Popcorn & Rollenwechsel

Ein Haptiker in der digitalen Welt

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Eine Kolumne über Scarlett Johansson, Netflix und den Drang, Dinge anzufassen.

Köln am 11. September 2014. Ein Mann blickt auf einen prächtig gefüllten Kinosaal und scherzt: „Tja, schöne Frauen locken die Menschen halt in Scharen in die Kinos.“ Einerseits hat er Recht. Der nachdenklich-hypnotische Arthouse-Thriller «Under the Skin» mit Superstar Scarlett Johansson ist einer der großen Publikumsmagneten beim Fantasy Film Fest. Andererseits scheinen selbst Johanssons bislang beste (sowie freizügigste) Performance und enthusiastische Filmkritiken nicht auszureichen, um Jonathan Glazers vielschichtiger Regiearbeit einen regulären deutschen Kinostart zu verschaffen. Wer diese kunstvolle Science-Fiction-Parabel hierzulande auf der großen Leinwand erleben will, muss entweder zum Fantasy Film Fest oder darauf hoffen, dass sich ein naheliegendes Programmkino der durch Facebook-Protest losgelösten Trotzaktion anschloss.

Der Grund dafür ist das liebe Geld. Obwohl der deutsche Verleih, die Senator Entertainment AG, 2012 mit «Ziemlich beste Freunde» den erfolgreichsten Film des Jahres stellte, zehrten vergangenes Jahr zahlreiche Fehlinvestitionen das Grundkapital des Unternehmens vollständig auf. Daher musste Senator seinen für 2014 vorgesehenen Kinostartplan entrümpeln. „Eine bundesweite Kinokampagne für einen internationalen Film verlangt nach einem sechsstelligen Vermarktungsbudget“, erläuterte der Verleih in einem Pressestatement und gab bekannt, daher für einige Filme nach alternativen Veröffentlichungsstrategien zu suchen – wie nun einmal beim als nicht wirtschaftlich erachteten «Under the Skin».

Aber wie unwirtschaftlich kann «Under the Skin» auf einem Kinomarkt, der auch genug Raum für den subtilen, ohne jegliche Prominenz besetzten Psychothriller «Sag nicht, wer du bist» hat, denn schon wirklich sein? «Enemy» hat es ja auch in die Lichtspielhäuser geschafft, und auch wenn der unwirkliche Thriller mit Jake Gyllenhaal etwas stringenter erzählt als der atmosphärisch ähnliche «Under the Skin», so hat der «Prince of Persia»-Hauptdarsteller weniger Zugkraft als das «Avengers»-Mitglied Johansson. Und die Kritiken für «Enemy» fielen zwar zumeist positiv aus, doch selten so euphorisch wie bei Jonathan Glazers einzigartiger Romanadaption. Wie kaputt müssen die alten Vertriebswege also sein, wenn selbst ein in der Arthouse-Nische extrem lautstark umjubelter Film nicht weiter auf eine Kinoauswertung zählen kann?

Schenkt man der Fernsehwerbung Glauben, gibt es sowieso nur noch einen einzig wahren Weg: Streaming. So tanzte Emma Schweiger vor rund einem Jahr in der Watchever-Werbung ihrem Vater auf der Nase herum und verkaufte seine komplette DVD-Sammlung. Denn man könne ja auch alles bei Watchever gucken. Jetzt gießt zudem der nahende Start von Netflix Deutschland Öl in dieses Feuer. Filme und Serien sind nunmehr „jederzeit und überall“ zu konsumieren. Alles auf einen Knopfdruck. Oder eher: Auf einen Klick.

Aber so einfach, wie Emma Schweiger sich das vorstellt, ist es in der digitalen Welt dann doch nicht. Um ein wirklich breit gefächertes, den Filmliebhaber komplett erfreuendes Angebot an Filmen zu haben, reicht es nicht, Watchever-Kunde zu sein. Denn Video-on-Demand- beziehungsweise Streamingrechte sind über sämtliche Plattformen verteilt. Lust auf «World War Z»? Den zum Beispiel gibt es nur bei Amazon Prime Instant Video. Wieder andere Medieninhalte sind exklusiv bei Maxdome abzurufen. Und so weiter, und so weiter.

Aber selbst wer bei allen Streaming-Diensten Kunde ist, verfügt nicht wirklich über eine allumfassende Filmsammlung. Es hatte ja auch niemand eine Sammlung von „mehreren Tausend Filmen“, bloß weil er einen Videothekenausweis sein eigen nennt. Downloadmöglichkeiten und auf der Festplatte gespeicherte Dateien sind zwar schön und praktisch, aber es fehlt die emotionale Bindung zu ihnen. Wem ist es nicht schon passiert, dass er vergessen hat, welche Songs er so auf dem Computer hat? Und wie eng ist die emotionale Bindung zu den zigtausend Fotos, die auf der Festplatte gespeichert sind, im Vergleich zu den Fotos, die dazu dienen, die eigene Wohnung zu verzieren?

Dateien sind halt oftmals bloß emotionale Wegwerfware. Sie sind willkommen, wenn man sie gerade braucht. Aber für einen Sammler, für jemanden, der sein Hobby liebt, ist das nicht genug. Es hat schon seinen Grund, dass Dienste zum Erstellen eines eigenen Fotoalbums seit Jahren wie aus dem Boden sprießen. Ebenso erscheinen noch immer aufwändig gestaltete Albeneditionen, darüber hinaus macht seit Jahren sogar Vinyl ein Comeback. Kurzum: Große Musikfans halten die physischen Medien am Leben, lange nachdem Napster und Co. als Todesspritze der Musikindustrie erachtet wurden. Denn nur etwas Haptisches lädt zu einer größeren Wertschätzung ein. E-Books werden mittlerweile ja auch bei Leseratten akzeptiert, aber die wenigsten Literaturliebhaber werden daher sämtliche Bücherregale mitsamt Inhalt aus dem Haus schmeißen. Haptische Objekte sind schlussendlich auch Statussymbol sowie Einrichtungsgegenstand. Ein stolzer Literaturfreund will seine Schätze vorführen, ebenso wie Filmliebhaber ihr Hab und Gut ehren. Ganz ohne eigene Bibliothek geht es für sie einfach nicht – egal, ob nun die komplette Sammlung sämtlicher Disney-Trickfilme vorgeführt wird, eine Reihe limitierter Horrorfilm-Editionen oder schmucke Vinyl-Alben.

Kinobesuche sind für mich als Filmliebhaber auf der gleichen Ebene wie das Sammeln von DVDs und Blu-rays einzuordnen. Denn so, wie es schöner ist, geliebte Filme auf einem physischen Medium im Regal stehen zu haben, statt allein in Form von Einsen und Nullen auf sie zurückgreifen zu können, so ist auch der Kinobesuch etwas Besonderes. Die große Leinwand, der satte Klang, die Anwesenheit Fremder, die gemeinsam auf das Gezeigte reagieren. Die kleinere Anzahl an potentiellen Ablenkungen. Sich für einen Film aufraffen und die eigene Couch verlassen zu müssen. All das beeinflusst das Seherlebnis.

Natürlich sind die digitalen Vertriebswege nicht völlig zu verachten. Seit legale Musikdownloads unfassbar simpel sind und zu fairen Preisen angeboten werden, kaufe ich wieder Singles und kann ausgewählte Songs von Bands erwerben, die in meinen Ohren qualitativ sehr unstet sind. Ich muss für Soundtracks von Musicals, die eine deutsche und eine englische Fassung haben, nicht mehr zwei Mal großes Geld ausgeben. Die beste Version gönne ich mir auf CD, die andere als ergänzenden Download. Und im TV versäumte Fernsehserien lassen sich dank Video on Demand viel günstiger und unkomplizierter nachholen als noch vor wenigen Jahren, als die einzige legale Möglichkeit der Blindkauf einer Staffelbox war.

Und so traurig es ist: Auch «Under the Skin» zeigt ironischerweise, wie beliebt die alten Vertriebswege sind. Die vollen Säle beim Fantasy Film Fest zeigen es. Oder auch die Eigeninitiative diverser Lichtspielhäuser, den Film aus Trotz zu zeigen. Leider ist «Under the Skin» aufgrund Senators finanzieller Lage und der Fehlentscheidung, gerade dieses Meisterwerk dem Sparkurs zu opfern, gleichzeitig ein Beispiel für die Anfälligkeit des klassischen Weges.

Ich zumindest werde «Under the Skin» jedoch weiter unterstützen und ihn auf Blu-ray erwerben, statt mich mit der Video-on-Demand-Version zu begnügen. Es gibt halt Dinge, die will ich einfach präsent wissen und anfassen können. Sorry, Netflix.

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