Zwei Genies der Naturwissenschaft. Das eine wurde 1777 als Sohn einer bescheidenen Steinmetzfamilie geboren und in der Schule häufig verprügelt. Der Grund: Seine genialen Lösungswege wurden als Form von Aufmüpfigkeit empfunden. Das andere Genie kam 1769 zur Welt und ging als Spross eines hoch angesehenen Offiziers schon früh beim Adel ein und aus. Beide sollten, auf gänzlich unterschiedliche Weise, die Forschung vorantreiben und die Sicht auf unsere Welt beeinflussen. Der aus der Arbeiterklasse stammende Carl Friedrich Gauß tat dies aus seiner Denkstube heraus, er war ein heimatverbundener Theoretiker, der sich von seiner langsamer denkenden Umwelt unverstanden fühlte. Offizierssohn Alexander von Humboldt dagegen zog es in die Welt hinaus, er bereiste Lateinamerika, die USA und Zentralasien, sammelte unter anderem Erkenntnisse in den Bereichen der Zoologie, Chemie und Geologie – all dies mit preußischer Verklemmtheit.
Dass zwei so wichtige, einflussreiche Naturwissenschaftler zur gleichen Zeit lebten, inspirierte Autor Daniel Kehlmann zu einer fiktionalisierten Doppelbiografie in Romanform, die sensationelle 37 Wochen in den Bestsellerlisten zu finden war. Laut der New York Times stand sie 2006 sogar an zweiter Stelle der am meisten verkauften Bücher des Jahres. Eine Verfilmung galt als schwer vorstellbar, da der Roman zu großen Teilen vom unterschwellig ironischen Erzählstil und der filmisch kaum umsetzbaren Verknüpfung beider Erzählstränge lebt. Dennoch nahm sich Regisseur Detlev Buck («Same Same But Different», «Rubbeldiekatz») der Herausforderung an, «Die Vermessung der Welt» auch auf den Kinoleinwänden stattfinden zu lassen. Und dies sogar in 3D.
Weil die Welten des gedruckten Worts und des bewegten Bilds nahezu so unterschiedlich sind, wie die Methoden Humboldts und Gauß', findet während der Übersetzung des Romans zu einem Kinofilm eine gewisse Umdeutung statt: Die enge Verknüpfung beider Erzählstränge weicht einer losen Gegenüberstellung, die vom Erzähler getätigten, raschen Überleitungen weichen kreativen visuellen Übergängen. Insbesondere in diesem Bereich zeigt sich Detlev Buck äußerst einfallsreich. Er erweckt zum Beispiel ein Skizzenbuch zum Leben und lässt dieses Humboldts Überquerung des Atlantiks als fast schon pythoneske Odyssee schildern, ehe nach allerlei trocken vermitteltem Irrsinn wieder die reale Szenerie erscheint. In einem anderen Fall kippt in bedächtigem Tempo das Leinwandbild, um während des Übergangs in einer Hälfte Gauß' staubiges Arbeitszimmer und in der anderen Humboldt auf einem klapprigen Floß mitten im tiefsten Regenwald zu zeigen.
Generell ist «Die Vermessung der Welt» ein visuell interessanter Film: Kameramann Slawomir Idziak («Drei Farben: Blau», «Harry Potter und der Orden des Phönix») fängt in prächtigen (3D-)Bildern gleichwohl die hässlich vernebelte, kaum erforschte Welt sowie das mit Matsch bedeckte heimische Deutschland des 18. Jahrhunderts ein. Das lädt ebenso sehr zum Staunen ein, wie dazu, sich angewidert von den filmischen Schauplätzen abzuwenden. Reiselust folgt auf Heimweh nach modernem Komfort. Mag man erst den Hut davor ziehen, was Gauß und Humboldt alles ohne moderne Hilfsmittel leisteten, verliert man wenige Minuten später, etwa wenn plastisch-schmutzige Bilder die damalige Zahnmedizin nachzeichnen, jegliche Sehnsucht nach vergangenen Tagen.
Insofern ähnelt «Die Vermessung der Welt» auch der Verfilmung eines weiteren zur Schullektüre erhobenen, internationalen Bestsellers aus deutschen Landen: Visuell und im Bezug auf die Weltsicht kommen allerlei Parallelen zu Tom Tykwers Adaption von «Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders» auf. Beide Werke zeichnen unsere Welt als einen wundersamen, jedoch mindestens genauso sehr ernüchternden Ort und stellen sie in schrecklich-schön realen Szenerien dar, die stets ein Stück weit befremdlich wirken. Die aufwändigen Requisiten sind immer wieder auffällig akkurat ins Bild gerückt, die authentisch aussehenden Kostüme kleiden ihre Träger mit einem Hauch der Überzeichnung, und obwohl die Landschaften und Kulissen der Realität entstammen, strahlen ausgewählte Farben übertrieben stark, was den Leinwandbildern eine expressionistische Note verleiht. Der Film kommentiert auf visueller Ebene unentwegt den gebotenen ästhetischen Prunk. Das distanziert vom Geschehen, verleiht ihm jedoch auch stillschweigend Gewicht.
Das Gleichgewicht zwischen Dramatik und still-verschrobenem Humor gelingt Detlev Buck in «Die Vermessung der Welt» indes besser als seinem Kollegen Tykwer. Wirkten in «Das Parfum» die Seitenhiebe des Erzählers und der teils morbide Humor neben der düsteren und nachdenklich-sinnlichen Handlung wie aus einem gänzlich anderen Film kopiert, platziert Buck seine Lacher im Regelfall ganz ungezwungen. Zumeist entstehen die Pointen aus dem stocksteifen Humboldt und dem aufgrund seiner Einsamkeit verzweifelnden Gauß, etwa wenn ersterer nicht die Genusssucht seines Kollegen Bonpland nachvollziehen kann oder wenn letzterer auf der Suche nach einem Gleichgesinnten mutlos bei Immanuel Kant vorspricht. Die Hauptdarsteller Florian David Fitz und Albrecht Abraham Schuch vollziehen dabei einen gelungenen Balanceakt zwischen Zuschauerinteresse weckender, dramatischer Porträtierung der historischen Persönlichkeiten und feiner Überspitzung.
Dass Gauß und Humboldt dem Betrachter dennoch nur schwerlich ans Herz wachsen, ist erzählerisches Kalkül: Beide Forscher treten sympathisch, dennoch überaus makelbehaftet auf – Gauß überheblich, Humboldt als sturer Fachidiot. Zudem sind die jeweiligen Episoden aus ihrem Leben zu kurz gehalten, als dass man sich in diesen Momenten verlieren könnte. Über Gauß wird eine süße, fast unschuldige Liebesgeschichte erzählt, welche aber nur auf die Eckmomente reduziert ist, die Erzählungen von Humboldts Abenteuern brechen derweil stets am brenzligsten Punkt ab, weshalb unerklärt bleibt, wie er sich aus den Notsituationen befreit. So wird die ironische Distanz zu Gauß und Humboldt verstärkt, was wiederum einige Schmunzler erlaubt. Vor allem jedoch erhält das Kinopublikum dadurch Raum, ohne von größeren emotionalen Bindungen beeinflusst, über Parallelen und Differenzen beider Protagonisten (sowie derer Methoden) zu sinnieren. Wohlgemerkt nur, sofern es sich nicht von den humoristischen Fehlgriffen Bucks ablenken lässt. Diese sind rar, dafür allerdings von ausgiebiger Länge, und umfassen nicht enden wollende Hustenanfälle sowie jegliche Szenen mit «Switch reloaded»-Parodist Max Giermann, der als gestrenger General seine Nase in die 3D-Kamera steckt und sich ohne größere Relevanz für das restliche Geschehen seine Seele aus dem Leib keift.
Solche Momente erfordern Geduld mit Bucks «Vermessung der Welt», ebenso wie die generelle Charakteristik des Films nicht nur Freunde finden wird. Denn obwohl es sich bei dieser optisch reizvollen Produktion um ein mit Humor gespicktes Wissenschaftsabenteuer handelt, hat dieses keine strikte Handlung. Stattdessen ist «Die Vermessung der Welt» ein Charakterstück, eine auf Unterhaltung gerichtete themengebundene Erzählung. Dessen sollten sich neugierige potentielle Zuschauer gewiss sein.
Mit ausreichender Neugier bezüglich der «Vermessung der Welt» hat der interessierte Kinogänger immerhin eins mit Gauß und Humboldt gemein. Und wie man daran erkennt, dass beide Forscher sonst nur wenig verbindet, ist dieser Wissensdurst ein rares Gut. Eines, das Stände, Methoden und selbst die Jahrhunderte überbrückt. Ganz gleich, was sonst aus Bucks Romanadaption gezogen werden kann, diese Erkenntnis stellt sie nachhaltig sowie unaufdringlich dar. Gar kein leichtes Unterfangen. Man bedenke: Was Buck in zirka zwei Filmstunden gelingt, kostete den fiktionalisierten Vordenkern Gauß und Humboldt wesentlich mehr Lebenszeit.