Die Oscar-Saison hat endgültig und offiziell begonnen. Am Dienstag, gegen 14.30 Uhr unserer Zeit, wurden die Nominierungen für die 84. Academy Awards bekannt gegeben. Und wie jedes Jahr liegen Freud, Leid und Gleichgültigkeit beim Analysieren dieser ellenlangen Liste nah beieinander. Wohl jeder wird persönliche Favoriten vermissen, sich über andere Nennungen ärgern und bei sehr vielen Nominierungen auch ahnungslos mit den Schultern zucken. Aber gibt es im Wust der Nominierungen eigentlich so etwas wie ein einheitliches Thema? Und gibt es besonders nennenswerte Ärgernisse, die nach Reformen der Oscar-Regeln dürsten lassen, so wie es erst kürzlich der Dokumentations-Kategorie erging?
Vier Kernbeobachtungen lassen sich über die diesjährigen Academy-Award-Nominierungen ziehen. Zwei positive, zwei mit deutlich ärgerlicherem Beigeschmack. Widmen wir uns erst den guten Nachrichten:
Es ist das Jahr der Autorenfilmer
Gewissermaßen stehen die Academy Awards zwischen zwei Welten. Dass der Massengeschmack von den Oscars nur bedingt widergespiegelt wird, ist ja bereits altbekannt. Viele große Blockbuster wie «Transformers 3» werden nur für Ton- und Effekttechnik nominiert, während so manche Oscar-Gewinner nur mühselig ihr Publikum finden. Und trotzdem sind die Oscars noch immer publikumsträchtiger als etwa die Filmfestspiele in Cannes. Es gibt zwar Ausnahmen wie «Pulp Fiction» oder «Fahrenheit 9/11», generell lässt sich aber sagen, dass eine Goldene Palme automatisch Kassengift bedeutet. Selbst der letztjährige Gewinner «Tree of Life», um den besonders viel Medienrummel getrieben wurde, schaffte es nicht in die Top 100 der deutschen Kino-Jahrescharts. Die Oscars stellen also die Grenze zwischen publikumstauglich und künstlerisch unnahbar dar.
Die Nominierungen zu den 84. Academy Awards stellen dieses Gesetz selbstredend nicht völlig auf den Kopf. Die in einer Depression geschaffene Weltuntergangspoesie «Melancholia» sucht man in der Nominierungsliste vergebens, und der Milliardenerfolg «Harry Potter und die Heiligtümer des Todes – Teil 2» wartet nicht plötzlich mit zwölf Nominierungen auf, sondern muss sich mit drei Nennungen in den technischen Kategorien begnügen. Aber ein wenig weicht die Academy dieses Jahr schon von ihrer Norm ab: So wurde Kunstfilmer Terence Malick für seine Regiearbeit an «Tree of Life» nominiert. Seine visuell impressive Abhandlung über den Sinn des Lebens (unter anderem erläutert anhand dem Untergang der Dinosaurier und den Streitigkeiten einer US-amerikanischen Familie in den 50er-Jahren) erhielt zudem Nennungen in den Kategorien "Bester Film" und "Beste Kamera". Das iranische Drama «Nader und Simin - eine Trennung» wurde wiederum nicht nur wie erwartet als bester fremdsprachiger Film nominiert, stattdessen kann der Produzent, Regisseur und Autor Asghar Farhadi auch auf einen Drehbuch-Oscar hoffen.
Und Woody Allen, lange Zeit ein Darling der Academy, lässt mit «Midnight in Paris» nach einigen stilleren Jahren wieder einen Paukenschlag erklingen: Bester Film, beste Regie, bestes Szenenbild und bestes Original-Drehbuch. Und auch der größte Oscar-Favorit ist ein Autorenfilm: Der französische Regisseur und Drehbuchautor Michel Hazanavicius musste erst mühselig die Finanzierung für «The Artist» absichern, mittlerweile ist der ohne jegliche Unterstützung eines großen Filmverleihs verwirklichte Stummfilm einer der am innigsten besprochenen Filme der Saison und räumte ganze zehn Oscar-Nominierungen ab.
Insgesamt gingen dieses Jahr 60 Nominierungen an Independent-Produktionen. Es ist fast so, als wären die Oscars zu den Indie Awards mutiert. Und in Mitten all dessen gelang es der herzlich-derben Komödie «Brautalarm», gleich zweifach nominiert zu werden, darunter für das beste Original-Drehbuch. Eine Ehre, die 2010 der für seine einfallsreiche Struktur gefeierte «Hangover» nicht erhielt, ganz gleich, wie viele es ihm gönnten. Mit der Komikerin Melissa McCarthy, die als beste Nebendarstellerin im Oscar-Rennen ist, hat die Judd-Apatow-Produktion zudem einen Fuß in den so heiligen Schauspielerkatagorien.
Zumindest im Moment scheint es so, als würden die Academy Awards das Spektrum der von ihnen berücksichtigen Produktionen in beide Richtungen erweitern. In die Welt des kunstvolleren sowie in die Welt des unterhaltsameren Films. Ob dies eine gute oder schlechte Entwicklung ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Die Erfahrung lehrt, dass nächstes Jahr eh wieder Normalität einkehrt.
Animationsfilme werden nicht anhand ihrer Einnahmen bewertet
Sehr viele Oscar-Experten dürften ihre Tippzettel in der Luft zerrissen haben, die Nominierungen für den Animations-Oscar vorgelesen wurden. Zwischen die Trick-Blockbuster «Rango», «Kung Fu Panda 2» und «Der gestiefelte Kater» haben es mit «A Cat in Paris» und «Chico & Rita» dieses Jahr ganz unerwartet gleich zwei Independent-Zeichentrickfilme aus europäischen Landen ins Oscar-Rennen geschafft. Erstmals glänzt die Animationsschmiede Pixar mit Abwesenheit, deren Produktion «Cars 2» von den Kritikern leidenschaftlich verrissen wurde, und auch Steven Spielbergs «Die Abenteuer von Tim & Struppi: Das Geheimnis der Einhorn» hat es nicht zu einer Nominierung geschafft. Dabei wurde das visuell interessante, aber seelenlose Spektakel erst kürzlich mit dem Golden Globe als bester Animationsfilm prämiert.
In vergangenen Jahren gelang es nur wenigen kleineren Produktionen, die Aufmerksamkeit der Academy auf sich zu lenken. Zu diesen zählen die französischen Geniestreiche «L' Illusionniste» und «Das Rennen von Belleville». Häufig dominierten aber, unabhängig von der Qualität, DreamWorks, Pixar und Disney diese Kategorie. Im Jahr 2010 wurde etwa neben verdienten Nominierungen für «WALL•E» und «Kung Fu Panda» auch eine für Disneys passablen «Bolt» ausgehändigt. Und wie die oberflächliche und pointenarme DreamWorks-Trickkomödie «Große Haie – Kleine Fische» im Jahr 2006 nominiert werden konnte, bleibt wohl für ewig ein Rätsel. Nun aber sendete die Academy ein Signal an sämtliche Trickfilmer auf dieser Welt: Egal, wie gering das Budget sein mag, Qualität findet Beachtung. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht bei einer einmaligen Ausnahme bleibt.
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