Hingeschaut

«Fahndung Deutschland»: Und jetzt mal durchschnaufen

von   |  1 Kommentar

Über vier Jahre nach Julia Leischik und drei Jahre nach Leo Martin gönnt sich das Privatfernsehen wieder eine Fahndungssendung - noch dazu täglich live. Von «Aktenzeichen» hebt man sich an vielen Punkten ab - und trifft mit enormer Aktualität ins Schwarze. Wieso hinter einem Erfolg dennoch Fragezeichen stehen.

Wenn aus Zeitungen wie Bild und Express beim Zusammenrollen dergleichen schon förmlich das Blut läuft, dann ist es doch Zeit für ein tägliches Fahndungs-Crime-Magazin im deutschen Fernsehen. Oder?

Highspeed-Fahndung


Das Thema 'Innere Sicherheit' ist in Deutschland immer größer geworden. Die Einbruchstatistiken sind in einigen Regionen Deutschlands geradezu explodiert, nach der Silvesternacht von Köln hat bei vielen Frauen eine starke Verunsicherung eingesetzt. Täglich werden Geldautomaten gesprengt, wehrlose Menschen werden in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne ersichtlichen Grund angegriffen. Taschendiebstähle, Autoklau, alte Menschen, die mit dem sogenannten 'Enkeltrick' um ihr Erspartes gebracht werden - jeden Tag passieren diese Straftaten. Wir möchten mit unserer Sendung dazu beitragen, Deutschland sicherer zu machen.
Moderatorin Simone Panteleit im «Frühstücksfernsehen» zur neuen Sendung
Das Horror-Haus in Höxter dominierte zuletzt über Tage hinweg die Schlagzeilen. Die ohne Frage schrecklichen Vorfälle füllten die Seiten der großen deutschen Zeitungen und auch sonst mangelt es den Blättern nicht gerade an Geschichten über Verbrechen. Erst in der Silvesternacht sorgte der Kölner Silvester-Mob für so viel Zündstoff, dass mindestens die erste Januar-Hälfte über die vielen Straftaten an jungen Frauen berichtet werden konnte. Addiert mit vielen kleineren und regionalen Geschichten floriert die Crime-Berichterstattung in den deutschen Medien - und stößt in Zeiten, in denen der fiktionale «Tatort» Wochenende für Wochenende an die zehn Millionen Zuschauer vor die Geräte lockt, auf reges Interesse.

Vor diesem Hintergrund will Sat.1 seinen Vorabend nun mit dem ersten täglich gezeigten Fahndungsmagazin «Fahndung Deutschland» füllen. Das “täglich” betonten Sender und Präsentatorin im Rahmen der Premiere übrigens besonders oft. In Zeiten, in denen die Anzahl an Live-Formaten immer weiter sinkt, ist es zunächst einmal erfreulich, dass der Sender sich traut, täglich 55 Minuten lang live Fernsehen zu machen. Die aus dem «Frühstücksfernsehen» bekannten Simone Panteleit und Karen Heinrichs führen abwechselnd durch die Sendung - dass die Wahl auf zwei Frauen fiel, kommt nicht ganz von ungefähr, werden Fahndungsformate hierzulande sonst doch konsequent von Männern präsentiert. Was Rudi Cerne im ZDF tut, macht Axel Bulthaupt im MDR und Uwe Madel im rbb. Die Mädels im Privatfernsehen tun das aus einem - für Sat.1-Verhältnisse - zunächst ungewohnt anmutendem Studio: Die Farben sind nicht so kuschelig gehalten wie bei anderen Magazinen der Sendergruppe, blau dominiert, ein bisschen orange ist noch beigemischt - und auch sonst sieht das Set in den kurzen Sequenzen angenehm frisch aus.

Gleich zu Beginn stellt die Sendung ihre großen Stärken in den Vordergrund: Ein erster kurzer Bericht drehte sich um eine Schießerei in einer Wohngegend, keine zehn Stunden alt. Weitere Fälle: Die neuen Entwicklungen vom so genannten Horror-Haus, dreiste Einbrecherbanden in Leipzig, der dank einer gewieften Oma fehlgeschlagene Enkeltrick, “K.O.-Tropfen-Opfer”, Überfall im Schlaf und und und. So geht es vom einen zum anderen, mehr als fünf Minuten sind für kaum einen Fall eingeplant. Im Fokus immer wieder auch Fälle, die quasi direkt aus der Nachbarschaft kommen (können). In der Mitte der Sendung gibt’s einen kurzen Hauch von Service, als in der Rubrik “Prävention” vor der bekannten K.O.-Tropfen-Masche gewarnt wird. Ein bisschen was von dem Material muss sich schließlich auch in anderen Magazinen der Gruppe wieder verwenden lassen.

Steckbrief

Manuel Weis ist seit 2006 bei Quotenmeter und seit 2007 verantwortlicher Chefredakteur. Er ist somit in allen Bereichen der Seite im Einsatz. Nebenberuflich arbeitet er als freier Sportreporter mit Schwerpunkt auf Fußball, Eishockey und Boxen.
Unter dem Strich finden sich in der Premiere viele gute Ansätze - und starke Ideen, denen man durchaus eine Vorabendtauglichkeit zutrauen und gar einen Quotenerfolg wünschen würde. Nicht zuletzt, weil klar ist, dass eine hohe Reichweite die Chancen einer Aufklärung der Verbrechen erhöht. In manchen Punkten hätte das Format aber durchaus noch konsequenter sein dürfen. Das Studio als Ankerpunkt der Sendung mag Sinn ergeben - es dient letztlich aber nur der Überleitung. Anders als bei «XY» werden sämtliche Aufrufe schon in den einzelnen MAZen gestartet - womit Studio und Moderation einzig den kurzen Überleitungen dient.

Das große Vorbild


Freilich – Parallelen zu «Aktenzeichen XY», dem ZDF-Fahndungsklassiker sind nicht zu übersehen, sie sind vermutlich auch gewollt. Dass nun auch ein Privatsender etwas vom Quotenkuchen in diesem Genre ab haben will, war eigentlich längst überfällig. 2015 holte keine Sendung des ZDF-Formats mit Rudi Cerne weniger als 4,9 Millionen Zuseher im Gesamtmarkt. Bei den 14- bis 49-Jährigen, die Sat.1 besonders im Auge hat, lag man in der Spitze bei fast 15 Prozent und immer im zweistelligen Bereich. Ergo findet sich im aktuellen ZDF-Primetime-Programm kein anderes Format, das so junge Zuseher hat wie «Aktenzeichen». Dazu kommt auch, dass die Sendung über behandelte Themen und erzielte Fahndungserfolge Schlagzeilen in (regionalen) Medien macht. «Aktenzeichen XY» ist dabei kein einzelnes Phänomen: Einige dritte Sender leisten sich schon heute regionale Fahndungsmagazine, wie etwa MDRs «Kripo Live». Auch hier sind die Marktanteile regelmäßig deutlich überdurchschnittlich, und auch hier stimmt die Zuschauerzahl der 14- bis 49-Jährigen.

Hat das keiner bemerkt?


In der Tat hat sich bisher kein Sender so ganz richtig an eine Adaption von «Aktenzeichen XY» getraut – es waren eher vorsichtige Versuche, die unternommen wurden. Julia Leischik etwa probierte kurz nach ihrem Wechsel zu Sat.1, und somit im Jahr 2012, an zwei Donnerstagen um 21.15 Uhr das Format «Zeugen gesucht». Damals begab sich die Fernsehmacherin auf Spurensuche bei ungeklärten Straftaten, stand den Opfern bei und versuchte, weitere Verbrechen zu verhindern - mit persönlichem Einsatz und der Hilfe der Zuschauer. Betroffene kamen in den nur zwei Ausgaben ausführlich zu Wort. Sat.1 also versuchte damals quasi einen Mix herzustellen aus «Aktenzeichen» und den emotionalen Leischik-Sendungen wie «Bitte melde dich». Das ging aber nicht auf, schon die Premiere war mit weniger als acht Prozent kein Hit – übrigens funktionierte damals auch der Vorlauf mit «Die perfekte Minute» nicht wirklich.

Ein Jahr später war es dann RTL, das ein «Aktenzeichen»-Format probierte. Kopf der Sendung war damals Leo Martin (Foto), der bei den Kölnern in den Monaten zuvor mit einer Primetime-Produktion zum Thema Stalking aktiv war. Die Sendung scheiterte bei ihrer Testausgabe aber an mehreren kleinen Punkten. Zum einen ging der frühere Geheimagent Leo Martin in seiner Rolle als „Fälle-Ansager“ komplett unter, zum anderen wirkten die gezeigten Beiträge über-dramatisch und vollgefrachtet mit modernen Grafiken. Dass an einem Mittwochabend nur elf Prozent der Umworbenen zusahen, führte dazu, dass vergleichbare Pläne zunächst in der Schublade blieben.

Stattdessen entwickelte sich eher ein Trend hin zur Crime-Doku. Bei RTL Nitro etwa boomten Sendungen wie «Medical Detectives», RTL übernahm «Anwälte der Toten» von seinem Spartensender wieder – und ließ sogar neue Folgen drehen. RTL II probierte zur Primetime mit mäßigem Quotenerfolg sogar Specials von «Autopsie» mit dem Beinamen „Die letzten Stunden“, RTL machte «stern Crime», das bei seinem Testlauf aber an der 10-Prozent-Marke scheiterte und kabel eins punktete kürzlich mit spektakulären Kriminalfällen am Sonntagabend. Alle diese Sendungen hatten aber eine Verbindung: Sie zeigten Verbrechen, die Jahre zurück liegen.

Von den «Spezialisten» zu den echten Fahndern


Vor diesem Hintergrund also erscheint «Fahndung Deutschland» stimmig – aber nicht weniger mutig. Im Vorfeld dieses auf zunächst fünf Wochen angelegten Testlaufs stellten sich nämlich durchaus spannende Fragen, wie die Firma Maz & More, die auch das erfolgreiche «Frühstücksfernsehen» liefert, die Fahndungssendung um 19 Uhr einbauen wird. Dabei könnte sich als etwas problematisch erweisen, dass die Sat.1-Zuschauer in der Stunde zuvor ein Format serviert bekommen, dass vor überbordender Dramatik nur so strotzt. Bei «Auf Streife – Die Spezialisten» geht es in diesem Punkt ganz schön wild zu. Wie auch immer man den neuen 18-Uhr-Hit des Senders nennen mag, als seriös sollte man ihn vielleicht nicht zwingend einstufen. Genau das aber muss sich «Fahndung Deutschland» auf die Fahnen schreiben können, um sicher zu stellen, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei reibungslos verläuft.

Zumindest das ist in der Premiere gelungen. Von allzu reißerischer Aufmachung war wenig bis nichts zu sehen. Um sich vom ZDF-Klassiker abzuheben; und um aktueller agieren zu können wurde weites gehend auf nachgestellte Szenen verzichtet und stattdessen auf Material von Überwachungskameras, Handy-Videos und dergleichen zurückgegriffen.

Einmal Wurstbrot mit Mord?


Aufgefallen

  • Eiltempo: Acht Fälle plus ein Kompakt-Block in rund 43 Minuten Sendezeit - die Macher der Sendung drücken enorm auf die Tube. Im Schnitt wird eine Fahndung in weniger als fünf Minuten abgehandelt.
  • Das Netz bleibt draußen: Etwas erstaunlich, aber wohltuend abwechselnd: Zeugen sollen sich auf klassischem Wege bei den ermittelnden Behörden melden - via Telefon. Eine Einbindung der sozialen Netzwerke, also Facebook und Twitter, findet nicht statt. Mit anonymen Hinweisen von dort könnte die Polizei wohl ohnehin nur wenig anfangen.
Am Ende der 55 Minuten langen und extrem dicht erzählten Auftaktsendung stellen sich also vier Fragen. Erstens: Goutiert der Crime liebende Zuschauer diese nicht unbedingt einfach zu verdauenden und wirklich wahren Taten schon um 19 Uhr? Wie vielen bleibt das Wurstbrot im Halse stecken, wenn sie mit Einbrecherbanden, Morden, Vergewaltigungen und anderer schwerer Kost konfrontiert werden? Anders gefragt: Funktioniert das, was in der Primetime gute Quoten bringt allein von der Thematik her auch schon beim Abendessen oder stört es die Family-Time? Zweitens: Wird eine solche aktuelle Sendung überhaupt von Sat.1 erwartet? Das komplette Tagesprogramm des Senders ist nach zehn Uhr auf Gerichtsshows und Scripted Reality ausgerichtet. Nachrichten finden zwar morgens und um 19.55 Uhr statt, ansonsten aber eher beiläufig. Also: Wie viel Relevanz hat Sat.1? Und drittens - vielleicht für den Sender am wenigsten wichtig: Wird das Studio noch zu mehr genutzt als 15 Sekunden im Bild zu sein und den nächsten Fall einzuleiten? Man ist fast geneigt, davon abzuraten. Und viertens: Wird die Live-Sendung ein Quotenerfolg? Genau das ist diesmal verdammt schwer einzuschätzen.

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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Sentinel2003
09.05.2017 18:56 Uhr 1
Ist mir ein Rätsel, warum sat 1 diese Sendung vom Schirm genommen hat!! Da senden die viel lieber dir zigste Reality, als diese Sendung weiter zu Senden.
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