Damit betont der Oscar-nominierte Regisseur die desaströse Moral, die im von Stieg Larsson beschriebenen Schweden herrscht, und rückt die Atmosphäre des Romans stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Auch mit akustischen Mitteln erzeugt David Fincher eine überaus beklemmende Wirkung. Nachdem um die erneute Zusammenarbeit zwischen David Fincher und den «The Social Network»-Komponisten Trent Reznor & Atticus Ross ein großer Medienrummel gemacht wurde, dürfte es aber manchen Kinogänger überraschen, dass sich die Filmmusik in «Verblendung» stärker zurückhält, als im Kinodrama um die Gründung Facebooks. Ihre selten hervorstechende Begleitmusik besteht aus einem atmosphärischem Klangbett von dumpfem Pianogeklimper, langsam gezupften, schrägen E-Gitarren und sehr viel unheilvollen Elektroniksounds.
Wirklich preisverdächtig ist die Soundabmischung: Die unheilvolle Filmmusik, das Atmen und nachdenkliche oder verärgerte Murmeln der Hauptfiguren sowie die Klangwelt der menschenarmen Schauplätze werden in «Verblendung» sehr einfallsreich verbunden. So ist während einer Vergewaltigung neben dem angewiderten Atmen und Wimmern des Opfers nur das monotone, Nerven aufreibende Geräusch einer im Nebenflur wummernden Bohnermaschine zu hören. Ein Minimum an schauriger Begleitmusik lässt all dies zu einer Kakophonie des Grauens verschmelzen. Das Ergebnis: Eine ausrucksstarke Filmsequenz, die schwer zu vergessen ist.
Fincher stellt insgesamt die Atmosphäre der Geschichte und das Wesen der Hauptfiguren stärker in den Fokus, als die in der schwedischen Verfilmung noch zentrale Kriminalarbeit. Das Drehbuch aus der Feder von Steven Zaillian («Schindlers Liste») generiert seine Spannung weniger aus der Entwirrung des ungeklärten Mordfalls und der Jagd nach Hinweisen. Viel eher packt dieser Film durch das fesselnde Skizzieren einer moralisch korrumpierten Gesellschaft sowie das konstante Aufrechterhalten seiner beengenden Stimmung.
Dadurch ist David Finchers «Verblendung» dramaturgisch grobschlächtiger, als die vorhergegangene Adaption des Schweden-Thrillers. Szenen, die nicht für das Voranbringen der Ermittlungen von Wert sind, werden mit einer inneren Ruhe ausgespielt, was zwischendurch bei aller Wirkungsgewalt von Finchers Inszenierung auch langatmig werden kann. Inhaltliche Vignetten, wie Blomkvists romantische Kapriolen und seine anfänglichen Probleme, sich an das eisige Wetter auf dem Anwesen seines Auftraggebers zu gewöhnen, sind der hypnotischen wie auch bedrückenden Wirkung von «Verblendung» förderlich, mindern zugleich aber die Dringlichkeit des eigentlichen Plots.
Der möglicherweise gewichtigste Unterschied zwischen beiden «Verblendung»-Verfilmungen ist die differenzierte Darstellung der Lisbeth Salander. Es ist nicht so, als hätte man diese Figur komplett umgekrempelt, im direkten Vergleich ist es allerdings sehr deutlich, dass Fincher in seiner Version einen anderen Akzent setzt. Dies zeigt sich bereits in der Besetzung der zierlichen Rooney Mara, die blass geschminkt und mit großen Augen für Kenner von Noomi Rapaces Darstellung dieser Figur zunächst etwas befremdlich wirkt. Rapace sah in ihrer Rolle aus, wie dazu geboren, eine bewusst gewählte Außenseiterin zu sein. Ihre Lisbeth Salander war eher ein von der Gesellschaft verstoßener Racheengel mit bedrückender Vergangenheit. Mara sieht, insbesondere wenn man die Interpretation aus den schwedischen Filmen kennt, auf den ersten Blick aus, als habe man sie völlig falsch besetzt. Sie wirkt wie ein Unschuldsengel, wie ein kleines, verletztes Vögelchen, das in Goth-Schminke und Piercings gewälzt wurde, um es als gefährliches Wesen aus einem zwielichtigen Milieu zu verkaufen.
Und exakt dies ist eine Dimension der Figur Lisbeth Salander, die in der schwedischen Film-Trilogie weitestgehend verdrängt wurde. Die Figur der Lisbeth ist eigentlich ein unbescholtenes Kind, das von schlimmen Erlebnissen seelisch vernarbt wurde und beschließt, dem Durchschnittsbürgertum den Rücken zu kehren. Sie will Menschen abstoßen, bevor sie von ihnen verletzt wird. Sie tritt nicht so krass auf, schlichtweg, weil es ihr Stil ist oder sie sich einer Subkultur zugehörig fühlt.
Ronney Maras Salander ist deswegen konsequenterweise weniger überlebensgroß oder ikonisch. Allerdings ist sie nicht minder faszinierend. Durch ihre stets sichtbare Menschlichkeit kann man sich als Zuschauer noch stärker emotional an sie binden, zugleich sind ihre psychotischen Ausraster noch nachdrücklicher. Mara nimmt eine bereits perfekt gespielte Leinwandfigur, und macht sie mit einer intensiven, unentwegt glaubwürdigen sowie vielschichtigen Darbietung zu ihrer eigenen. Daneben kann Daniel Craig nur den kürzeren ziehen: Er spielt zwar grundsolide, steht jedoch noch mehr im Schatten seines Co-Stars, als Michael Nyqvist in der Erstverfilmung.
Fazit: Ein atmosphärisch enorm dichter Thriller, der seine bitteren Gesellschaftsbeobachtungen technisch perfekt vermittelt. Die formidable Hauptdarstellerin Rooney hilft über die meisten der narrativen Längen hinweg. Auch wer die schwedischen Originalfilme liebt, sollte sich diesen neuen Blick auf Stieg Larssons Erfolgsroman nicht entgehen lassen.