Quoten der Finalshows
- 2008 & 2009: nur etwas mehr als sechs Millionen Zuschauer, unter 30 Prozent Marktanteil
- 2010 (Lena 1): unglaublicher Sprung auf 14,69 Mio. bzw. 49,1 Prozent, über 60 Prozent der Jüngeren
- 2011 (Lena 2): kaum schwächere Marktanteile, Reichweite fällt zurück auf 13,83 Mio.
- seit 2012: jeweils zwischen 8,11 und 9,96 Mio., MA: Gesamt ca. 35 Prozent, 14-49 zwischen 40 und 45 Prozent
Ob die deutschen Fernsehzuschauer dabei allerdings die cleverste Wahl für den internationalen Wettstreit getroffen haben, ist äußerst fraglich: Die 18-Jährige steht mit ihrem Popsong "Ghost" sowohl bei den (in den vergangenen Jahren meist durchaus zuverlässigen) Wettanbietern als auch in vielen Experten-Prognosen weit hinten und könnte die desolate deutsche «ESC»-Bilanz dieses Jahrtausends nahtlos fortsetzen: Ohne Stefan Raabs Beteiligung gelang es einzig Michelle, einen Platz in den Top Ten zu erreichen - im Gegenzug war man seit 2005 kein einziges Mal besser als auf dem 15. Rang platziert, Gracia, die No Angels und Ann Sophie landeten sogar auf einem geteilten oder alleinigen letzten Platz. Die Pessimisten und Dauernörgler können also schon einmal den Bleistift spitzen. Doch natürlich gibt es trotz der deutschen Außenseiter-Stellung ausreichend Anlass, gespannt auf den Abend zu sein.
Punkte über Punkte: Neues Votingsystem soll für Spannung sorgen
Die größte Besonderheit des diesjährigen Contests ist ohne Frage das modifizierte Votingsystem, von dem sich die Organisatoren erhoffen, dass sich der Sieger anders als in den Vorjahren nicht bereits nach kurzer Zeit abzeichnet. So werden von nun an nicht mehr die Stimmen von Publikum und nationaler Jury zu einem Ländervoting zusammengerechnet, sondern jedes Land stimmt gewissermaßen doppelt ab. Hinsichtlich seiner Breitenwirkung geht dies mit einer deutlichen Aufwertung des Jury-Urteils einher, denn eben dieses wird von nun an von den Moderatoren der einzelnen Länder (in Deutschland wie schon im Vorjahr Barbara Schöneberger) vorgetragen, während man sich die Ergebnisse des Televotings für das Ende der Show aufhebt. Viel vorzutragen haben Babsi und Co. allerdings nicht mehr, einzig die Verkündung der zwölf Punkte liegt in ihrer Verantwortung. In den vergangenen Jahren wurden noch die Punkte acht, zehn und zwölf direkt vorgetragen, einige Reformbewegungen früher sogar noch sämtliche Punkte.
Die Ehre - oder angesichts des Ärgers, den sich der eine oder andere Juror in den vergangenen Jahren schon eingehandelt hatte vielleicht auch Bürde -, in der deutschen Expertengruppe zu sitzen, haben in diesem Jahr Sarah Connor, Silly-Frontfrau und Schauspielerin Anna Loos, Newcomerin Namika sowie die televisionär zuletzt omnipräsenten The-BossHoss-Mitglieder Alec Völkel und Sascha Vollmer. Mit dieser Zusammenstellung setzt der NDR voll und ganz auf die Expertise von musikalischen "Praktikern" und berücksichtigt keinerlei Journalisten, Manager oder Produzenten, die eventuell noch einmal für eine etwas andere Herangehensweise an die Songs gesorgt hätten als die Musikstars. Sollte der eine oder andere Künstler am Samstag dem Lampenfieber zum Opfer fallen oder in Anbetracht des jubelnden Publikums zu ungeahnten Höchstleistungen emporschwingen, ginge dies allerdings nicht mehr in die Jury-Wertung ein - die wird nämlich wie schon in den Vorjahren in einem separaten "Jury-Finale" festgelegt, das am Freitagabend ohne große öffentliche Vorführungen über die Bühne ging.
Übrigens: Ann Sophie hätte nicht ganz so desolat abgeschnitten, wenn das neue Voting-Prinzip bereits im Vorjahr angewandt worden wäre: Statt einer völligen Nullnummer hätten sich immerhin 29 Zähler für ihr "Black Smoke" gefunden, was einen drittletzten Platz vor Frankreich und Großbritannien mit sich gebracht hätte.
Die Favoriten: Eiskaltes Kalkül, große Botschaften - und netter Sommersound
Der «ESC» bei YouTube
Sämtliche Songs aus diesem und aus den vergangenen Jahren stehen bei YouTube auf einem gut sortierten offiziellen «Eurovision Song Contest»-Kanal bereit. Neben den Auftritten der Semifinals und (sofern vorhanden) Musikvideos der Titel kann man sich unter anderem auch Impressionen von den Proben oder einige "Behind the Scenes" anschauen.Zu einer zunehmenden Gefahr für die russischen Erfolgskalkulationen hat sich in den vergangenen Tagen und Wochen ausgerechnet die ukrainische Sängerin Jamala entwickelt, die mit ihrem Song "1944" abermals die Frage aufwirft, wie politisch der Wettbewerb an sich und die Beiträge der verschiedenen Länder im Speziellen sein dürfen und sollen. Inhaltlich mit der (indirekten) Aufarbeitung der Deportation der Krimtataren unter der Stalin-Diktatur bereits nicht unproblematisch für die russische Volksseele, ist die Thematik nach der Annexion der Krim brandaktuell - zumal die Künstlerin in Interviews explizit davon spricht, dass "die Krimtataren heute wieder in einem besetzten Gebiet" lebten und dies "nicht leicht für sie" sei. Musikalisch eckt der ukrainische Titel mit seinem düsteren Grundton weitaus mehr an als der russische Mitbewerber, besitzt aber auch eine ungleich höhere Originalität und Emotionalität. Für die breite Masse könnte "1944" letztlich eine Nuance zu sperrig geraten sein.
Wer sich aus diesem russisch-ukrainischen Musikkonflikt heraushalten und dennoch die Aussicht auf einen Erfolg seines Lieblings haben möchte, sollte seine Lauschlappen beim Auftritt von Frankreichs Amir besonders weit öffnen, denn dessen "J'ai cherche" werden reelle Chancen eingeräumt, nach fast 40 Jahren erstmals wieder einen Sieg in die Grande Nation mitzubringen. Für ein mutigeres Pop-Business mit weniger Standardrezepturen entscheidet man sich hiermit zwar nicht, aber für einen netten Gute-Laune-Popsong mit Radio-Dudelairplay-Charakter. Australien schickt wie im Vorjahr seine erste musikalische Garde, in Schweden hat man offensichtlich besonders großen Gefallen an Matt Simons Hit "Catch & Release" gefunden und lehnt sich überdeutlich daran an. Beiden Staaten wird ebenfalls eine große Chance auf den Sieg eingeräumt.
Eher Außenseiterchancen hat der Lette Justs Sirmais, dessen "Heartbeat" von der Vorjahres-Sechsten Aminata Savadogo stammt. Musikalisch voll und ganz auf der Höhe der Zeit, wirkt der Sänger auf der Bühne leider eher wie ein biederer Schwiegermutter-Liebling, als dass er den für «ESC»-Verhältnisse sehr gut produzierten Track authentisch tragen könnte. Vielleicht wäre das Land besser bedient gewesen, hätte es sich abermals Aminata selbst vertreten lassen. Zumindest die nationalen Jurys könnten jedoch für die kompositorische Klasse des Liedes einige Punkte übrig haben - wie schon im letzten Jahr, als die deutschen Experten von der mystischen Aura Aminatas so umgarnt waren, dass sie volle zwölf Zähler vergaben.
Rückkehrer und Rückzieher: Wer ist wieder dabei, wer raus?
Unter den 42 Teilnehmerländern, die sich in diesem Jahr dem Wettbewerb stellen, finden sich immerhin vier Rückkehrer, allesamt aus Osteuropa. Mit der Ukraine, die im Vorjahr aus finanziellen wie angesichts der Krise im Osten des Landes natürlich auch aus politischen Gründen ausgesetzt hatte, ist darunter immerhin ein Mitfavorit auf den Sieg. Kroatien und Bulgarien sind nach zwei Jahren Auszeit wieder dabei, Bosnien-Herzegowina versuchte sich (erfolglos) nach drei Jahren mal wieder. Eine Auszeit nimmt sich dagegen Portugal, die schon vor drei Jahren eine «ESC»-Pause eingelegt hatten, während Rumänien wenig ruhmreich für alle Beteiligten erst vor einigen Wochen wegen zu hoher Schulden aus dem Wettbewerb gekickt wurde - obwohl man schon längst einen Teilnehmer ausgewählt hatte und der rumänische Song sogar auf der offiziellen Compilation zu finden ist. Abermals verzichten muss man überdies auf die Teilnahme der Türkei, was vor allem im Hinblick auf die musikalische Vielfalt zu bedauern ist, hatte sich das Land doch immer wieder auch an ungewöhnlichen Klängen versucht.
Und sonst so?
Entgegen der ursprünglichen Pläne des schwedischen Senders SVT, der ihn um eine Stunde vorverlegen wollte, beginnt der Contest auch in diesem Jahr wieder zur gewohnten Zeit um 21 Uhr. Zuvor zeigt Das Erste wieder einen musikalischen Countdown mit Barbara Schöneberger - und natürlich das «Wort zum Sonntag», um diesen Running Gag auch zu bedienen. Für die Moderation der Show hat man sich erfahrenes Personal geangelt: Petra Mede präsentierte die Show bereits vor drei Jahren in Malmö, mit Mans Zelmerlöw steht an ihrer Seite der Gewinner des vergangenen Jahres. Für die Pausenshow zwischen den teilnehmenden Titeln und der reformierten Punktevergabe hat man sich zudem einen echten Superstar geangelt: Justin Timberlake bekommt die Möglichkeit, seine neue Single "Can't Stop the Feeling" zu promoten - den Bezug zu Schweden sehen die Organisatoren darin, dass die schwedischen Komponisten Max Martin und Shellback gemeinsam mit Timberlake einige Songs aufgenommen haben. Ja. Gerüchteweise sollen als ähnlich schlagkräftige Alternativargumente noch zur Auswahl gestanden haben, dass Timberlake schon einmal ein IKEA-Regal erfolgreich aufgebaut hat und in einem seiner Songs schon einmal die Buchstabenkombination "a-b-b-a" vorgefunden worden sein soll. Im Prinzip also ein echter Schwede, der Justin.
Immerhin können sich somit die Fans auf mindestens einen echten Weltstars zwischen all jenen Künstlern und "Künstlern" freuen, was der Show sicherlich nicht schlecht zu Gesicht stehen dürfte. Und den deutschen Zuschauern bleibt ja immerhin noch die Aussicht darauf, in der «ESC»-Nachlese wahlweise die Sinnhaftigkeit des Wettbewerbs in Frage zu stellen, Häme über die Inkompetenz des NDRs zu verbreiten oder das ritualisierte "und für sowas wird meine Zwangsabgabe verschwendet, Skandal!"-Genörgel zu reproduzieren. Natürlich erst, nachdem man sich das Spektakel ein weiteres Jahr angesehen hat - mit empörtem Kopfschütteln und aus rein dokumentarischen Gründen.
In diesem Sinne: Viel Spaß beim 61. «Eurovision Song Contest»!
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14.05.2016 17:34 Uhr 1