Die Kino-Kritiker

«American Honey»

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Er war der ganz große Hit in Cannes, nun ist der neue Film von «Fish Tank»-Regisseurin Andrea Arnold auch in den deutschen Kinos zu sehen. Ihr USA-Trip «American Honey» ist ein Antimärchen über den amerikanischen Traum, denn die Autorenfilmerin lässt ihre hoffnungsvollen Figuren partout nicht zu Ruhm und Ehre finden, dafür aber zu sich selbst.

Filmfacts: «American Honey»

  • Kinostart: 13. Oktober 2016
  • Genre: Drama
  • FSK: 12
  • Laufzeit: 163 Min.
  • Kamera: Robbie Ryan
  • Buch und Regie: Andrea Arnold
  • Darsteller: Sasha Lane, Shia LaBeouf, Riley Keough, McCaul Lombardi, Arielle Holmes, Crystal Ice, Veronica Ezell, Chad Cox
  • OT: American Honey (UK/USA 2016)
Es ist typisches Award-Material, das «Fish Tank»-Regisseurin und Schauspielerin Andrea Arnold mit ihrer vierten Langfilmarbeit «American Honey» auffährt. Und die Jury des Filmfestivals von Cannes sollte ihr vor einigen Monaten Recht geben: Die Geschichte um eine halblegale Drückerkolonne, die sinnbildlich für eine ganze verlorene Generation stehend durch das US-amerikanische Hinterland fährt, gewann an der Côte d’Azur den Preis der Jury im Wettbewerb um den Besten Spielfilm, erhielt eine lobende Erwähnung der Ökonomischen Jury und wurde für die Goldene Palme nominiert. Doch auch wenn der Gedanke nahe liegt, «American Honey» würde die Filmwelt mit seinem 4:3-Look und der ausladenden Lauflänge von fast drei Stunden blenden wollen, belehrt uns die Autorenfilmerin eines Besseren. Das faszinierende Roadmovie ist nicht lang um der Länge willen und nicht (fast-)quadratisch, weil man damit einfach auffällt. Wie alles in diesem bisweilen fast ziellos wirkenden Film haben auch diese beiden technischen Komponenten ihren Sinn. Jede einzelne Minute von „American Honey“ ist vollgepackt mit exzessiven Gefühlsregungen, während die scheinbar eingeschränkte Optik den Zuschauer noch näher an die Figuren heranführt (perfektioniert hatte das im vergangenen Jahr Xavier Dolans «Mommy», der sich mit Ausnahme einer Einzelszene direkt ganz auf eine quadratische Form verließ). Damit wird «American Honey» zu einem ebenso rauschhaften wie gefühlvollen Trip, der keine Sekunde zu lang geraten ist.

We Found Love in a Hopeless Place


Star (Sasha Lane) ist gefangen in einem Leben, dass sie sich so nicht erträumt hat. Als sie eines Tages Jake (Shia LaBeouf) sieht, ist sie fasziniert. Er ist der vermeintliche Kopf einer Gruppe unbeschwerter Jugendlicher, denen sie in einem Supermarkt begegnet. Unvermittelt lädt er sie ein, sich ihnen anzuschließen. In Star keimt der Gedanke, alles hinter sich zu lassen. Jake hat ihr den Kopf verdreht und so stürzt sie sich ins Abenteuer, in die Freiheit und das Gefüge einer Gruppe mit ganz eigenen Regeln – tagsüber ziehen sie von Haustür zu Haustür, um halb-legal Magazine zu verkaufen, und nachts feiern sie wild und zügellos. Ein Roadtrip in das Herz Amerikas und der Beginn einer rohen jungen Liebe, die ihre Grenzen sucht…

Während Andrea Arnold den Startpunkt ihrer dreistündigen Odyssee genau festlegt, ist sie am Abhaken typischer Roadmovie-Stationen nicht interessiert. Zum Fokus auserkoren wird die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch ohne jedwede Schauspielerfahrung ausgestattete Newcomerin Sasha Lane, die als typisches White-Trash-Girl mehr schlecht als recht über die Runden kommt. Gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern wühlt sie im Müll, bettelt sich ein kleines Taschengeld zusammen und versucht selbst in Momenten größter Herabwürdigung (Stichwort: Stiefvater), aufopferungsvoll für die beiden Kleinen da zu sein. Allen – auch dem Publikum – ist schnell klar: Das Mädel, das sein Herz in dieser Hoffnungslosigkeit noch nicht ganz verloren hat (Rihannas drönender Disco-Evergreen „We Found Love in a Hopeless Place“ könnte es nicht besser zusammenfassen!), muss hier irgendwie raus. Ein Glück, dass sie in einem Supermarkt den in seiner Unabhängigkeit so attraktiven Jake kennenlernt, der sie einlädt, mit ihm und einer Gruppe von jungen Erwachsenen mitzureisen, um in Reichenvierteln Magazine an Mann und Frau zu bringen. Das Kennenlernen zwischen Star und Jake inszeniert Andrea Arnold so subtil aussagekräftig wie jedes größere Ereignis in ihrem «American Honey»; die halbdokumentarische Bildsprache (Robbi Ryan, «Slow West»), die von den Schauspielern am Brodeln gehaltene Spannung zwischen den Figuren sowie eine stete Fokussierung des Wichtigen, die die Wertigkeit des 4:3-Bildausschnitts erkennen lässt, sorgen dafür, dass schon kleine Gesten und Blicke genügen, um die emotionale Verfassung der Protagonisten greifbar zu machen.

Ein Antimärchen über den American Dream


Jene Protagonisten selbst sind es allerdings ganz und gar nicht. Andrea Arnold ist sichtlich daran gelegen, ihre Figuren stets mit einer Aura des Mysteriösen zu umgeben. Der von «Transformers»-Star Shia LaBeouf verkörperte Jake bleibt aufgrund seiner emotionalen Sprunghaftigkeit vollständig unnahbar, wenngleich man ihm jede Gefühlsregung abnimmt, die er in den drei Stunden von «American Honey» durchläuft. Die schmachtenden Liebesbekundungen gegenüber Star sind im Moment ihres Aufkommens ebenso glaubhaft, wie die Gleichgültigkeit, die er ihr gegenüber an den Tag legt, wenn er von seiner Vorgesetzten Krystal (Riley Keough) zum regelmäßigen Beischlaf verführt wird. Wenn er im nächsten Moment an die Decke geht, weil Star sich für ein wenig Kleingeld prostituiert zu haben scheint, bestätigt LaBeoufs Jake sein Dasein als unkontrollierbarer Zeitgenosse, der es dem Zuschauer schwer macht, Sympathien oder Antipathien für ihn zu entwickeln. Gleichsam kann man sich seines Charmes nicht entziehen, sodass es für jeden nachvollziehbar ist, weshalb Star sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Auch sie zu charakterisieren, fällt schwer. Sasha Lane zeichnet ihre Figur als durch und durch mutige, junge Frau, die nach ihrer schweren Vergangenheit im verwahrlosten Elternhaus nichts mehr zu verlieren hat. Star jagt mit einer kindlichen Naivität dem Traum vom American Way of Life hinterher, lässt sich auch von Rückschlägen nicht abschütteln, während es die präzise Arbeit von Sasha Lane besonders in den ruhigen Momenten schafft, die Tragik des Charakters so einzufangen, dass die schwierigen Umstände kein Opfer aus ihrer Figur machen. Auch Riley Keough («Mad Max: Fury Road»), die als eine der wenigen Darsteller in «American Honey» bereits als Schauspielerin gearbeitet hat, besticht in ihrer ambivalenten Antagonisten-Rolle als auf der einen Seite besorgte, auf der anderen Seite aber knallharte Geschäftsfrau, die sich wie das weibliche Pendant eines klassischen Pimps anfühlt.

Das Bild des knapp 170-minütigen Roadtrips wird dominiert vom intuitiven Zusammenspiel dieses formidabel zusammengestellten Casts, der sich seine mangelnde Leinwanderfahrung hervorragend zunutze macht, indem die Interaktion desselben bisweilen so wirkt, als beobachte Andrea Arnold tatsächlich das Zusammenleben dieser ethnisch vielfältigen Truppe. Nicht nur der dominante Soundtrack aus diversen Rap-, RnB- und Elektrosounds, der von der Crew eins ums andere Mal lautstark mitgesungen wird, kehrt immer wieder das Zusammengehörigkeitsgefühl hervor. Auch die Vielfalt angesprochener Themen macht aus den Figuren in «American Honey» solche, für die man sich als Zuschauer einfach interessieren muss. Liebeskapriolen, schwierige Kindheiten, der Traum vom sorglosen Leben oder Ärger mit dem Gesetz: Andrea Arnold zeichnet das Bild einer Generation junger US-Amerikaner, die im Schatten derer lebt, die Glück haben. Obwohl die Machenschaften der Drückerkolonne alles andere als legal sind (im letzten Drittel des Films macht Jake auch vor dem Gebrauch von Schusswaffen nicht Halt), verzichtet die Regisseurin auf einen anklagenden Zeigefinger, und lässt ihre Figuren dorthin treiben, wohin es sie bei ihrer Tätigkeit zwangsläufig verschlagen muss. Andrea Arnold zeichnet ein neues, ein vielfältigeres Bild vom American Dream, setzt andere Schwerpunkte als die Reichen und Schönen und inszeniert mit «American Honey» gleichsam ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit. Dass sich das alles gerade im Anbetracht der drei Stunden immer noch so leicht und unbeschwert anfühlt, liegt daran, dass all die Charaktere im Film ihr Schicksal einfach als das solche annehmen. Wer braucht schon die Ideale einer Gesellschaft, wenn man seine eigenen hat?

Fazit


Die Konfrontation mit den Reichen und Schönen, die Folgen von Drogenmissbrauch aber auch leidenschaftlicher Sex unter dem Sternenhimmel: Andrea Arnolds Roadmovie «American Honey» ist eine thematisch vielfältige, inszenatorisch starke und vor Enthusiasmus übersprudelnde Wundertüte über die Faszination der gesellschaftlichen Unabhängigkeit, die sich von der ersten Sekunde an auf den Zuschauer überträgt.

«American Honey» ist ab dem 13. Oktober in den deutschen Kinos zu sehen.

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