Das Vice-Universum
- Printmagazin "Vice"
- Vice News: Video-Reportagen über aktuelle Themen
- Vice Music: Musiklabel
- Vice Books: Buchverlag
- Vice Video: v.a. Video-Channels zu Themen wie Wissenschaft, Ernährung, Popkultur, Mode, Sport u.a.
- Vice Films: Filme in Spielfilmlänge
- «Vice» on HBO: HBO-Reportageserie
Eine Medienkrise kennt Vice nicht, man expandiert mit großer Geschwindigkeit, ist in 35 Ländern aktiv. Im ersten Quartal 2014 machte man mehr Gewinn als im gesamten Jahr 2013, soll im gesamten Jahr 2014 rund 500 Millionen US-Dollar verdient haben. Für 2016 steht 1 Milliarde in Aussicht. Und das ist noch konservativ gedacht. In Deutschland ist Vice zwar schon bekannt, aber längst noch keine solche Marke wie in Amerika. Die künftige Fernsehpräsenz bei RTL II soll einen Wachstumsschub verleihen. Schafft es Vice auch hier, die Medienwelt umzukrempeln? Quotenmeter.de begibt sich auf die Spuren einer vermeintlichen Medienrevolution.
Die Geschichte von Vice beginnt 1994, drei arbeitslose Studenten gründen das Printmagazin in Kanada, mit staatlichen Fördermitteln. Man macht sich einen ersten Namen als echte, punkige Nachrichtenalternative. Nach einem Eigentümer- und Ortswechsel Ende der 90er kommt Vice aus New York, kurze Zeit später soll der 11. September 2001 das Medienbusiness gewaltig verändern. Mit der Identitätskrise traditioneller Medien in Zeiten der Bush-Administration und dem Irak-Krieg steigt die Sehnsucht vieler aufgeklärter Bürger nach unabhängigem, innovativen Journalismus. Das Internet tat als Verbreitungsplattform sein übriges. Heute ist Vice eine globale Marke geworden, mit dem Printmagazin, aber vor allem mit Online-Inhalten in diversen Genres, mit einem eigenen Platten- und Buchlabel sowie als Produzent von Bewegtbildern. Das Medium erkennt die Zeichen der Zeit, insbesondere für seine Zielgruppe: die Generation Y, auch Millenials genannt. So nennen Forscher diejenigen Menschen, die heute unter 30 Jahre alt sind bzw. ab Mitte der 1980er geboren wurden. Sir Martin Sorrell, Mogul der Werbewirtschaft und Anteilseigner von Vice, sagt über das Erfolgsgeheimnis der Macher: „Sie verstehen, wie die Millenials denken und welche Inhalte die Millenials haben wollen.“ Das Durchschnittsalter der Vice-Mitarbeiter liegt bei 27 Jahren.
In den USA hatte Vice ein tendenziell leichteres Spiel; traditionellen Nachrichtenmedien wird dort weniger vertraut als je zuvor. Namen wie zuletzt Jon Stewart (Foto) und Stephen Colbert – Hosts politischer Comedy-Shows – prägen die Meinung vieler US-Amerikaner mehr als die eigentlichen News-Sender. Dort hat man bereits erkannt: Ehrliche Berichterstattung muss es sein, eine mit Haltung und Authentizität. Vice hat die Eruption des traditionellen Journalismus früh erkannt und war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Man machte nur genau das Gegenteil von Jon Stewart und Co.: Authentizität ja, aber Haltung nein. Die Inhalte, die Vice produziert, sollen für sich sprechen, sie sollen dem Rezipienten also seine eigene Haltung ermöglichen, indem man ungefiltert, unvoreingenommen berichtet. Urteile oder Wertungen sind – zumindest auf den ersten Blick – tabu (auf den dritten, vielleicht erst vierten Blick ist man ein tendenziell linkspolitisches Medium).
Besonders inhaltsstark ist das Magazin lange nicht aufgetreten. Sex, Gewalt, Drogen sind gängige Themen, auch Lifestyle oder Kultur. Apolitisch war das Medium lange Zeit, mittlerweile will man dieses Image abstreifen, mit Ablegern wie Vice News. Vice hält sich nicht an journalistische Regeln oder Textaufbau, man schreibt oder sendet unstrukturiert darauf los, man produziert, was das Gehirn, was die Emotionen hergeben. Basis der Vice-Reportagen ist immer eine Immersion in das Thema, keine distanzierte Beobachtung, sondern Erfahrung durch Teilnahme. In der soziologischen Feldforschung wird diese Methode auch existenzielles Engagement genannt: sich so weit auf das soziale Feld und seine Mitglieder einlassen, dass der Forscher nachvollziehen kann, welche Motivationen und Gefühle die Menschen für ihre Handlungen empfinden. So werden beispielsweise Rocker-Milieus oder die Sprayer-Szene untersucht: indem der Forscher als neues Rocker-Mitglied bzw. als Graffiti-Sprayer in das Feld eintaucht und sich – im wahrsten Sinne des Wortes – existenziell auf dieses einlässt.
Die Methoden von Vice funktionieren nicht anders, außer dass nach der Teilnahme im Feld kein wissenschaftlicher Bericht, sondern eine journalistische Reportage für die Öffentlichkeit steht. Immersion- oder Gonzo-Journalismus wird das genannt. Wie in der Sozialforschung bleibt beim Gonzo-Journalismus das eine Problem: die äußerst subjektive Schilderung der Dinge, die nicht einordnet oder in den Kontext stellt, sondern für sich steht. Der Zuschauer bzw. Leser muss aufgeklärt genug sein, sich die Meinung zu den Bildern oder Texten kritisch selbst zu bilden. Dies ist ein schmaler Grat: Im vergangenen Jahr veröffentlichte Vice Reportagen aus dem Inneren des IS und vom deutschen Salafisten Sven Lau. Die Videos werden wenig kommentiert, die Protagonisten – in diesem Fall eben unter anderem IS-Kämpfer und ein Salafist – kommen fast ungefiltert zu Wort. Authentisch sind die Videodokumente, auch einzigartig, weil andere Nachrichtenmedien nie so nah dran sind wie Vice. Kritiker behaupten, die Videos seien Propaganda für die entsprechenden Protagonisten und Vereinigungen. Der Vice-Chefredakteur entgegnet, er traut seinen Zuschauern viel zu. Aufklärung eben. Dennoch bleiben Fragezeichen: Kürzlich schrieb der Kulturanthropologe Mike McGovern über einen Vice-Reporter in Liberia, der zur Ebola-Epidemie berichtete. Der Reporter bot Passanten Affenfleisch an, das diese annahmen und in mundgerechte Stücke rissen – und er hetzte publikumswirksam in die Kamera: „Oh my God. I'm getting fucking pegged with Ebola monkey right now. I'm getting fragged with Ebola monkey.“ Der Reporter erweckte den Eindruck, mit Ebola in Berührung gekommen zu sein. Auch so kann man Meinung machen.
Wissenschaftler McGovern erkennt aber auch die Macht von Vice: „Vielleicht sollte ich über die Darstellung des Ebola-Virus in Vice nicht besorgt sein, aber ich bin es. Meine Studenten informieren sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eher mit Vice als mit der New York Times. Vice kombiniert den rücksichtslosen, post-jugendlichen vibe von «Jackass» mit der epistemologischen Visitenkarte der Anthropologie: vor Ort zu sein.“ Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, zwischen gut und schlecht, zwischen Kulturpessimismus und Medien-Revolution. Vice geht dorthin, wo andere Nachrichtenmedien nicht einmal mehr Korrespondentenbüros unterhalten. Vice stellt Fragen, die niemand sonst fragt, für die aufgeklärte Zielgruppe, die nicht mehr stark gefilterte, weich gespülte Nachrichtenmeldungen a la «Tagesschau» sehen will, die sie im Online-Grundrauschen ohnehin mitbekommt. Sondern sie will Informationen aus erster Hand, sie will sich selbst ein Bild machen, sie will Hintergründe und vor Ort sein. Vice ist genau dieses Auge, durch das die Zuschauer einen solchen Journalismus bekommen. Vielleicht ist das eine der wichtigen Erkenntnisse des Erfolgs: Man macht Journalismus nicht für alle, der gefällig sein und jeden ansprechen muss. Sondern provokanten Journalismus mit klarer Zielgruppe und damit klarer Ansprache.
Insbesondere im deutschen Fernsehen ist dieser bislang kaum erkennbar. Vice kann mit seinem Vorstoß ins deutsche TV möglicherweise Vorbild für junge, neue Berichterstattung aus Deutschland sein. Dass viele Menschen investigativen Journalismus wollen, zeigen die erfolgreichen RTL-Formate «Wallraff Undercover» oder «Das Jenke-Experiment», aber auch die quotenstarke «Galileo»-Reportage aus Nordkorea. Die Formate bedienen sich einiger Vice-Stilmittel des immersiven Berichtens, wenn auch in abgeschwächter Form. In Deutschland startete die Marke Vice 2005, mittlerweile beschäftigt man hier rund 100 Mitarbeiter. In den USA gibt es bereits eine Fernsehserie, dort zeigt der Pay-TV-Kanal HBO das Magazin «Vice», jede Folge besteht zumeist aus zwei investigativen Reportagen. Derzeit läuft die dritte Staffel, eine vierte für 2016 ist bereits angekündigt. Die Themenpalette ist vielfältig, zuletzt reiste man in die Antarktis und versuchte die Erderwärmung in Bilder zu pressen. Reporter sprachen mit Menschen in Ferguson, die sich nach der Erschießung von Michael Brown für eine Erneuerung der Waffengesetze stark machen; es ging um den Aufstieg synthetischer Drogen und die Abholzung des Regenwaldes für Palmölplantagen. Berüchtigt sind die Berichte aus Nordkorea, zuletzt 2013, als man Staatschef Kim Jong-un persönlich vor die Linse bekam.
Diese Reportagen werden deutsche Zuschauer bald ebenfalls sehen; das angekündigte RTL II-Magazin will Inhalte aus dem HBO-Original übernehmen. Beigesteuert werden Videos des YouTube-Channels „Vice News“, aber auch in Deutschland eigenproduzierte Stücke sollen zum Programm gehören. Das deutsche «Vice» muss sich erst noch beweisen, der wohl vor allem ausländische Content verspricht aber bereits jetzt hochqualitative Information. In jedem Fall wird das Magazin eine Bereicherung für die – doch sehr nüchterne und von öffentlich-rechtlicher Lethargie durchzogene – journalistische Berichterstattung sein. Insbesondere für die angesprochene Generation Y, die traditionellen Medien und ihren Verbreitungskanälen längst abgeschworen hat. Für diejenige Generation also, die einen öffentlich-rechtlichen Jugendfernsehkanal versprochen bekam, den sie sowieso nicht eingeschaltet hätte. Und der dann bekanntermaßen auch nie kam. Vice ist wahrscheinlich deren Rettung.
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21.04.2015 12:35 Uhr 1