Am Maifeiertag schickte das ZDF sein Kanzler-Casting in die zweite Runde. Zu sehen bekam man eine launige Debatte, bei der vor allem die prominente Jury überzeugen konnte.
Sollten sich einige ZDF-Zuschauer am Tag der Arbeit verdutzt die Augen gerieben haben, wieso sie beim allabendlichen Polittalk ausnahmsweise einmal nicht die üblichen Verdächtigen auf der Gästeliste gefunden haben, wird ihnen hoffentlich spätestens der Blick in die Programmzeitschrift verraten haben, welch ungewöhnliches Konzept dort auf das Publikum losgelassen wurde. «Ich kann Kanzler!» ist eine Art "Politiker-Castingshow", die darüber hinaus bereits im Jahr 2009 drei Monate vor der Bundestagswahl weitgehend unter Ausschluss der breiteren Öffentlichkeit ausgestrahlt wurde. Weil damals vor allem die Vorentscheidung nicht über einen desaströsen Marktanteil von 4,1 Prozent hinaus kam, beschränkte man sich diesmal auf nur eine statt zwei Folgen. Diese konnte inhaltlich aber überzeugen und war bei weitem besser als der gewohnte Talk-Mainstream der Öffentlich-Rechtlichen.
Im Mittelpunkt des Interesses stehen bei diesem Konzept fünf Menschen, die sich zumindest für einen guten Berufspolitiker, wenn nicht sogar tatsächlich für einen guten Bundeskanzler halten. In der ersten von insgesamt fünf Runden müssen sie sich jeweils ein Thema aussuchen, das ihnen besonders am Herzen liegt, und innerhalb von 45 Sekunden ihre Kernaussagen zum Besten geben. Damit diese 45 Sekunden nicht zu einer einzigen Mischung aus Traumtänzerei, Phrasendrescherei und Polemik verkommen, haben die Macher eine dreiköpfige Jury installiert, die im Anschluss an die Reden kritische Fragen stellen und bei zu heftiger Inhaltsleere sogar einen "Phrasenalarm" auslösen können.
Und obgleich dieser Alarm bedauerlicherweise über die kompletten 90 Minuten Laufzeit nur drei Mal ernsthaft zum Einsatz kommt, ist es doch die aus Maybritt Illner, Oliver Welke und dem Politikberater und Journalisten Michael Spreng bestehende Jury, die das Format erst wirklich interessant gestaltet. Denn den ersten Teil ihrer Aufgabe, das kritische Nachfragen, beherrschen vor allem Spreng und Illner sehr gut – was vor allem bei Letzterer überraschen mag, lässt sie genau diese Qualität bei ihrer eigenen Sendung doch des Öfteren vermissen. Während die spätere Siegerin Allison Jones ihre Idee von einem umfassenden und kostenlosen Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche zu Lasten des Kindergeldes nachvollziehbar und souverän erläutern kann, kommt der eine oder andere Kandidat bereits hier deutlich ins Schwitzen.
Besonders hart rangenommen wird die 45-jährige Tagesmutter Susanne Wiest, die für ein bedingungsloses Grundeinkommen von 18.000 Euro im Jahr plädiert – und dies sogar ab dem Moment der Geburt. Als Spreng sie ironisch nach ihrer Schulnote in Mathematik fragt und von ihr wissen möchte, wie diese Idee denn in der Praxis zu realisieren sein soll, fallen ihr keine nachvollziehbaren Finanzierungsmöglichkeiten ein und es fällt schnell auf, wie fernab jeder Realität ihre Vision somit ist. Immerhin jedoch versucht sie zu argumentieren, während Sozialarbeiter Berthold Wagner nach der Schilderung seiner Entschuldungspläne (inklusive 80 Prozent Spitzensteuersatz und Streichung jeglicher Subventionen) inhaltlich fast überhaupt nichts mehr beizutragen hat und stattdessen lieber versucht, bedingt witzige Sprüche zu reißen. Damit kann er in die Fußstapfen des ziemlich deplatziert wirkenden Jörg Pilawa treten, das Publikum jedoch straft ihn für diese schlechte Performance mit dem letzten Platz ab.
Ein besonderer Liebling der Show ist der 18 Jahre alte Leslie Pumm, der sich nicht nur als FDP-Anhänger outet, sondern sogar noch Guido Westerwelle als sein größtes Vorbild angibt. Hier weicht die Jury und insbesondere Oliver Welke leider von der ansonsten sehr sachlichen und fairen Grundeinstellung gegenüber den Bewerbern ab und kann sich einige hämische Sprüche zur FDP in Verbindung mit dem niedrigen Alter des Kandidaten nicht verkneifen. Am erstaunlich multithematisch aufgestellten Leslie perlt dies wiederum ab. Er schafft einen beachtlichen dritten Platz und muss sich erst nach einem "Kreuzverhör" geschlagen geben.
Gut gelungen ist in dieser ohnehin bereits sehr flott und abwechslungsreich konzipierten Sendung auch die jeweiligen Einspielfilme zu den Bewerbern, die nicht nur obligatorisch zur Vorstellung genutzt werden, sondern auch einen vierstündigen Straßenwahlkampf zusammenfassen. Während man bei der Vorstellung in gerade einmal einer guten Minute alles Wichtige und Interessante erfährt, ohne in irgendeiner Form auf die gerade bei Privatsendern äußerst beliebte Überdramatisierung zurückzugreifen, wird der Kommentar beim Wahlkampf-Clip deutlich lockerer und damit sogar richtig erfrischend. Als der Sprecher auf die Anmerkung Susannes, ein Schiff sei der perfekte Ort, um mit den Menschen über ihre Idee des Grundeinkommens zu sprechen, süffisant "denn dort kann niemand weglaufen" erwidert, hat er den vielleicht größten Lacher der gesamten Sendung auf seiner Seite.
Insgesamt ist «Ich kann Kanzler!» eine wirklich angenehme Sendung, bei der man als Zuschauer einige Ideen zu hören bekommt, die - trotz aller Restriktionen durch die Realität - teilweise im normalen Politikgeschäft nur wenig Beachtung finden. So kommt an manchen Stellen sogar eine gewisse Wehmut gegenüber den Berufspolitikern auf, wenn sich ein Kandidat fast in Rage redet oder sich im Falle des jungen Leslies auch einmal klar gegen die Position der Parteimehrheit stellt. Denn trotz einiger wenig realistischen Pläne bekommt man hier mehr geboten als in den allermeisten «Günther Jauch»-Ausgaben. Deshalb kann man sich nur wünschen, dass es im kommenden Jahr zur Bundestagswahl weitergeht – gerne auch ohne den größten Schwachpunkt der Sendung, Jörg Pilawa. Hier sollte das ZDF denselben Mut beweisen wie beim Konzept dieser etwas anderen Politiksendung und einen Mann oder eine Frau von Fach installieren.