Der Inhalt
Filmfacts: «Stories We Tell»
- Regie und Drehbuch: Sarah Polley
- Produktion: Anita Lee, Silva Basmajian
- Musik: Jonathan Goldsmith
- Kamera: Iris Ng
- Schnitt: Mike Munn
- Veröffentlichungsjahr: 2012
- Laufzeit: 113 Minuten
- FSK: ohne Altersbeschränkung
Zudem kam es in Polleys Kindheit zu rätselhaften Situationen, deren Seltsamkeitsgehalt der «Take This Waltz»-Regisseurin erst nun, im Erwachsenenalter, wirklich bewusst wird. Also soll Polleys Familie ihr nun erzählen, wie die Frau Mama denn wirklich war. Doch was eingangs wie eine lockere Familienfragestunde beginnt, wird für Polley zur aufwändigen Spurensuche, die unerwartete Wahrheiten aufdeckt und neue Rätsel aufwirft. Und selbst damit sind wir noch nicht zum Kern der Dokumentation vorgedrungen …
Die Regisseurin
Die Kanadierin Sarah Polley begann ihre Karriere im Showgeschäft als Jungdarstellerin im melancholischen Disney-Weihnachtsfilm «Wenn Träume wahr wären». Ihren Durchbruch hatte sie in der Fernsehserie «Das Mädchen aus der Stadt», bevor sie in so unterschiedlichen Filmen wie «Exotica», «Das süße Jenseits» und «Das Mädchen und der Fotograf» oder «eXistenZ» zu sehen war.
Im Alter von 20 Jahren inszenierte sie ihren ersten Kurzfilm – «The Best Day of My Life». Zwei Jahre später nahm sie am Regieprogramm des Canadian Film Centres teil. Ihr Langfilmdebüt feierte sie sieben Jahre nach ihrem ersten Kurzfilm: Im Jahr 2006 mit «An ihrer Seite», einem Alzheimer-Romantikdrama, zu dem sie auch auf Basis einer Alice-Munro-Kurzgeschichte das Drehbuch verfasste. Es folgten die bittersüße Liebesgeschichte «Take This Waltz» mit Michelle Williams und Seth Rogen, die über das Prickeln des Fremdflirtens und die anschließende, ernüchternde Einkehr des Alltags referiert, und dann die sehr persönliche und clevere Dokumentation «Stories We Tell» – leider ihre bislang letzte Regiearbeit.
Die 6 glorreichen Aspekte von «Stories We Tell»
«Stories We Tell» ist, in allererster Linie, eine dieser raren, wundervollen Dokumentationen, die ihr Publikum nicht nur informieren oder belehren, sondern auch auf eine ebenso emotionale wie spannende Erkundungsreise mitnehmen: Für uninformierte Zusehende ist Sarah Polleys Detektivleistung in ihrer eigenen Familiengeschichte eine mit Überraschungen gespickte Story, die aufgrund der nahbar inszenierten Menschen, die davon betroffen sind, zum Mitfühlen einlädt und gegebenenfalls auch dazu, über eigene Familiengeheimnisse nachzudenken.
Doch ähnlich, wie sich bei einer Zwiebel immer neue Schichten enthüllen, ist «Stories We Tell» eine ungewöhnlich komplexe, trotzdem aufgrund der kurzweilig-liebenswerten Präsentation zugängliche, Dokumentation, bei der sich immer neue Ebenen offenbaren. Polley nutzt ihre Mission, rätselhafte Gegebenheiten aus ihrer eigenen Familiengeschichte zu lüften, als Sprungbrett für eine zweite Mission – sie lüftet den Schleier des Unausgesprochenen, wie Dokumentationen entstehen. Statt klassisch ein Interview-Set-up mit Verwandten und Anvertrauten an das nächste zu reihen und zwischendurch zwecks visueller Abwechslung ein bisschen Heimvideo-Material zu zeigen, baut Polley systematisch immer wieder Material ein, das bei ähnlichen, doch konventionelleren Dokumentationen auf dem sprichwörtlichen Boden des Schneideraums landen würde:
Sie zeigt die Absprachen zwischen ihr in ihrer Funktion als Regisseurin und ihren als Zeitzeugen dienenden Verwandten. Ihre Regieanweisungen an ihren als Erzähler dienenden Vater bilden fast schon den roten Faden von «Stories We Tell». Und während viele Dokumentationen höchstens ein, zwei Mal widersprüchliche Aussagen von Befragten gegenüberstellen, sind sie hier ein Running Gag – zumindest, bis sie zu wesentlich mehr werden .
Denn auch die offenherzige Einstellung Polleys, dem Publikum gar nicht erst vorzugaukeln, dass Dokumentationen ganz objektiv Fakten aneinanderreihen, sondern sehr wohl von einer Autor(innen)hand gesteuert werden, dient bloß als Sprungbrett: Mit weiterem Verlauf von «Stories We Tell» wird aus dem gleichermaßen genredekonstruktiven wie amüsanten Meta-Entzauberungsprozess dieser Dokumentation ein größeres Thema. Polley stellt mit süffisantem Grinsen, aber ebenso sehr mit rührender Ehrlichkeit und nüchterner Einsicht das Erinnerungsvermögen von uns allen in Frage. Allgemeingültige, nicht anzuzweifelnde Fakten sind laut «Stories We Tell» eher die Ausnahme – sprechen wir von zurückliegenden Ereignissen oder der Einschätzung fremder Personen, so spielen nostalgische Verklärung, versteckter Gram, ein lückenhaftes Gedächtnis, Fehlinformation oder schlicht und ergreifend das persönlich eingefärbte Wunschdenken uns allen einen Streich.
Das dürfte nicht zwingend für alle, die sich «Stories We Tell» anschauen, eine neue Erkenntnis sein. Aber Polley vermag es, diesen so simplen, aber einschneidenden und dennoch gern ignorierten Umstand durch ihre ganz persönliche Geschichte und ihre ausgefuchste Art, diese in filmischer Form auszubreiten, meisterlich zu unterstreichen und spürbar zu machen. «Stories We Tell» ist daher so viel mehr als nur eine berührende Familiendokumentation. Es ist eine pfiffige Dokumentation über die Herstellung von Dokumentationen sowie ein atemberaubendes Essay über das Geschichtenerzählen und darüber, dass das Erinnern letztlich bloß genau das ist: Das Erzählen einer Geschichte.
«Stories We Tell» ist auf DVD und Blu-ray erhältlich sowie via Amazon, maxdome, iTunes, Rakuten TV, Videoload, videociety und Chili abrufbar.
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